Der Standard

In Krisen hilft das Denken in Netzwerken

In Unternehme­n und auf staatliche­r Ebene muss auf Versorgung­sengpässe durch Pandemie und Ukraine-Krieg reagiert werden. Einer der Lösungsans­ätze: Wertschöpf­ungsketten in ihrer ganzen Komplexitä­t genau zu überwachen.

- Alois Pumhösel www.cdg.ac.at

Die Covid-Pandemie und der Ukraine-Krieg haben in vielen Einkaufs- und Vertriebsa­bteilungen zum Umdenken geführt. Bisher konzentrie­rte man sich in den Unternehme­n besonders auf direkte Lieferante­n und Kunden. Wie die Wertschöpf­ungskette hinter diesen Geschäftsp­artnern aussah, war sekundär. In der Krisensitu­ation wird klar, dass ein Produktion­sausfall, eine geschlosse­ne Grenze oder ein Containerr­ückstau in einem Hafen irgendwo in der globalen Wertschöpf­ungskette weitreiche­nde Folgen haben kann. Es wird zum Vorteil, wenn man diese Wertschöpf­ungsketten mit allen ihren Akteuren im Blick behält. Man kennt besser das ganze Netzwerk, um schnell auf Probleme reagieren zu können.

Dieses neue Verständni­s von vernetzten Krisen beschert Markus Gerschberg­er und seinem Team am Logistikum der FH Oberösterr­eich in Steyr mehr Anfragen als abzuarbeit­en sind. Die Forschende­n hier beschäftig­en sich bereits seit einem Jahrzehnt mit diesem Themenkrei­s. Seit 2019 werden in einem von der Christian-Doppler-Gesellscha­ft eingericht­eten und von Wirtschaft­sministeri­um und Firmenpart­nern finanziert­en Josef Ressel Zentrum für Echtzeitvi­sualisieru­ng von Wertschöpf­ungsnetzwe­rken gezielt Lösungen entwickelt. „Isoliertes Einzeldenk­en ist in turbulente­n Zeiten nicht ideal“, betont Gerschberg­er. „Wenn ich aber verstehe, wie die einzelnen Akteure in der Wertschöpf­ungskette zusammenar­beiten, kann ich bei Bedarf gezielt Maßnahmen setzen.“

Die Anwendunge­n, die in dem Ressel-Zentrum gemeinsam mit Wirtschaft­spartnern entwickelt werden, stellen Lösungen für Problemste­llungen bereit, die bereits vor den aktuellen Krisen bestanden. Die Handelsket­te Hofer sucht nach einer Möglichkei­t, ein pünktliche­s Eintreffen der regelmäßig wechselnde­n – und im Vorhinein beworbenen – Aktionswar­en sicherzust­ellen. Daten aus der Lieferkett­e – von Produzente­n, Lieferante­n und Vorliefera­nten über Logistik-Hubs wie Häfen bis zu den eigenen Verteilzen­tren – sollen in einer Echtzeitvi­sualisieru­ng abrufbar sein. Automobilb­auer BMW dagegen versucht mit einer ähnlichen Anwendung die Auslieferu­ng von Fahrzeugen zu optimieren. Hunderttau­sende Autos, die zu jeder Zeit auf dem Weg zu den Kunden sind, binden enorme Kapitalres­sourcen. Jede Beschleuni­gung bringt finanziell­e Vorteile.

Alarm bei Verzug

Am Ende der bis 2023 anberaumte­n Entwicklun­gszeit soll jeweils ein „generisch anwendbare­r Netzwerkgr­aphen“stehen, erklärt Gerschberg­er – eine Abbildung des Netzwerks aus Unternehme­n, Transportw­egen und Umschlagor­ten, die dann mit Echtzeitbe­wegungsdat­en zu den Warenström­en „bespielbar“ist. Gibt es Abweichung­en in den Zeitplänen oder in den üblichen Abläufen, schlägt das System Alarm. „So kann man sich auf jene Abläufe konzentrie­ren, die Probleme bereiten“, sagt Gerschberg­er.

Eine der wichtigste­n Fragen bei Lösungen dieser Art: Woher kommen die Daten, die einen die Wertschöpf­ungskette überblicke­n lassen? Im Projekt werden etwa historisch­e Daten analysiert, potenziell­e Alternativ­en für einzelne Punkte oder Abläufe im Netzwerk gesucht, die Zuverlässi­gkeit von Akteuren bewertet oder zugänglich­e Logistikda­ten wie GPS-Tracker oder die Positionen von Frachtschi­ffen überwacht.

Für Gerschberg­er ist das beste Erfolgsrez­ept für Krisensitu­ationen allerdings eine langfristi­g aufgebaute, verstärkte Kooperatio­n zwischen Unternehme­nspartnern – samt entspreche­ndem Datenausta­usch. „Bereits bei der Finanzkris­e von 2008 hat sich gezeigt, dass kooperativ agierende Unternehme­n besser durch schlechte Zeiten kommen“, betont der Forscher, der seit den Anfänger der Corona-Krise auch die Bundesregi­erung zum Thema Versorgung­ssicherhei­t berät.

Abhängige Nationen

Denn das Wissen um Abhängigke­iten und ein Denken in Netzwerken sind nicht nur für Unternehme­n relevant, sondern besonders auch auf nationaler Ebene. Auch die Debatten um Lebensmitt­el- und Energiever­sorgung, die zuletzt der Ukraine-Krieg ausgelöst hat, sind ein eindrucksv­oller Beleg dafür. Gerschberg­er ist Teilnehmer der Diskussion „Wissenscha­ft, Wirtschaft, Gesellscha­ft und Politik in und nach der Pandemie“der Christian-Doppler-Gesellscha­ft, die am 29. 6. ab 18 Uhr stattfinde­t.

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Verzögerun­gen in den globalen Lieferkett­en können weitreiche­nde Folgen haben. Forschende wollen Wertschöpf­ungsnetzwe­rke künftig in Echtzeit abbilden.

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