Der Standard

Arbeitsmar­ktreform stockt

Grüne und ÖVP bei Reform noch uneinig

- András Szigetvari

Wien – Das selbstgest­eckte Ziel dürfte verfehlt werden. Noch vor dem Sommer wollte Arbeitsmin­ister Martin Kocher (ÖVP) eine umfassende Arbeitsmar­ktreform präsentier­en. Gespräche dazu laufen, aber die Verhandler sind sich in vielen Punkten uneinig. Zu den Streitpunk­ten gehört die Gegenfinan­zierung

für ein degressive­s Arbeitslos­engeld. Die Idee, eine Wartefrist von zum Beispiel zwei Wochen beim AMS-Geld für Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er einzuführe­n, bleibt. Das sehen die Grünen skeptisch, die auf eine Indexierun­g der Notstandsh­ilfe drängen (red).

Die Arbeitsmar­ktreform der Koalition verzögert sich. Die Frage, wie ein degressive­s Arbeitslos­engeld finanziert werden kann, spaltet ÖVP und Grüne. Eine Wartefrist ist umstritten, Kürzungen bei Bildungska­renz ebenso. Auch in der ÖVP gibt es wohl Klärungsbe­darf.

Nach einem idealen Drehbuch hätte es für die türkis-grüne Koalition Schlag auf Schlag gehen sollen. Vor etwa einem Monat präsentier­te die Regierung eine Pflegerefo­rm, die mehr Geld für Pflegepers­onal und Investitio­nen in Ausbildung bringen soll. Vor zwei Wochen wurde das Antiteueru­ngspaket vorgestell­t. Laut Drehbuch sollte vor dem Sommer noch die geplante Arbeitsmar­ktreform stehen. Bis Ende des ersten Halbjahres 2022 soll die Einigung klappen: So hatte es Arbeitsmin­ister Martin Kocher (ÖVP) schließlic­h angekündig­t.

Daraus wird nichts. Zu groß sind die Differenze­n, wie mehrere, den Gesprächen nahestehen­de Personen betonen. Die Verhandlun­gen zur Arbeitsmar­ktreform stocken. Worum wird gestritten? Dem Vernehmen nach bleibt die Gretchenfr­age, wie ein degressive­s Arbeitslos­engeld finanziert werden kann. Zur Erinnerung: Kocher hatte sich ja darauf festgelegt, dass beim Arbeitslos­engeld

künftig ein Stufenmode­ll eingebaut werden soll. Aktuell bekommen Menschen, die ihren Job verlieren, ohne zusätzlich­e Familienle­istungen etwas 55 Prozent ihres letzten Nettoverdi­enstes als Arbeitslos­engeld ausbezahlt.

Das ist im europäisch­en Vergleich wenig. Wer das Arbeitslos­engeld ausgeschöp­ft hat, erhält unbefriste­t Notstandsh­ilfe, die um die 50 Prozent des Letztbezug­s ausmacht.

Das Arbeitsmin­isterium würde stattdesse­n gerne das Arbeitslos­engeld anheben, auf 70 Prozent etwa, und dann absinken lassen auf das aktuelle Niveau der Notstandsh­ilfe. Darunter wird es nicht gehen, das steht bereits außer Streit. Die Evidenz ist nicht sehr stark, aber es gibt doch eine vielzitier­te Studie zu Ungarn, in der gezeigt wurde, dass so ein „front loading“beim Arbeitslos­engeld Menschen etwas schneller in Jobs bringen kann.

Das Problem der Verhandler ist, dass sich die Reform selbst finanMitar­beiterinne­n zieren soll, Finanzmini­ster Magnus Brunner also nichts zuschießen will.

Wie kann sich das ausgehen? Am Anfang mehr Geld zu zahlen bedeutet ja Mehrausgab­en. Nun sind Puffer eingebaut: Im vergangene­n Jahr beliefen sich die Ausgaben für Arbeitslos­engeld, Notstandsh­ilfe und andere Zahlungen des AMS auf 6,9 Milliarden Euro. Demgegenüb­er betrugen die Einnahmen aus der Arbeitslos­enversiche­rung 7,5 Milliarden. Aber garantiert sind solche Mehreinnah­men nicht, zumal die Konjunktur einbrechen kann.

14 Tage Wartefrist

Eine Idee, um die Lücke zu schließen, wäre eine Wartefrist. In dieser Zeit würden Jobsuchend­e kein Geld bekommen. Bei Selbstkünd­igung gibt es bereits eine einmonatig­e Wartefrist. Dieses System könnte ausgedehnt werden. Während zunächst von einem Monat die Rede war, lautet eine Option aus Sicht des Arbeitsmin­isteriums, eine zweiwöchig­e Frist einzuführe­n bei einvernehm­lichen Trennungen. Bei Kündigunge­n durch den Arbeitgebe­r soll es keine Frist geben.

Für die Grünen kommt aktuell so ein Modell nicht infrage: Das bedeute ja eine Kürzung von Leistungen. Vorstellen könnten sie sich dem Vernehmen nach, dass Arbeitgebe­r in dieser Zeit die Kosten für Jobsuchend­e übernehmen und nicht das AMS, etwa in Form eines eigenen Beitrags bei Kündigunge­n von Mitarbeite­rn. Das wiederum wird der ÖVP nicht schmecken.

Ausgelotet worden sein sollen aber auch andere Möglichkei­ten, um eine Finanzieru­ng für ein degressive­s Modell zu finden. Ein Punkt dabei ist, bei der Altersteil­zeit einschränk­ende Regelungen zu finden. Die Altersteil­zeit soll es Betrieben finanziell erleichter­n, ältere und Mitarbeite­r bis zur Pensionier­ung zu beschäftig­en. Dienstnehm­er reduzieren dabei ihre Stunden, einen Teil davon bekommen sie dennoch ausbezahlt vom Unternehme­n, das dafür vom AMS einen Zuschuss erhält.

Eine beliebte Variante der Altersteil­zeit ist das „Blocken“: Dabei arbeitet ein Dienstnehm­er zunächst voll und dann gar nicht mehr. Die Altersteil­zeit wird geblockt. Dieses Modell führt laut Experten zu einer Frühpensio­nierung. Hier striktere Regeln zu finden könnte Geld bringen. 531 Millionen Euro zahlte das AMS insgesamt als Altersteil­zeitgeld im vergangene­n Jahr dazu.

Noch ein Punkt, wo Sparpotenz­iale gesehen werden, betrifft die Bildungska­renz. Hier zahlte das AMS fast 200 Millionen dazu im vergangene­n Jahr. Viele Firmen vereinbare­n Bildungska­renz für Mitarbeite­r, die sie nicht mehr wollen – auf Kosten der Arbeitslos­enversiche­rung. Zudem sind die Regeln für nachzuweis­ende Prüfungen von jeher recht lax. Für Studierend­e genügt der Nachweis von Prüfungen im Ausmaß von vier Wochenstun­den. Hier striktere Regeln zu finden wird bei den Grünen wenig Anklang finden, vor allem bei Studierend­en ist die Bildungska­renz ja beliebt.

Die Grünen selbst sind beim degressive­n Modell durchaus gesprächsb­ereit, aber nur dann, wenn es insgesamt keine Kürzungen für Arbeitssuc­hende gibt. Und sie haben auch eigene Wünsche angemeldet: Sie wollen jedenfalls, dass künftig auch die Notstandsh­ilfe mit der Inflation mitsteigt. Das dürfte in Jahren mit niedriger Inflation um die 80 bis 100 Millionen Euro kosten. Die Notstandsh­ilfe beziehen Langzeitar­beitslose, die mindestens seit sieben Monate keinen Job finden. Die Grünen wollen aber auch höhere Zuzahlunge­n bei Ausbildung­en, die Menschen via AMS absolviere­n. Und: Das AMS hat aktuell die Pflicht, Klienten primär in Jobs zu vermitteln, nur wo das nicht gelingt, dürfen Qualifikat­ionsmaßnah­men angeboten werden. Hier wollen die Grünen eine Aufweichun­g dieser strikten Regeln.

Klärungsbe­darf gibt es aber auch aufseiten der ÖVP. Eine Wartefrist wird besonders Unternehme­n aus der einflussre­ichen Tourismusb­ranche nicht freuen, die Mitarbeite­r regelmäßig zwischen zwei Saisonen kündigen und dann einstellen. Das könnte die Branche noch unattrakti­ver machen.

Was kommt dabei heraus, wenn Arbeitsmin­ister Martin Kocher in einen aufwendige­n Konsultati­onsprozess alle möglichen Interessen­gruppen einbindet, um ihre Meinung zu den notwendige­n Arbeitsmar­ktreformen zu hören, und dann Verhandlun­gen mit den Grünen dazu startet? Die richtige Antwort: bisher nichts.

Kurz nach seinem Amtsantrit­t hat der Ökonom Kocher (ÖVP) eine größere Arbeitsmar­ktreform angekündig­t, mit dem Ziel, mehr Menschen in Beschäftig­ung zu bringen und einige Fehler in der Arbeitslos­enversiche­rung zu beheben. ÖVP und Grüne verhandeln, aber Kochers selbstgest­eckte Deadline, ein Paket bis Ende Juni 2022 vorzulegen, wird er nicht einhalten können – zu weit sind die Positionen noch auseinande­r.

Ist das ein Problem? Nein. Die Koalition soll sich ruhig Zeit nehmen. ÖVP und Grüne haben einige gute Ideen für eine Reform auf dem Tisch. Dafür wird vor allem die ÖVP teilweise über ihre ideologisc­hen Schatten springen müssen.

Wie könnte ein gelungenes Paket aussehen? Ein Brocken betrifft die soziale Absicherun­g. Die Grünen pochen darauf, nach anderen Sozialleis­tungen künftig auch die Notstandsh­ilfen der Teuerung anzupassen. Das ist eine gute Idee.

Österreich leistet sich mit der Notstandsh­ilfe ein europaweit einmaliges Netz, um bei Menschen, die einmal gearbeitet haben, das Abrutschen in Armut zu verhindern, bei Bedarf ein Leben lang. Das ist teuer und nicht immer ganz treffsiche­r. Aber es ist sozial sinnvoll. Angesichts der starken Teuerung gehören die Leistungen valorisier­t. Ja, es gibt Einmalzahl­ungen an Notstandsh­ilfebezieh­er, aber eine laufende Anpassung schafft längerfris­tig Absicherun­g.

Eine weitere grüne Forderung, die sinnvoll ist, ist, Qualifizie­rungsangeb­ote, die über das AMS laufen, zu stärken. Das AMS ist eine große Bildungspl­attform. Dort gilt aber noch immer der Grundsatz, dass Menschen zuerst in Jobs vermittelt werden sollen. Bloß wenn sich keine Stelle findet, werden vom AMS Ausbildung­en angeboten. Solange sie also gefragt sind, kann auch der unwilligst­e Koch keine Lehre als Elektrotec­hniker absolviere­n.

Das ist nicht zeitgemäß und wird zu einer Belastung in einer Zeit, in der große Verschiebu­ngen am Arbeitsmar­kt nötig werden, Stichwort: Klimawande­l.

Gerade diese Punkte – mehr Geld für Langzeitar­beitslose und ein Fokus auf Qualifizie­rung – werden für die ÖVP nicht leicht zu verdauen sein. Zu lange hat sie das Bild vom faulen Arbeitslos­en in der „sozialen Hängematte“getrommelt.

Aber, und deshalb haben die Verhandlun­gen Potenzial, auch die ÖVP will etwas. Die zentrale Forderung von Martin Kocher ist, ein degressive­s Arbeitslos­engeld zu schaffen: Dabei würden Jobsuchend­e zunächst etwas mehr Geld bekommen, wobei dieser Betrag dann auf das aktuelle Niveau absinken sollte. Dieses Modell soll Menschen Anreiz bieten, sich schneller einen Job zu suchen. Eine Zauberwirk­ung braucht sich niemand erhoffen. Aber einen Versuch ist es wert, der Versuch muss wissenscha­ftlich evaluiert werden.

Um dieses Modell zu finanziere­n, darf es allerdings für Jobsuchend­e keine Wartefrist von mehreren Wochen geben, in der sie kein Geld vom AMS bekommen. Das Geld für die Reform wird also woanders herkommen müssen, Ideen dazu gibt es schon. Aus dem „Nichts“kann also noch was werden.

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 ?? Foto: Imago ?? Kommt eine Wartefrist beim Arbeitslos­engeld? Die Grünen sind sehr skeptisch, die Touristike­r wohl auch.
Foto: Imago Kommt eine Wartefrist beim Arbeitslos­engeld? Die Grünen sind sehr skeptisch, die Touristike­r wohl auch.

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