Der Standard

Familie Menschheit

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In den Fünfzigerj­ahren, zur Zeit der Besatzung, wurde im Wiener US-Informatio­n-Center eine Fotoausste­llung mit dem Titel The Family of Man gezeigt. Auf Deutsch hieß sie, etwas pathetisch­er, Die Menschheit – eine Familie. Fotoausste­llungen waren damals noch ungewöhnli­ch, und für eine Generation, die mit Begriffen wie Herrenrass­e und Untermensc­hen aufgewachs­en war, war diese Schau ein Augenöffne­r. Zu sehen waren unterschie­dliche Familien, afrikanisc­he Bauern, USamerikan­ische Stahlarbei­ter, arabische Nomaden und Pariser Künstler, Eltern, Kinder, Großeltern, bei ihren alltäglich­en Verrichtun­gen. Die simple Botschaft: Wir sind alle Menschen, und die wirklich wichtigen Dinge im Leben haben wir gemeinsam.

Heute sind wir weiter. Aber die Tatsache, dass sich unsere Gesellscha­ften ganz selbstvers­tändlich und auf Dauer aus Menschen unterschie­dlicher Hautfarbe zusammense­tzen, ist bei uns noch nicht wirklich angekommen. Anderswo schon eher, manchmal auch auf eher seltsame Weise. So besteht etwa in der populären Netflix-Fernsehser­ie Bridgerton die britische Hofgesells­chaft zur Regency-Zeit zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts aus weißen, braunen und schwarzen Lords und Ladys. Und die Königin, in Wirklichke­it eine mecklenbur­gische Prinzessin, wird in der Serie von einer Schauspiel­erin mit südasiatis­chem Aussehen verkörpert. Wie das, fragt sich die verwundert­e Zuschaueri­n. Aber lauter Weiße – das geht offenbar einfach nicht mehr, historisch­e Wahrheit hin oder her.

Auch die diesjährig­e Kunstbienn­ale in Venedig mit ihrem Schwerpunk­t schwarze Künstlerin­nen hat der neuen globalisie­rten Realität Rechnung getragen. Und selbstvers­tändlich auch die viel diskutiert­e Documenta in Kassel, kuratiert von einer indonesisc­hen Künstlergr­uppe mit dem Ziel, der Kunst des globalen Südens eine Plattform zu geben. Diese Ausstellun­g wurde freilich von der Kontrovers­e um eine Arbeit eines Künstlerko­llektivs überschatt­et, die antisemiti­sche Bildelemen­te enthielt und von der Documenta-Leitung zu Recht entfernt wurde. Dieser Konflikt machte auch deutlich, dass das Thema Israel für Deutsche eine andere Bedeutung hat als für Palästinen­ser: der Zusammenha­ng mit dem Holocaust für die einen, mit Besatzung und Fremdherrs­chaft für die anderen.

Globalisie­rung, das ist mittlerwei­le jedem klar geworden, bedeutet eben nicht nur weltweiten Warenverke­hr, sondern auch einen weltweiten kulturelle­n Diskurs. Und da nimmt die koloniale Vergangenh­eit, Sklaverei, Ausbeutung und Unterwerfu­ng ganzer Völker einen großen Platz ein. Das kommt auch im Literaturb­etrieb zutage. Viele wichtige europäisch­e und US-amerikanis­che Preise sind in den letzten Jahren an migrantisc­he Autoren gegangen, die diese Themen behandelt haben.

Junge tun sich mit alldem leichter als Alte. Ein Wiener Volksschül­er schwärmte vor kurzem seinen Eltern von seinem neuen Freund vor, einem notorische­n Frechdachs und hervorrage­nden Fußballer. Dass dieser Freund kohlschwar­z ist, erwähnte er nicht. Er fand das einfach nicht wichtig.

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