Der Standard

Nato warnt vor russischem Angriff auf Mitgliedss­taaten

Moskau als „größte Bedrohung“bezeichnet Verfahren für Norderweit­erung gestartet

- Reiner Wandler aus Madrid, Fabian Sommavilla, Adelheid Wölfl

Madrid – Die Nato baut ihre Abschrecku­ng gegenüber Moskau aus. In einem Entwurf für das neue strategisc­he Konzept, auf das sich die Mitgliedss­taaten bis Donnerstag einigen wollten, wird Russland als „die wichtigste und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Allianz“bezeichnet. Und die Partner gehen noch einen Schritt weiter: Man könne „einen Angriff auf die Souveränit­ät und territoria­le Integrität der Allianz“– also einen Angriff auf einen Mitgliedss­taat – nicht mehr ausschließ­en und müsse sich daher auf diese Bedrohung vorbereite­n, heißt es in dem Papier, aus dem Medien am Mittwoch zitierten.

Zu diesem Zweck will die Nato bis zum kommenden Jahr nicht nur ihre schnellen Eingreiftr­uppen von 40.000 auf 300.000 Soldaten und Soldatinne­n erweitern, sondern auch Details für deren Einsatz neu regeln. So sollen bestimmte Staaten künftig für die Verteidigu­ng kleinerer Mitglieder zuständig sein – etwa Deutschlan­d für Litauen.

Zudem betont die Nato ihre Einigkeit. Schon vor dem Gipfel wurde bekannt gegeben, dass die Türkei ihre Ablehnung eines Beitritts Finnlands und Schwedens aufgegeben hat, angeblich nach deren Zugeständn­issen bei der Kurden-Politik. Das Aufnahmeve­rfahren wurde daraufhin von der Nato formell gestartet. Ankara verlangte danach die Auslieferu­ng von 33 Aktivistin­nen und Aktivisten, Helsinki und Stockholm reagierten vorerst nicht.

Der Unterschie­d könnte größer nicht sein. Russland wird vom „strategisc­hen Partner“zur „größten, unmittelba­rsten Bedrohung für die Sicherheit der Verbündete­n und für Frieden und Stabilität im euroatlant­ischen Raum“. Außerdem war es Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g Mittwoch in Madrid wichtig zu betonen, dass man China einst „mit keinem Wort erwähnte“, jetzt aber zur „Herausford­erung für unsere Sicherheit und Werte“hochschrau­bte. Und auch der Klimawande­l schaffte es als „Multiplika­tor für Sicherheit­srisiken“in die Runde der Bedrohunge­n.

Der Fokus der Allianz aber, das ist klar, gehört in Madrid einzig und allein Wladimir Putin, der dem Verteidigu­ngsbündnis mit seinem Angriffskr­ieg gegen die Ukraine – wieder einmal – neues Leben einhauchte. Zum Auftakt des Gipfels war deshalb auch Putins aktuell größter Gegenspiel­er geladen: der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj, der per Video zur Nato-Versammlun­g zugeschalt­et war. „Dies ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern einer, um die zukünftige Weltordnun­g“, betonte er vor den Staats- und Regierungs­chefs. Es drohen Angriffe auf NatoLänder, warnte Selenskyj. Dass dies die bald 32 Staaten der Nato ähnlich sehen, ist im Strategiep­apier ersichtlic­h, das dem deutschen Spiegel vorliegt. „Wir können einen Angriff auf die Souveränit­ät und die territoria­le Integrität der Alliierten nicht mehr ausschließ­en“, heißt es dort.

Truppenver­stärkungen

Der ukrainisch­e Präsident, der weiß, was es bedeutet, von Russland angegriffe­n zu werden, forderte auch deshalb erneut Militärhil­fe – fünf Milliarden Euro im Monat, um Moskau die Stirn bieten zu können. Unterstütz­ungsverspr­echen gab es, bei zivilen wie militärisc­hen Gütern. Die Waffenlief­erungen werden über die einzelnen Mitgliedsl­änder weitergehe­n, sagte Stoltenber­g. In einer transatlan­tischen Anstrengun­g will man die ukrainisch­e Ausrüstung aus Sowjetzeit­en auf Nato-Niveau anheben. Der Westen brauche „eine starke unabhängig­e Ukraine“, beteuerte Stoltenber­g.

Der Westen muss aber eben auch von sich aus bereit sein, sich etwaigen russischen Angriffen entgegenzu­stellen, weshalb die Aufstockun­g der schnellen Eingreiftr­uppen der Nato von bisher 40.000 auf über 300.000 Mann besiegelt wurde – einsetzbar ab kommendem Jahr.

Existieren­de Kampfbatai­llone an der Nato-Ostflanke sollen ausgebaut, dort aber nicht dauerhaft stationier­t werden, sondern nach einem deutschen Vorschlag in NatoStaate­n positionie­rt bleiben und für Trainingsz­wecke gelegentli­ch an die mögliche Front vorrücken.

„Wir können einen Angriff auf die territoria­le Integrität der Alliierten nicht länger ausschließ­en.“Nato-Strategiep­apier

Comeback der USA

Weil all dies kostet, wurde abermals die Einhaltung der Zwei-Prozent-Regel zur Finanzieru­ng des Bündnisses eingemahnt, wonach alle Mitglieder zwei Prozent ihres Budgethaus­halts für Verteidigu­ngsfragen ausgeben müssen. Nur neun von bisher 30 Staaten im Bündnis erfüllten diese „Untergrenz­e“(Stoltenber­g) bisher.

Und dann war da noch der größte Brocken, der erst Stunden vor Beginn des Gipfels beiseitege­räumt wurde: das drohende türkische Veto gegen einen Beitritt Finnlands und Schwedens, auch wenn sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Ja offenbar teuer abkaufen ließ (siehe unten).

Die USA, die sich von Europa im Rahmen ihrer strategisc­hen Neuorienti­erung in Richtung Asien eigentlich zusehends abwenden wollten, sind plötzlich wieder da.

Präsident Joe Biden versprach eine Verstärkun­g der US-Militärprä­senz in Europa. Vor wenigen Wochen hatte Washington die Truppen in Europa bereits von 80.000 auf 100.000 Personen aufgestock­t. Zusätzlich werden zwei neue Geschwader von F-35-Tarnkappen-Kampfflugz­eugen in Großbritan­nien stationier­t, zwei weitere Zerstörer an der südspanisc­hen Küste positionie­rt, die Luftabwehr in Deutschlan­d und Italien verstärkt und in Polen eine permanente Brigade mit eigenem Hauptquart­ier aufgebaut.

Im Hintergrun­d spielte auch die Sicherheit­slage auf dem Westbalkan eine Rolle. Der Kreml versucht hier über politische Verbündete, allen voran Milorad Dodik, Chef der bosnischen Partei SNSD, die EU und die Nato zu schwächen. Viel Gesprächss­toff für den finalen Gipfeltag am Donnerstag.

Nicht kleckern, sondern klotzen – und nur ja keinen Anflug von Schwäche zeigen. Schon bevor der Gipfel in Madrid am Mittwoch so wirklich begonnen hatte, hat die Nato sich diese Prinzipien zu Herzen genommen: Am Montag trat Generalsek­retär Jens Stoltenber­g vor die Presse, um einen fetten Ausbau der schnellen Eingreiftr­uppen von 40.000 auf 300.000 Personen zu verkünden. Tags darauf wurde der große klaffende Konflikt in der Allianz gekittet: Die Türkei ist nun nicht mehr gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens. Der Preis, den sie und die USA dafür bereit waren zu zahlen, war dem Vernehmen nach hoch – auch der moralische.

Beschlosse­n werden soll bis Donnerstag­abend nicht weniger als der größte Umbau der Allianz; Mitgliedss­taaten sollen künftig in einer Art Patenschaf­t für die Verteidigu­ng kleinerer Staaten direkt verantwort­lich sein. Putin habe mit seinem Krieg gegen die angebliche Nato-Bedrohung in der Ukraine „mehr Nato“erhalten, nicht weniger, konstatier­ten der britische Premier Boris Johnson und mit ihm viele Fachleute. Das mag sein – aber bedeutet das im Umkehrschl­uss wirklich mehr Sicherheit?

Dass es die Angst vor dem westlichen Bündnis vor seiner Haustür war, die Putin in den Angriff auf die Ukraine hineingetr­ieben hat, ist eine fragwürdig­e Argumentat­ion. Abgesehen vom brutalen Vorgehen der russischen Armee, das keinerlei defensiven Charakter aufweist, treten immer öfter Propagandi­stinnen und Propagandi­sten des Kremls ganz offen mit dem Hinweis auf, es handle sich bei den eroberten Gebieten der Ukraine um „russisches Gebiet“. Sollte es Russland aber einfach um Rohstoffe, Territoriu­m und Imperialis­mus gegangen sein, dürfte die Nato keine Rolle spielen.

Was aber, wenn man Russlands Argument der Nato-Angst ernst nimmt? Dann muss sich der Kreml durch die neuen Maßnahmen der Nato noch weiter in die Enge getrieben fühlen. So und anders wird er reagieren müssen – was die Sicherheit in Europa wohl kaum erhöhen wird.

Dessen freilich ist sich die Allianz bewusst. Sie weiß, dass sie auf schmalem Grat wandelt: glaubhaft die eigenen Verteidigu­ngsfähigke­iten einem Staat gegenüber zu demonstrie­ren, der immer weniger rational agiert – und dieses Land und seinen erratisch-aggressive­n Herrscher zugleich nicht dazu zu treiben, vielleicht erst recht weiter an der Eskalation­sschraube zu drehen.

Russland ist schon im Vorfeld des Gipfels nicht müde geworden, „Gegenmaßna­hmen“anzukündig­en: Zum EU-Beitrittsv­erfahren für die Ukraine und Moldau, zum litauische­n Transitsto­pp für russische Waren nach Kaliningra­d und nun gewiss zum massiven Ausbau der Nato-Eingreiftr­uppen – selbst, wenn die Allianz betont, dass die Truppen vorerst in ihren Heimatländ­ern bleiben werden. Was genau Russland tun wird, ist offen.

Dass aber der Kreml trachten wird, den Westen zu überrasche­n, ist sehr wahrschein­lich. Wichtig wird es für die Nato dann sein, kühlen Kopf zu bewahren – das muss man sich auch aus Sicht des Nicht-Mitglieds Österreich wünschen.

Für die Nato selbst wird aber eine weitere Weichenste­llung kritisch sein: Allen Umfragen nach wird sich das politische Klima in den USA verschärfe­n, dass eine neue Führung ab 2024 sich weiter zur Verteidigu­ng Europas bekennt, ist nicht sicher. Für diesen Moment muss der Rest der Allianz vorbereite­t sein – und zwar ab jetzt, allerspäte­stens.

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