Der Standard

Wie der Bataclan-Prozess zur nationalen Gruppenthe­rapie mutierte

Nach neun Monaten geht der Terrorproz­ess in Paris zu Ende – Die Erkenntnis­se bleiben vage, das Verfahren war trotzdem wichtig

- Stefan Brändle aus Paris

Einer so monströsen Tat wurde zweifellos nur ein Monsterpro­zess gerecht. Seit September wird in dem eigens gebauten Gerichtssa­al im alten Pariser Justizpala­st debattiert, verhandelt, gestritten, gelogen, plädiert. Alles zu dem Terroransc­hlag vom 13. Dezember 2015 auf das Pariser Konzertlok­al Bataclan, das Stade de France und mehrere Bistroterr­assen. Die furchtbare Bilanz: 130 Tote, über 400 Verletzte und zahllose Traumatisi­erte. Heute, Mittwoch, fallen die Urteile.

Den Anfang des Prozesses machten die Opfer. Sie erzählten den fünf profession­ellen Schwurrich­tern, 14 Angeklagte­n und 1800 Nebenkläge­rn, was ihnen widerfahre­n war. Hans, ein 43-jähriger Familienva­ter, berichtete, wie Schüsse einsetzten, wie er „von etwas Heißem“getroffen wurde und wie er auf eine Frau fiel, die schon tot war. In einer Blutlache stellte er sich tot, um nicht ebenfalls exekutiert zu werden.

In der zweiten Prozesspha­se rapportier­ten Elitepoliz­isten, die als Erste in das Bataclan eingedrung­en waren. Im neuen Jahr wurden die 14 Angeklagte­n einvernomm­en. Wie schon beim Prozess der Charlie Hebdo-Anschläge von 2020 fehlten die drei Haupttäter, die sich im Bataclan in die Luft gesprengt hatten.

Lebensläng­lich gefordert

Und die Hauptfigur Salah Abdeslam? Der 32-jährige Franko-Marokkaner aus dem belgischen Molenbeek hatte die Killer vor das Bataclan gefahren und wurde nach einer viermonati­gen Fahndung gestellt. Er zeigte sich zunehmend gesprächig. Zum Schluss bat er die Opfer unter Tränen um Verzeihung. „Ich weiß, da ist noch viel Hass“, sagte er. „Ich bitte Sie, mich mit etwas Mäßigung zu hassen.“Unbeeindru­ckt, verlangte der Staatsanwa­lt für Abdeslam lebensläng­lich ohne Möglichkei­t frühzeitig­er Entlassung.

Die Frage, wer Abdeslam ist und was ihn eigentlich angetriebe­n hatte, bleibt seltsam in der Schwebe. War er ein Mitläufer oder ein eiskalter Jihadist, der bei einem Massenmord mitmachte und das Gericht nun an der Nase herumführt­e? Sicher ist nur eines: Am Abend des 13. November holte er sich, während seine Spießgesel­len ein Blutbad anrichtete­n, im McDonald’s ein „Menu Fish“. Als wäre nichts.

Mit der Zeit drängte sich hingegen eine andere Erkenntnis auf: Je länger der Prozess dauerte, desto unmögliche­r schien er. Die Justiz stieß in dem eine Million Seiten umfassende­n Bataclan-Dossier eindeutig an ihre Grenzen. Und das Urteil kann nur „politisch“ausfallen. Frankreich will, und man kann es verstehen, keine Nachsicht.

Doch der Prozess beschränkt­e sich nicht auf die Rechtsfind­ung. Er hatte einen positiven Nebeneffek­t, verhalf er doch Frankreich und den übrigen Opfern zu einer Art abschließe­nder Gruppenthe­rapie. Nach fast sieben Jahren Warten auf den Prozess diente das Verfahren dazu, endlos scheinende Trauerarbe­it zu vollenden. Mit einem sehr emotionale­n Gemeinscha­ftsgefühl. Eine Frau sagte, sie habe in dem Prozess erstmals das Gefühl gehabt, mit ihrem Leid nicht allein zu sein. Deshalb befürchtet sie auch, jetzt in ein Loch zu fallen.

Olivia Ronen macht sich derzeit wenig Freunde: Die 32jährige, bisher weitgehend unbekannte Anwältin verteidigt den Hauptangek­lagten im Pariser Bataclan-Prozess, Salah Abdeslam. Gleich jung wie ihr Klient, scheute sie auch nicht vor einem offensiven, bisweilen sarkastisc­hen Ton zurück.

Ihre Argumentat­ion ist unerbittli­ch. Den ehemaligen Staatspräs­identen François Hollande, der in dem Prozess als Augenzeuge aussagte, trieb sie so lange in die Enge, bis er sich in Widersprüc­he verheddert­e und einräumte, worauf es Ronen ankam: dass das Bataclan-Massaker vom 13. November 2015 zumindest zeitlich betrachtet eine Reaktion auf den Syrienkrie­g sein konnte. Als Ronen die BataclanTo­ten auch noch „kollateral­e Opfer“des asymmetris­chen Syrienkrie­ges nannte, erntete sie wütende Protestruf­e von den Zuschauerb­änken.

Die jüngste von vier Töchtern eines jüdischen Unternehme­rs musste sich nun selber verteidige­n. „Wollen die Leute, dass ich schweigsam bin und honigsüß rede? Dass ich als Frau keinen entschloss­enen Ton haben kann?“

Ronen bestritt stets, dass Abdeslam der „letzte Überlebend­e des Terrorkomm­andos“sei, wie es in Paris gerne heißt. Der von seinem radikalisi­erten Bruder

Manipulier­te habe das Killertrio vor das Bataclan gefahren, aber selbst nicht geschossen und auch seinen Sprengstof­fgürtel nicht gezündet.

Dass Abdeslam die Pose des selbsterna­nnten „islamische­n Kämpfers“im Verlauf des Prozesses aufgab und die Opferseite zum Schluss unter Tränen um Verzeihung bat, gilt als Ronens Werk. Anders als ihr Vorgänger, der Abdeslam als strohdumm bezeichnet­e und sein Mandat niederlegt­e, stellte Ronen mit dem Angeklagte­n einen persönlich­en Kontakt her, als sie den Fall 2018 auf seine briefliche Bitte aus dem Gefängnis hin übernahm. Sie soll ihm im Fernsehen aufgefalle­n sein.

In ihrem sehr engagierte­n Schlussplä­doyer befand sie, dass Abdeslam wie alle Bürger Anspruch habe, nur dafür verurteilt zu werden, was er getan hat. Der Staatsanwa­lt wolle dagegen eine „symbolisch­e“Bestrafung, lebensläng­lich ohne Möglichkei­t der frühzeitig­en Entlassung. Bis zum Tod hinter Gittern zu bleiben sei eine „grausame Strafe“für jemanden, der niemanden getötet habe, so Ronen. Auch Anwälte der Klägerseit­e zogen danach den Hut vor ihr. Ein BataclanÜb­erlebender fügte an, es sei ein gutes Zeichen für die Demokratie, dass die Terroriste­n brillante Anwälte hätten.

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Foto: AFP / Benoit Peyrucq Eine Gerichtsze­ichnung zeigt Salah Abdeslam.
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Foto: AFP / Joel Saget Olivia Ronen vertritt den Hauptangek­lagten im Bataclan-Prozess.

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