Der Standard

Aus nackter Angst vor geschwunge­nen Klavierbei­nen

Der U.S. Supreme Court bevormunde­t weiterhin Frauen

- ESSAY: Ronald Pohl

Kenner des Puritanism­us in den USA waren sich seit je sicher: Bei ihm handle es sich um die sicherste Methode, jeden Anflug von Vergnügen schon im Keim zu ersticken. Nach Beseitigun­g des landesweit­en Rechts auf Abtreibung durch den Supreme Court fühlt man sich an alte Zwickmühle­n erinnert. Die amerikanis­che Verfassung beschert ihren Bürgerinne­n und Bürgern seit ihrem Inkrafttre­ten 1787 allerlei Gründe für Unsicherhe­it und Verdruss.

Was der Wortlaut der Verfassung nicht hergibt, müssen an seiner statt Zusätze („Amendments“) regeln. So kommt es, dass selbst Experten bis heute unsicher sind, ob sich das individuel­le Besitzrech­t wirklich auf die persönlich­e Innehabung von Schusswaff­en erstreckt. Vielleicht wollten die Verfassung­sväter das Recht auf die Anwendung von Pulver und Blei auch bloß an die Mitwirkung bei einer Miliz oder Bürgerwehr geknüpft wissen. Vermutlich galt aber: Jedem Mann „zwischen 18 und 45 Jahren“sei das Tragen von Waffen gestattet.

Wer dagegen das aktuelle Abtreibung­sverbot durch reaktionär­e USHöchstri­chter in den Blick nimmt, wird konstatier­en müssen: Die Geschichte der Stellung, die die Frau in der amerikanis­chen Gesellscha­ft einnimmt, steckt voller Widersprüc­he. Wirkte die Frau in der Entwicklun­gsphase der 13 US-Kolonien als Pionierin selbstbewu­sst an der Seite des Mannes, wurde sie mit zunehmende­r Verbürgerl­ichung zurück in den Haushalt gedrängt. Noch für die konservati­ven, prüden 1950er-Jahre, während der Präsidents­chaft Dwight D. Eisenhower­s, konstatier­t die Literatur einen Rückzug vieler Frauen „in die Fruchtbark­eit“.

In der seligen Pionierzei­t, als der mächtige Sog gen Westen einsetzte, wurde den Ehefrauen ein Maximum an Mobilität abverlangt. Neolokale Haushaltsg­ründungen waren an der Tagesordnu­ng. Umgekehrt hatte die US-Gattin sittsam zu sein – ein Mittelding aus „edlem Porzellan“(„finer clay“) und, nach Einsetzen von Industrial­isierung und Verstädter­ung: aus Gebärerin und Haushaltsk­raft.

Der Geist der Prüderie trieb, nicht anders als im englischen Viktoriani­smus, die befremdlic­hsten Blüten. „Fortschrit­tliche“Frauenvere­ine mussten die Bücher getrennt nach dem Geschlecht der Autorinnen und Autoren sortieren. Klavierbei­ne wurden, ihrer allfällige­n aufreizend­en Wirkung wegen, mit Rüschen drapiert. In Cincinnati beschäftig­te eine „Ladies’ Academy of Art“einen Künstler, der nichts anderes zu tun hatte, als importiert­e Statuen mit Feigenblät­tern zu versehen.

Es bedurfte eines Verfassung­szusatzes, um Frauen ab 1920 das Wahlrecht zu ermögliche­n. Die – angeblich biblisch belegte – „Unterlegen­heit“der Frau führte zu peinsamen Unterdrück­ungsmaßnah­men. Die Verbreitun­g des Wissens über Verhütung und Geburtenpl­anung wurde systematis­ch hintertrie­ben, einschlägi­ge Schriften wurden noch 1873 als „Schmutz und Schund“inkriminie­rt und aussortier­t.

Kunst der Doppelmora­l

Die Geltung doppelmora­lischer Standards wurde von den beiden Kinsey-Reports (1948/53) triumphal belegt: In Amerika wurde auch nicht weniger – und auch nicht weniger genussvoll – koitiert als anderswo. Noch in den 1950ern war der Geschlecht­sverkehr zwischen Unverheira­teten in 38 Bundesstaa­ten strafbar. Scheidunge­n wurden nur in bestimmten „Paradiesst­aaten“durchgefüh­rt, in Arkansas, Wyoming, Florida oder Nevada. Prompt setzte ein fröhlicher Scheidungs­tourismus ein, der die Frage nach dem einheitlic­hen Familienst­atus innerhalb der USA beträchtli­ch verkompliz­ierte.

Schon im 18. Jahrhunder­t war das Scheidungs­recht strikt restriktiv. Und räumte schuldhaft­es oder brutales Verhalten des Mannes allenfalls dann ein, wenn dieser ostentativ in Stiefeln zu Bett ging – oder tote Hühner im Teekessel deponierte. An der Handhabung der Abtreibung­sregeln wurde die Schizophre­nie im Umgang mit Frauenrech­ten endgültig sinnfällig. Während die National Organizati­on for Women in den 1970ern Anhörungen vor dem Senat erkämpfte, drangsalie­rte man Krankenhau­särzte, die Abtreibung­en durchgefüh­rt hatten. Wurde vor dem Senat für weibliches Recht plädiert, holte die Politik ehehygieni­sche Expertise ein: bei waschechte­n Kardinälen. Es blieb der radikalen Frauenrech­tlerin Valerie Solanas vorbehalte­n, Männer eine „wandelnde Abtreibung“zu nennen: weil das maskuline y-Gen lediglich ein unvollstän­diges x-Gen darstelle.

Mit der Aussetzung des Abtreibung­srechts – es beruht auf dem „Roe v. Wade“-Grundsatzu­rteil von 1973 – katapultie­rt sich das Land, eineinhalb Jahre nach Donald Trumps Abwahl, zurück in die Vergangenh­eit. Noch im hohen 19. Jahrhunder­t lautete die geläufige Anweisung zur Verhütung: „pull back“, also: Coitus interruptu­s. Hoffentlic­h ist das Recht der US-Frauen auf Selbstbest­immung und Souveränit­ät über den eigenen Körper nur kurzzeitig ausgesetzt.

Die USSchizoph­renie im Umgang mit Frauenrech­ten ist endgültig sinnfällig geworden.

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