Arbeitsmarktreform stockt
Grüne und ÖVP bei Reform noch uneinig
Wien – Das selbstgesteckte Ziel dürfte verfehlt werden. Noch vor dem Sommer wollte Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) eine umfassende Arbeitsmarktreform präsentieren. Gespräche dazu laufen, aber die Verhandler sind sich in vielen Punkten uneinig. Zu den Streitpunkten gehört die Gegenfinanzierung
für ein degressives Arbeitslosengeld. Die Idee, eine Wartefrist von zum Beispiel zwei Wochen beim AMS-Geld für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzuführen, bleibt. Das sehen die Grünen skeptisch, die auf eine Indexierung der Notstandshilfe drängen (red).
Die Arbeitsmarktreform der Koalition verzögert sich. Die Frage, wie ein degressives Arbeitslosengeld finanziert werden kann, spaltet ÖVP und Grüne. Eine Wartefrist ist umstritten, Kürzungen bei Bildungskarenz ebenso. Auch in der ÖVP gibt es wohl Klärungsbedarf.
Nach einem idealen Drehbuch hätte es für die türkis-grüne Koalition Schlag auf Schlag gehen sollen. Vor etwa einem Monat präsentierte die Regierung eine Pflegereform, die mehr Geld für Pflegepersonal und Investitionen in Ausbildung bringen soll. Vor zwei Wochen wurde das Antiteuerungspaket vorgestellt. Laut Drehbuch sollte vor dem Sommer noch die geplante Arbeitsmarktreform stehen. Bis Ende des ersten Halbjahres 2022 soll die Einigung klappen: So hatte es Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) schließlich angekündigt.
Daraus wird nichts. Zu groß sind die Differenzen, wie mehrere, den Gesprächen nahestehende Personen betonen. Die Verhandlungen zur Arbeitsmarktreform stocken. Worum wird gestritten? Dem Vernehmen nach bleibt die Gretchenfrage, wie ein degressives Arbeitslosengeld finanziert werden kann. Zur Erinnerung: Kocher hatte sich ja darauf festgelegt, dass beim Arbeitslosengeld
künftig ein Stufenmodell eingebaut werden soll. Aktuell bekommen Menschen, die ihren Job verlieren, ohne zusätzliche Familienleistungen etwas 55 Prozent ihres letzten Nettoverdienstes als Arbeitslosengeld ausbezahlt.
Das ist im europäischen Vergleich wenig. Wer das Arbeitslosengeld ausgeschöpft hat, erhält unbefristet Notstandshilfe, die um die 50 Prozent des Letztbezugs ausmacht.
Das Arbeitsministerium würde stattdessen gerne das Arbeitslosengeld anheben, auf 70 Prozent etwa, und dann absinken lassen auf das aktuelle Niveau der Notstandshilfe. Darunter wird es nicht gehen, das steht bereits außer Streit. Die Evidenz ist nicht sehr stark, aber es gibt doch eine vielzitierte Studie zu Ungarn, in der gezeigt wurde, dass so ein „front loading“beim Arbeitslosengeld Menschen etwas schneller in Jobs bringen kann.
Das Problem der Verhandler ist, dass sich die Reform selbst finanMitarbeiterinnen zieren soll, Finanzminister Magnus Brunner also nichts zuschießen will.
Wie kann sich das ausgehen? Am Anfang mehr Geld zu zahlen bedeutet ja Mehrausgaben. Nun sind Puffer eingebaut: Im vergangenen Jahr beliefen sich die Ausgaben für Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und andere Zahlungen des AMS auf 6,9 Milliarden Euro. Demgegenüber betrugen die Einnahmen aus der Arbeitslosenversicherung 7,5 Milliarden. Aber garantiert sind solche Mehreinnahmen nicht, zumal die Konjunktur einbrechen kann.
14 Tage Wartefrist
Eine Idee, um die Lücke zu schließen, wäre eine Wartefrist. In dieser Zeit würden Jobsuchende kein Geld bekommen. Bei Selbstkündigung gibt es bereits eine einmonatige Wartefrist. Dieses System könnte ausgedehnt werden. Während zunächst von einem Monat die Rede war, lautet eine Option aus Sicht des Arbeitsministeriums, eine zweiwöchige Frist einzuführen bei einvernehmlichen Trennungen. Bei Kündigungen durch den Arbeitgeber soll es keine Frist geben.
Für die Grünen kommt aktuell so ein Modell nicht infrage: Das bedeute ja eine Kürzung von Leistungen. Vorstellen könnten sie sich dem Vernehmen nach, dass Arbeitgeber in dieser Zeit die Kosten für Jobsuchende übernehmen und nicht das AMS, etwa in Form eines eigenen Beitrags bei Kündigungen von Mitarbeitern. Das wiederum wird der ÖVP nicht schmecken.
Ausgelotet worden sein sollen aber auch andere Möglichkeiten, um eine Finanzierung für ein degressives Modell zu finden. Ein Punkt dabei ist, bei der Altersteilzeit einschränkende Regelungen zu finden. Die Altersteilzeit soll es Betrieben finanziell erleichtern, ältere und Mitarbeiter bis zur Pensionierung zu beschäftigen. Dienstnehmer reduzieren dabei ihre Stunden, einen Teil davon bekommen sie dennoch ausbezahlt vom Unternehmen, das dafür vom AMS einen Zuschuss erhält.
Eine beliebte Variante der Altersteilzeit ist das „Blocken“: Dabei arbeitet ein Dienstnehmer zunächst voll und dann gar nicht mehr. Die Altersteilzeit wird geblockt. Dieses Modell führt laut Experten zu einer Frühpensionierung. Hier striktere Regeln zu finden könnte Geld bringen. 531 Millionen Euro zahlte das AMS insgesamt als Altersteilzeitgeld im vergangenen Jahr dazu.
Noch ein Punkt, wo Sparpotenziale gesehen werden, betrifft die Bildungskarenz. Hier zahlte das AMS fast 200 Millionen dazu im vergangenen Jahr. Viele Firmen vereinbaren Bildungskarenz für Mitarbeiter, die sie nicht mehr wollen – auf Kosten der Arbeitslosenversicherung. Zudem sind die Regeln für nachzuweisende Prüfungen von jeher recht lax. Für Studierende genügt der Nachweis von Prüfungen im Ausmaß von vier Wochenstunden. Hier striktere Regeln zu finden wird bei den Grünen wenig Anklang finden, vor allem bei Studierenden ist die Bildungskarenz ja beliebt.
Die Grünen selbst sind beim degressiven Modell durchaus gesprächsbereit, aber nur dann, wenn es insgesamt keine Kürzungen für Arbeitssuchende gibt. Und sie haben auch eigene Wünsche angemeldet: Sie wollen jedenfalls, dass künftig auch die Notstandshilfe mit der Inflation mitsteigt. Das dürfte in Jahren mit niedriger Inflation um die 80 bis 100 Millionen Euro kosten. Die Notstandshilfe beziehen Langzeitarbeitslose, die mindestens seit sieben Monate keinen Job finden. Die Grünen wollen aber auch höhere Zuzahlungen bei Ausbildungen, die Menschen via AMS absolvieren. Und: Das AMS hat aktuell die Pflicht, Klienten primär in Jobs zu vermitteln, nur wo das nicht gelingt, dürfen Qualifikationsmaßnahmen angeboten werden. Hier wollen die Grünen eine Aufweichung dieser strikten Regeln.
Klärungsbedarf gibt es aber auch aufseiten der ÖVP. Eine Wartefrist wird besonders Unternehmen aus der einflussreichen Tourismusbranche nicht freuen, die Mitarbeiter regelmäßig zwischen zwei Saisonen kündigen und dann einstellen. Das könnte die Branche noch unattraktiver machen.
Was kommt dabei heraus, wenn Arbeitsminister Martin Kocher in einen aufwendigen Konsultationsprozess alle möglichen Interessengruppen einbindet, um ihre Meinung zu den notwendigen Arbeitsmarktreformen zu hören, und dann Verhandlungen mit den Grünen dazu startet? Die richtige Antwort: bisher nichts.
Kurz nach seinem Amtsantritt hat der Ökonom Kocher (ÖVP) eine größere Arbeitsmarktreform angekündigt, mit dem Ziel, mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen und einige Fehler in der Arbeitslosenversicherung zu beheben. ÖVP und Grüne verhandeln, aber Kochers selbstgesteckte Deadline, ein Paket bis Ende Juni 2022 vorzulegen, wird er nicht einhalten können – zu weit sind die Positionen noch auseinander.
Ist das ein Problem? Nein. Die Koalition soll sich ruhig Zeit nehmen. ÖVP und Grüne haben einige gute Ideen für eine Reform auf dem Tisch. Dafür wird vor allem die ÖVP teilweise über ihre ideologischen Schatten springen müssen.
Wie könnte ein gelungenes Paket aussehen? Ein Brocken betrifft die soziale Absicherung. Die Grünen pochen darauf, nach anderen Sozialleistungen künftig auch die Notstandshilfen der Teuerung anzupassen. Das ist eine gute Idee.
Österreich leistet sich mit der Notstandshilfe ein europaweit einmaliges Netz, um bei Menschen, die einmal gearbeitet haben, das Abrutschen in Armut zu verhindern, bei Bedarf ein Leben lang. Das ist teuer und nicht immer ganz treffsicher. Aber es ist sozial sinnvoll. Angesichts der starken Teuerung gehören die Leistungen valorisiert. Ja, es gibt Einmalzahlungen an Notstandshilfebezieher, aber eine laufende Anpassung schafft längerfristig Absicherung.
Eine weitere grüne Forderung, die sinnvoll ist, ist, Qualifizierungsangebote, die über das AMS laufen, zu stärken. Das AMS ist eine große Bildungsplattform. Dort gilt aber noch immer der Grundsatz, dass Menschen zuerst in Jobs vermittelt werden sollen. Bloß wenn sich keine Stelle findet, werden vom AMS Ausbildungen angeboten. Solange sie also gefragt sind, kann auch der unwilligste Koch keine Lehre als Elektrotechniker absolvieren.
Das ist nicht zeitgemäß und wird zu einer Belastung in einer Zeit, in der große Verschiebungen am Arbeitsmarkt nötig werden, Stichwort: Klimawandel.
Gerade diese Punkte – mehr Geld für Langzeitarbeitslose und ein Fokus auf Qualifizierung – werden für die ÖVP nicht leicht zu verdauen sein. Zu lange hat sie das Bild vom faulen Arbeitslosen in der „sozialen Hängematte“getrommelt.
Aber, und deshalb haben die Verhandlungen Potenzial, auch die ÖVP will etwas. Die zentrale Forderung von Martin Kocher ist, ein degressives Arbeitslosengeld zu schaffen: Dabei würden Jobsuchende zunächst etwas mehr Geld bekommen, wobei dieser Betrag dann auf das aktuelle Niveau absinken sollte. Dieses Modell soll Menschen Anreiz bieten, sich schneller einen Job zu suchen. Eine Zauberwirkung braucht sich niemand erhoffen. Aber einen Versuch ist es wert, der Versuch muss wissenschaftlich evaluiert werden.
Um dieses Modell zu finanzieren, darf es allerdings für Jobsuchende keine Wartefrist von mehreren Wochen geben, in der sie kein Geld vom AMS bekommen. Das Geld für die Reform wird also woanders herkommen müssen, Ideen dazu gibt es schon. Aus dem „Nichts“kann also noch was werden.