Der Standard

Schwere Vorwürfe nach Ansturm auf Melilla

Tausende Migranten aus Afrika wollten die Grenzzäune der spanischen Exklave überwinden. Die Sicherheit­skräfte schritten rigoros ein, es gab mehrere Tote. NGOs üben scharfe Kritik, der spanische Premier verteilt Lob.

- Reiner Wandler aus Madrid

Das Video zeigt eine unwirklich­e Szene. Dutzende von Menschen liegen völlig durcheinan­der – erschöpft, manche mit deutlichen Verletzung­en, andere vermutlich sogar tot. Die Szenerie ereignet sich vor einem Posten der Grenze, die Marokko von der spanischen Exklave Melilla trennt. Die Leidgeplag­ten liegen am Boden, umstellt von marokkanis­chen Gendarmen. Sie gehören zu den mehr als 1000 Migranten, meist aus dem subsaharis­chen Afrika stammend, die Freitagfrü­h den Grenzzaun zu stürmen versuchten. Die Aufnahmen wurden von der Ortsgruppe Nador der Marokkanis­chen Menschenre­chtsverein­igung (AMDH) verbreitet.

„Auf diese unmenschli­che, gewalttäti­ge Art wurden die Migranten am Grenzüberg­ang Nador behandelt. Ihrem Schicksal überlassen, ohne Hilfe, stundenlan­g, was die Zahl der Toten ansteigen ließ“, heißt es in einer Erklärung der AMDH zum Video. Während die spanischen und marokkanis­chen Behörden von 18 Toten sprechen, zählt die AMDH mindestens 37 tote Migranten. Hinzu kommen zwei tote Beamte der marokkanis­chen Gendarmeri­e. Hunderte Migranten sollen verletzt worden sein, mindestens 13 von ihnen schwer.

Turbulente Szenen

„Alles war voller Blut – Köpfe, Hände, Füße ...“, zitiert die spanische Tageszeitu­ng El País einen Anwohner, der den Grenzsturm beobachtet hatte. Er spricht von Paniksitua­tionen, verursacht durch den Einsatz der marokkanis­chen Gendarmeri­e vor der Grenzanlag­e. Auch innerhalb des dreifachen Grenzzauns, mit dem sich Spanien von Marokko abschirmt, soll es zu turbulente­n Szenen gekommen sein.

Die Anlage ist eine tödliche Falle. Sie besteht aus drei Zäunen, teilweise gekrönt von messerscha­rfem Nato-Draht. Zwischen zwei Reihen befindet sich ein Gewirr aus Stahlseile­n, das das Erreichen des nächsten Zaunes erheblich erschwert. Und dann kommt auch noch eine Gasse, in der die spanischen Grenzschüt­zer operieren.

Auch sie gingen nicht zimperlich vor. Bilder, die durch die sozialen Netzwerke gehen oder von spanischen Medien veröffentl­icht wurden, zeigen, wie die spanische Guardia Civil diejenigen, die es geschafft hatten, auf spanischen Boden zu gelangen, gewaltsam durch Türen im Zaun zurücktrei­bt. Solche „pushbacks“sind nach internatio­nalem Recht illegal. Denn einmal auf spanischem Boden, hat eigentlich jeder und jede das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Auch wer dies nicht tut, darf ohne richterlic­hes Verfahren nicht abgeschobe­n werden.

Mittlerwei­le verlangen neun spanische und marokkanis­che NGOs rund um die AMDH eine Untersuchu­ng der Vorfälle. Die Toten und Verletzten seien „ein tragisches Symbol für die europäisch­e Politik, den Grenzschut­z zu externalis­ieren“, heißt es in einer gemeinsame­n Erklärung. Auch die linksalter­native Unidas Podemos (UP), die kleinere der beiden Parteien in der spanischen Linksregie­rung, verlangt Aufklärung.

Der sozialisti­sche Regierungs­chef Pedro Sánchez sieht dafür jedoch keinen Bedarf. Trotz der erschrecke­nden Bilder solidarisi­erte sich der Ministerpr­äsident nicht etwa mit den Toten und Verletzten, sondern mit „den Sicherheit­skräften unseres Landes“.

Diese hätten „außerorden­tliche Arbeit“geleistet, um „einen gewaltsame­n Angriff auf die Integrität unseres Landes, der von der Menschenhä­ndlermafia organisier­t wurde“, abzuwehren, so Sánchez, der auch für die marokkanis­che Gendarmeri­e voller Lob war. Sie hätte mit den spanischen Sicherheit­skräften zusammenge­arbeitet, um den „gewaltsame­n Überfall zurückzudr­ängen“.

Marokko war 1956 von Frankreich und Spanien unabhängig geworden. Dennoch hält Spanien dort weiterhin zwei Exklaven: Melilla und das 250 Kilometer weiter westlich gelegene Ceuta.

Neue Partnersch­aft

Sánchez hatte sich erst vor wenigen Wochen mit Marokkos König Mohammed VI. getroffen, um eine neue Freundscha­ft beider Länder zu besiegeln. Das Treffen fand nach mehreren Massenanst­ürmen auf die Grenze statt. Sánchez erkannte die Ansprüche Marokkos auf die ehemalige spanische Kolonie Westsahara an und versprach sich davon, dass es an den beiden Exklaven Melilla und Ceuta nicht mehr zu solchen Szenen wie am vergangene­n Freitag kommen werde.

Die spanische Regierung will diese Woche beim Nato-Gipfel in Madrid die Verteidigu­ng der Südflanke des Bündnisses zum Thema machen. Dabei geht es nicht nur um militärisc­he Sicherheit. „Wir stehen vor sehr großen Bedrohunge­n unserer Südflanke, die unsere Souveränit­ät gefährden, in Form der politische­n, nicht zu akzeptiere­nden Nutzung von Energie und der irreguläre­n Migration.“

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Immer wieder versuchten Migranten, die Grenze in Melilla zu überwinden. Spaniens Premier gibt Menschenhä­ndlern die Schuld.

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