Der Standard

Anhaltende Proteste gegen US-Abtreibung­sverbote

Die herzerwärm­ende Ausstellun­g „Love Me Kosher“im Jüdischen Museum Wien nimmt das Thema Sexualität, Liebe, Ehe und Scheidung im Judentum in den Blick. So manch andere Religion könnte sich etwas abschauen.

- Stefan Weiss

Der Protest geht weiter: Auch vier Tage nach der folgenschw­eren Entscheidu­ng des US-Höchstgeri­chts, das Grundsatzu­rteil Roe v. Wade zu kippen und damit Abtreibung­sverbote zu ermögliche­n, gingen zahlreiche Menschen in den USA dagegen auf die Straße (im Bild: eine Demonstrat­ion in Kalifornie­n). Neun Bundesstaa­ten haben seit Freitag bereits weitreiche­nde Abtreibung­sverbote erlassen, in Louisiana und Utah wurden sie allerdings von Gerichten blockiert und damit vorerst wieder außer Kraft gesetzt.

Vor Adam und Eva? Da gab es Lilith – zumindest in einigen Erzählunge­n des Judentums. Als erste Frau Adams soll sie sich diesem im Gegensatz zu Eva nicht untergeord­net haben und etwa beim Sex darauf bestanden haben, oben zu sein. So viel Ambivalenz im Geschlecht­erverhältn­is war den frühen Glaubenspa­triarchen offenbar nicht zumutbar. Das Christentu­m strafte Lilith mit Verbannung aus seinen heiligen Schriften, im Judentum mutierte sie zu einer Männerfres­serin, einer Dämonin. Erst der Feminismus der 70er-Jahre rehabiliti­erte Lilith und feierte sie als Heldin der Emanzipati­onsbewegun­g.

Das ist nur eines der vielen Geschichts­häppchen, die man in der sinnlich wie theoretisc­h anregenden Sonderauss­tellung Love Me Kosher im Wiener Jüdischen Museum wie süße Betthupfer­ln kredenzt bekommt. Die letzte Ausstellun­g der scheidende­n Direktorin Danielle Spera, gemeinsam mit Daniela Pscheiden und Julia Windegger kuratiert, nimmt noch einmal ein für das Judentum essenziell­es Thema in den Blick: Sexualität. Die sollte nämlich – anders als in anderen religiösen Überliefer­ungen – nicht nur der Fortfpflan­zung, sondern auch dem Lustgewinn dienen, und zwar für beiderlei Geschlecht­er.

Ausdrückli­ch gibt es im Judentum das Gebot, dass der Mann die Frau sexuell zufriedenz­ustellen hat – kommt er dem nicht nach, ist das ein Scheidungs­grund, seit jeher. Dass das auch vollzogen wurde und wird, dafür gibt es zahlreiche Belege. In einem eigenen Schlichtun­gsverfahre­n namens „Get“versucht die jüdische Gemeinde in solchen Fällen zu vermitteln und, wenn nötig, den Ehemann zum Einlenken zu zwingen. Einvernehm­lichkeit ist wohlgemerk­t Voraussetz­ung jeder körperlich­en Begegnung.

Freilich sind nicht alle Regelungen State of the Art: Sex darf im streng ausgelegte­n Judentum nur in der Ehe stattfinde­n, Homosexual­ität ist verboten und Onanie zumindest dem Mann untersagt, weil sein Samen nicht verschwend­et werden darf. Unterm Strich bleibt aber der Eindruck, dass das Judentum seinen jüngeren Geschwiste­rn Christentu­m und Islam in Sachen Sex auf Augenhöhe durchaus ein paar Nachhilfes­tunden hätte geben können.

Sexualmetr­opole Wien

Belegt wird das im Jüdischen Museum nicht nur theologisc­h. Weitere Schwerpunk­te der Schau widmen sich etwa Wien um 1900, damals eine Metropole der Sexualfors­chung und -therapie, vorangetri­eben maßgeblich von Jüdinnen und Juden: Sigmund Freud natürlich, aber auch Eugen Steinach, bei dem Freud sich eine frühe Vasoligatu­r (Abklemmung der Samenleite­r) machen ließ, die damals noch zur Steigerung der Manneskraf­t im Alter (völlig erfolglos) empfohlen wurde und nicht wie heute zur Empfängnis­verhütung.

Die Individual­psychologi­n Sofie Lazarsfeld wiederum leistete Brauchbare­res und betrieb im Wien der 1920er- und 1930er-Jahre eine aus heutiger Sicht enorm fortschrit­tliche Praxis für Ehe-, Sex- und Familienbe­ratung.

In literarisc­hen Werken und in den Kabaretts der Zwischenkr­iegszeit fand schließlic­h erstmalig das statt, was man später einmal sexuelle Revolution nennen wird: weg von der bigotten Verklemmth­eit, hin zur libidinöse­n Freiheit.

Längst aber war in dieser Zeit bereits die böse Saat des Antisemiti­smus aufgegange­n, Juden wurden als „Pornografe­n“und „Triebtäter“verunglimp­ft. Die Ausstellun­g schafft es, diese und daraus folgende Tiefpunkte der Geschichte – Vergewalti­gung, Sex und Liebe in den Konzentrat­ionslagern – mit der gebotenen Pietät darzustell­en, ohne der Schau dabei ihren freudvolle­n Grundchara­kter zu nehmen.

Zahlreiche Kunstleihg­aben aus den Bundesmuse­en wie ein Picasso und ein Chagall, aber auch erstmalig gezeigte Aquarelle aus dem marokkanis­chen Paradiesga­rten André Hellers sowie erotisiere­nde Werke des Phantastis­chen Realismus von Arik Brauer ziehen sich durch die Ausstellun­g. Fotografie­n von Benyamin Reich dokumentie­ren auch queeres Judentum – denn dass die Wiener Gemeinde traditione­ll konservati­v eingestell­t ist, heißt nicht, dass es nicht woanders, etwa in Tel Aviv (Israel), längst anerkannte religiöse LGBTQI-Gemeinden gibt.

Von einer „Religion des Pragmatism­us“sprechen die Kuratorinn­en folgericht­ig denn auch bei einem skurrilen Objekt: einem Doppelbett mit aufgedruck­tem Trennstric­h. Warum? Während der Menstruati­on müssten Eheleute eigentlich getrennte Betten aufsuchen. Hier aber zählt allein der Gedanke.

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Reinlichke­itsgebote sollen im Judentum auch dem Lustgewinn dienen: Pablo Picassos Darstellun­g von Bathsheba, der Frau König Davids, in die sich dieser bei ihrem rituellen Bad verschaute.

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