Stärkster Reallohnverlust seit Jahrzehnten erwartet
Laut Instituten 2022/23 kein Ausgleich der Inflation, Gewerkschaften kämpferisch
Wien – Die anhaltend hohe Inflation dürfte heuer zum größten Reallohnverlust in Österreich seit vielen Jahrzehnten führen. Bei den Lohnverhandlungen werde den Gewerkschaften auch im kommenden Jahr kein Ausgleich gelingen.
Diese Vorhersage findet sich in der am Donnerstag vorgestellten Wirtschaftsprognose der Institute Wifo und IHS. Die Bruttolöhne werden inflationsbereinigt laut Wifo heuer um 3,9 Prozent fallen. Im kommenden Jahr sollen die Bruttolöhne real nur leicht, um 1,3 Prozent, steigen. Der Gewerkschaft werde es nicht gelingen, die Inflation bei Lohnverhandlungen voll abzugelten, unter anderem, um „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“nicht zu gefährden, so das Wifo.
Führende Gewerkschafter widersprechen im STANDARD: „Wir werden keinen Kaufkraftverlust unserer Leute akzeptieren“, sagt der Chef der Produktionsgewerkschaft ProGe, Rainer Wimmer.
Wifo-Chef Gabriel Felbermayr plädiert in Richtung Gewerkschaften dafür, bei den kommenden Lohnverhandlungen die Wirkung des Antiteuerungspakets mitzuberücksichtigen. Diese Entlastung sorge dafür, dass nach einem Rückgang heuer im kommenden Jahr zumindest die Nettolöhne inflationsbereinigt zulegen werden.
Die hohe Inflationsrate in Österreich macht ohne Zweifel vielen Menschen zu schaffen. Doch wird sich erst in den kommenden Monaten entscheiden, wie groß dieses Problem wirklich sein wird und wie hoch die Zahl jener ist, die sich den Alltag kaum noch leisten können. Historische Erfahrungen zeigen nämlich, dass es Gewerkschaften in Europa oft gelungen ist, das Problem der Inflation durch hohe Lohnabschlüsse einzudämmen. Wird das wieder gelingen?
Daran gibt es, zumindest für die unmittelbare Zukunft, Zweifel. Am Donnerstag haben die beiden Forschungsinstitute Wifo und IHS ihre neuen Prognosen vorgelegt. Und in diesen enthalten ist eine aus Sicht der Beschäftigten düstere Vorausschau: Demnach drohen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über die kommenden zwei Jahre deutliche Reallohnverluste. Laut Wifo wird die Inflationsrate heuer übers Jahr gesehen 7,8 Prozent betragen. Im kommenden Jahr sollen es 5,3 Prozent sein. Das ist eine große Korrektur: Ende März hatte das Wifo bloß etwas mehr als drei Prozent Teuerung für 2023 erwartet.
Rekordverlust
Noch beachtlicher ist, dass die Lohnabschlüsse deutlich hinter der Teuerung zurückbleiben sollen. So sollen die Bruttolöhne heuer um 3,6 Prozent und im kommenden Jahr um 6,7 Prozent steigen. Inflationsbereinigt werden die Bruttoreallöhne heuer um 3,9 Prozent sinken und im kommenden Jahr nur um 1,3 Prozent zulegen. Die Teuerung wird also „zunächst nicht ausgeglichen“, so das Wifo. Zwar kam es in den vergangenen 20 Jahren immer wieder vor, dass die Bruttolöhne leicht negativ waren. Einen Rückgang um 3,9 Prozent hat es aber nie gegeben.
Wie kommt nun das Wifo zu dieser Prognose? Es spielen mehrere Faktoren zusammen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer verhandeln unterjährig Löhne. Dabei geht es immer darum, die Inflation der vergangenen zwölf Monate abzudecken, nicht um die erwartete Teuerung. Das wirkt sich heuer aus: Denn wesentlich für die aktuellen Lohnabschlüsse war die Inflationsrate von 2021, und diese war niedriger.
Das wirkt aber auch im kommenden Jahr nach. Die Metaller etwa starten die Herbstlohnrunden im September. Für sie ist die Inflationsrate August 2021 bis September 2022 maßgeblich. Im vergangenen Jahr war die Teuerung bis November nicht so dramatisch. Die Inflation, die in der Lohnrunde der Metaller abgegolten werden muss, wird also nicht die Jahresinflation von 7,8 Prozent sein. Erwartet wird, das die für die Verhandlungen relevante Teuerungsrate um die sechs Prozent beträgt, schätzt Benjamin Bittschi, Arbeitsmarktökonom am Wifo.
Aber das erklärt nur einen Teil des Effekts. Denn erstens verhandeln andere Gewerkschaften später als die Metaller, bei ihnen schlägt also die Inflation immer mehr in voller Höhe durch. Zweitens geht es ja Gewerkschaften nicht bloß darum, die Teuerung abzugelten: Sie wollen auch einen Teil der Produktivitätsgewinne der Unternehmen, also über der Teuerung abschließen.
Was dämpft also die Lohnabschlüsse noch laut Ökonomen? Das Wifo in der Prognose: Die Lohnabschlüsse werden unter der Inflationsrate bleiben, um „Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung“nicht zu gefährden.
Die Aussage ist umso interessanter, als doch in den vergangenen Monaten überall vom Arbeitskräftemangel in Österreich die Rede war. Viele Expertinnen und Experten, besonders bei Personalberatern, erwarteten daher steigende Löhne. Warum also kommt es nicht zu diesem Schlaraffenland für Arbeitnehmer? Wifo-Ökonom Bittschi sagt, dass ein höherer Lohndruck dazu führe, dass Unternehmen mehr auf Automatisierung und Outsourcing von Leistungen setzen, um damit Lohnkosten niedrig zu halten.
Dazu kommt, dass Marktmacht eine Rolle spiele. Dort, wo wenige Unternehmen den Markt beherrschen, können sie eher niedrigere Lohnabschlüsse durchdrücken. Bittschis Beispiel: Der Kollektivvertragsabschluss bei Banken brachte Angestellten dort im Frühjahr 2022 nur ein Lohnplus von 3,25 Prozent. Das ist mager, die Metaller hatten Monate davor trotz der niedrigeren Inflationsrate höher abgeschlossen.
Bittschi sagt auch, dass man genauer auf einzelne Sektoren schauen müsse, auf die Organisation der Betriebe und Gewerkschaften. Ein großer Industriebetrieb sei leichter zu bestreiken als ein Handelskonzern mit vielen Filialen. So erwartet der Ökonom, dass es im Handel nicht gelingen werde, die Teuerung voll auszugleichen, in der Industrie aber sehr wohl. Auch bei öffentlich Bediensteten dürften die Gespräche herausfordernd werden. Hier werde der Staat versuchen, die hohen Einmalzahlungen und Steuererleichterungen ins Spiel zu bringen, um damit niedrigere Lohnabschlüsse durchzusetzen.
Fette Jahre
Was sagen die Gewerkschaften? Sie melden Zweifel an der Prognose an. „Unsere Aufgabe ist in erster Linie, Kaufkraft zu sichern. Warum sollten wir Zurückhaltung üben, wenn Unternehmen Gewinne ausschütten, dass sich die Balken biegen?“, sagt ÖGB-Chef Wolfgang Katzian. Der Chef der Produktionsgewerkschaft Pro-Ge, Rainer Wimmer, bemerkt: „Wir hören das immer wieder, das mit der Wettbewerbssituation und der Beschäftigung.“Tatsache sei, dass die Industrie die Pandemie gut überstanden habe und tolle Ergebnisse einfahre. „Wir werden keinen Kaufkraftverlust unserer Leute akzeptieren.“
Könnte es sein, dass die gewährten Entlastungen eine Rolle spielen? Heuer wird es auch bei den Nettolöhnen stark nach unten gehen, inflationsbereinigt um minus 2,4 Prozent. Auch das ist der größte Rückgang seit Jahrzehnten. Im kommenden Jahr wirken sich aber Entlastungen aus, die Abschaffung der kalten Progression und die Absetzbeträge. Die Nettolöhne werden daher um 5,3 Prozent steigen.
Sollten die Gewerkschaften Lohnzurückhaltung üben und die Steuerentlastung berücksichtigen? „Ich würde dafür plädieren“, sagt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr.
Steuer spiele keine Rolle
Die Gewerkschafter winken allerdings ab. Wimmer: „Die kalte Progression ist ja etwas, das wir schon an den Finanzminister gezahlt haben. Wenn wir die nun zurückbekommen, ist das kein Grund für niedrigere Abschlüsse.“Karl Dürtscher von der GPA, der für die Privatangestellten verhandelt, sagt in Richtung der Ökonomen: Statt sich Gedanken zu machen über moderate Lohnabschlüsse, müssten sie sich lieber darum kümmern, ob Unternehmen nicht ihre Preise zu stark erhöhen und saftige Gewinne einfahren.
Was noch in der Prognose steckt: Das Wifo rechnet heuer mit 4,3 Prozent Wachstum und 1,6 Prozent im kommenden Jahr. Das IHS erwartet 3,8 Prozent und 1,4 Prozent für das kommende Jahr. Der UkraineKrieg, Lieferkettenprobleme sowie Kaufkraftverluste bedingt durch die Teuerung schwächen die Konjunktur. Über allem schwebt die Unsicherheit eines Gaslieferstopps durch Russland.
Ob im Supermarkt oder an der Zapfsäule: Die Bevölkerung spürt die fast achtprozentige Inflation in Österreich beinahe jeden Tag. Entsprechende Einkommenszuwächse sind bei Arbeitnehmern bisher ausgeblieben, sie müssen die enorme Teuerung aus eigener Kasse vorfinanzieren. Von den Entlastungen der Regierung ist bisher auch noch kaum etwas angekommen. Rufe nach einer Zurückhaltung der Gewerkschaften bei den anstehenden Lohnverhandlungen erscheinen unter diesem Licht unangebracht.
Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die Kaufkraft der Unselbstständigen zu bewahren – also die von Wirtschaftsforschern prognostizierten Reallohnverluste möglichst gering zu halten. Diese bedeuten nämlich, dass sich Arbeitnehmer weniger für ihr Einkommen leisten können und daher ärmer werden. Auch die Entlastungen der Regierung oder die Abschaffung der kalten Progression sind kein Argument für Lohnabschlüsse weit unter der Inflationsrate. Würde man dies gegenrechnen, wären es de facto eine Subventionierung für Unternehmen.
Ebenso sollten die Gewerkschaften Befürchtungen beiseiteschieben, dass hohe Lohnzuwächse die Inflation anheizen könnten. Es gibt eine Institution in der Eurozone, die für Geldwertstabilität zuständig ist: die EZB, die mit ihrer Geldpolitik die Inflation wieder auf den Zielwert von zwei Prozent drücken muss. Das ist nicht die Aufgabe der Arbeitnehmerschaft.