Nato warnt vor russischem Angriff auf Mitgliedsstaaten
Moskau als „größte Bedrohung“bezeichnet Verfahren für Norderweiterung gestartet
Madrid – Die Nato baut ihre Abschreckung gegenüber Moskau aus. In einem Entwurf für das neue strategische Konzept, auf das sich die Mitgliedsstaaten bis Donnerstag einigen wollten, wird Russland als „die wichtigste und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Allianz“bezeichnet. Und die Partner gehen noch einen Schritt weiter: Man könne „einen Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität der Allianz“– also einen Angriff auf einen Mitgliedsstaat – nicht mehr ausschließen und müsse sich daher auf diese Bedrohung vorbereiten, heißt es in dem Papier, aus dem Medien am Mittwoch zitierten.
Zu diesem Zweck will die Nato bis zum kommenden Jahr nicht nur ihre schnellen Eingreiftruppen von 40.000 auf 300.000 Soldaten und Soldatinnen erweitern, sondern auch Details für deren Einsatz neu regeln. So sollen bestimmte Staaten künftig für die Verteidigung kleinerer Mitglieder zuständig sein – etwa Deutschland für Litauen.
Zudem betont die Nato ihre Einigkeit. Schon vor dem Gipfel wurde bekannt gegeben, dass die Türkei ihre Ablehnung eines Beitritts Finnlands und Schwedens aufgegeben hat, angeblich nach deren Zugeständnissen bei der Kurden-Politik. Das Aufnahmeverfahren wurde daraufhin von der Nato formell gestartet. Ankara verlangte danach die Auslieferung von 33 Aktivistinnen und Aktivisten, Helsinki und Stockholm reagierten vorerst nicht.
Der Unterschied könnte größer nicht sein. Russland wird vom „strategischen Partner“zur „größten, unmittelbarsten Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum“. Außerdem war es Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg Mittwoch in Madrid wichtig zu betonen, dass man China einst „mit keinem Wort erwähnte“, jetzt aber zur „Herausforderung für unsere Sicherheit und Werte“hochschraubte. Und auch der Klimawandel schaffte es als „Multiplikator für Sicherheitsrisiken“in die Runde der Bedrohungen.
Der Fokus der Allianz aber, das ist klar, gehört in Madrid einzig und allein Wladimir Putin, der dem Verteidigungsbündnis mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine – wieder einmal – neues Leben einhauchte. Zum Auftakt des Gipfels war deshalb auch Putins aktuell größter Gegenspieler geladen: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der per Video zur Nato-Versammlung zugeschaltet war. „Dies ist nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern einer, um die zukünftige Weltordnung“, betonte er vor den Staats- und Regierungschefs. Es drohen Angriffe auf NatoLänder, warnte Selenskyj. Dass dies die bald 32 Staaten der Nato ähnlich sehen, ist im Strategiepapier ersichtlich, das dem deutschen Spiegel vorliegt. „Wir können einen Angriff auf die Souveränität und die territoriale Integrität der Alliierten nicht mehr ausschließen“, heißt es dort.
Truppenverstärkungen
Der ukrainische Präsident, der weiß, was es bedeutet, von Russland angegriffen zu werden, forderte auch deshalb erneut Militärhilfe – fünf Milliarden Euro im Monat, um Moskau die Stirn bieten zu können. Unterstützungsversprechen gab es, bei zivilen wie militärischen Gütern. Die Waffenlieferungen werden über die einzelnen Mitgliedsländer weitergehen, sagte Stoltenberg. In einer transatlantischen Anstrengung will man die ukrainische Ausrüstung aus Sowjetzeiten auf Nato-Niveau anheben. Der Westen brauche „eine starke unabhängige Ukraine“, beteuerte Stoltenberg.
Der Westen muss aber eben auch von sich aus bereit sein, sich etwaigen russischen Angriffen entgegenzustellen, weshalb die Aufstockung der schnellen Eingreiftruppen der Nato von bisher 40.000 auf über 300.000 Mann besiegelt wurde – einsetzbar ab kommendem Jahr.
Existierende Kampfbataillone an der Nato-Ostflanke sollen ausgebaut, dort aber nicht dauerhaft stationiert werden, sondern nach einem deutschen Vorschlag in NatoStaaten positioniert bleiben und für Trainingszwecke gelegentlich an die mögliche Front vorrücken.
„Wir können einen Angriff auf die territoriale Integrität der Alliierten nicht länger ausschließen.“Nato-Strategiepapier
Comeback der USA
Weil all dies kostet, wurde abermals die Einhaltung der Zwei-Prozent-Regel zur Finanzierung des Bündnisses eingemahnt, wonach alle Mitglieder zwei Prozent ihres Budgethaushalts für Verteidigungsfragen ausgeben müssen. Nur neun von bisher 30 Staaten im Bündnis erfüllten diese „Untergrenze“(Stoltenberg) bisher.
Und dann war da noch der größte Brocken, der erst Stunden vor Beginn des Gipfels beiseitegeräumt wurde: das drohende türkische Veto gegen einen Beitritt Finnlands und Schwedens, auch wenn sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Ja offenbar teuer abkaufen ließ (siehe unten).
Die USA, die sich von Europa im Rahmen ihrer strategischen Neuorientierung in Richtung Asien eigentlich zusehends abwenden wollten, sind plötzlich wieder da.
Präsident Joe Biden versprach eine Verstärkung der US-Militärpräsenz in Europa. Vor wenigen Wochen hatte Washington die Truppen in Europa bereits von 80.000 auf 100.000 Personen aufgestockt. Zusätzlich werden zwei neue Geschwader von F-35-Tarnkappen-Kampfflugzeugen in Großbritannien stationiert, zwei weitere Zerstörer an der südspanischen Küste positioniert, die Luftabwehr in Deutschland und Italien verstärkt und in Polen eine permanente Brigade mit eigenem Hauptquartier aufgebaut.
Im Hintergrund spielte auch die Sicherheitslage auf dem Westbalkan eine Rolle. Der Kreml versucht hier über politische Verbündete, allen voran Milorad Dodik, Chef der bosnischen Partei SNSD, die EU und die Nato zu schwächen. Viel Gesprächsstoff für den finalen Gipfeltag am Donnerstag.
Nicht kleckern, sondern klotzen – und nur ja keinen Anflug von Schwäche zeigen. Schon bevor der Gipfel in Madrid am Mittwoch so wirklich begonnen hatte, hat die Nato sich diese Prinzipien zu Herzen genommen: Am Montag trat Generalsekretär Jens Stoltenberg vor die Presse, um einen fetten Ausbau der schnellen Eingreiftruppen von 40.000 auf 300.000 Personen zu verkünden. Tags darauf wurde der große klaffende Konflikt in der Allianz gekittet: Die Türkei ist nun nicht mehr gegen den Beitritt Finnlands und Schwedens. Der Preis, den sie und die USA dafür bereit waren zu zahlen, war dem Vernehmen nach hoch – auch der moralische.
Beschlossen werden soll bis Donnerstagabend nicht weniger als der größte Umbau der Allianz; Mitgliedsstaaten sollen künftig in einer Art Patenschaft für die Verteidigung kleinerer Staaten direkt verantwortlich sein. Putin habe mit seinem Krieg gegen die angebliche Nato-Bedrohung in der Ukraine „mehr Nato“erhalten, nicht weniger, konstatierten der britische Premier Boris Johnson und mit ihm viele Fachleute. Das mag sein – aber bedeutet das im Umkehrschluss wirklich mehr Sicherheit?
Dass es die Angst vor dem westlichen Bündnis vor seiner Haustür war, die Putin in den Angriff auf die Ukraine hineingetrieben hat, ist eine fragwürdige Argumentation. Abgesehen vom brutalen Vorgehen der russischen Armee, das keinerlei defensiven Charakter aufweist, treten immer öfter Propagandistinnen und Propagandisten des Kremls ganz offen mit dem Hinweis auf, es handle sich bei den eroberten Gebieten der Ukraine um „russisches Gebiet“. Sollte es Russland aber einfach um Rohstoffe, Territorium und Imperialismus gegangen sein, dürfte die Nato keine Rolle spielen.
Was aber, wenn man Russlands Argument der Nato-Angst ernst nimmt? Dann muss sich der Kreml durch die neuen Maßnahmen der Nato noch weiter in die Enge getrieben fühlen. So und anders wird er reagieren müssen – was die Sicherheit in Europa wohl kaum erhöhen wird.
Dessen freilich ist sich die Allianz bewusst. Sie weiß, dass sie auf schmalem Grat wandelt: glaubhaft die eigenen Verteidigungsfähigkeiten einem Staat gegenüber zu demonstrieren, der immer weniger rational agiert – und dieses Land und seinen erratisch-aggressiven Herrscher zugleich nicht dazu zu treiben, vielleicht erst recht weiter an der Eskalationsschraube zu drehen.
Russland ist schon im Vorfeld des Gipfels nicht müde geworden, „Gegenmaßnahmen“anzukündigen: Zum EU-Beitrittsverfahren für die Ukraine und Moldau, zum litauischen Transitstopp für russische Waren nach Kaliningrad und nun gewiss zum massiven Ausbau der Nato-Eingreiftruppen – selbst, wenn die Allianz betont, dass die Truppen vorerst in ihren Heimatländern bleiben werden. Was genau Russland tun wird, ist offen.
Dass aber der Kreml trachten wird, den Westen zu überraschen, ist sehr wahrscheinlich. Wichtig wird es für die Nato dann sein, kühlen Kopf zu bewahren – das muss man sich auch aus Sicht des Nicht-Mitglieds Österreich wünschen.
Für die Nato selbst wird aber eine weitere Weichenstellung kritisch sein: Allen Umfragen nach wird sich das politische Klima in den USA verschärfen, dass eine neue Führung ab 2024 sich weiter zur Verteidigung Europas bekennt, ist nicht sicher. Für diesen Moment muss der Rest der Allianz vorbereitet sein – und zwar ab jetzt, allerspätestens.