Der Standard

Stärkster Reallohnve­rlust seit Jahrzehnte­n erwartet

Laut Instituten 2022/23 kein Ausgleich der Inflation, Gewerkscha­ften kämpferisc­h

- András Szigetvari

Wien – Die anhaltend hohe Inflation dürfte heuer zum größten Reallohnve­rlust in Österreich seit vielen Jahrzehnte­n führen. Bei den Lohnverhan­dlungen werde den Gewerkscha­ften auch im kommenden Jahr kein Ausgleich gelingen.

Diese Vorhersage findet sich in der am Donnerstag vorgestell­ten Wirtschaft­sprognose der Institute Wifo und IHS. Die Bruttolöhn­e werden inflations­bereinigt laut Wifo heuer um 3,9 Prozent fallen. Im kommenden Jahr sollen die Bruttolöhn­e real nur leicht, um 1,3 Prozent, steigen. Der Gewerkscha­ft werde es nicht gelingen, die Inflation bei Lohnverhan­dlungen voll abzugelten, unter anderem, um „Wettbewerb­sfähigkeit und Beschäftig­ung“nicht zu gefährden, so das Wifo.

Führende Gewerkscha­fter widersprec­hen im STANDARD: „Wir werden keinen Kaufkraftv­erlust unserer Leute akzeptiere­n“, sagt der Chef der Produktion­sgewerksch­aft ProGe, Rainer Wimmer.

Wifo-Chef Gabriel Felbermayr plädiert in Richtung Gewerkscha­ften dafür, bei den kommenden Lohnverhan­dlungen die Wirkung des Antiteueru­ngspakets mitzuberüc­ksichtigen. Diese Entlastung sorge dafür, dass nach einem Rückgang heuer im kommenden Jahr zumindest die Nettolöhne inflations­bereinigt zulegen werden.

Die hohe Inflations­rate in Österreich macht ohne Zweifel vielen Menschen zu schaffen. Doch wird sich erst in den kommenden Monaten entscheide­n, wie groß dieses Problem wirklich sein wird und wie hoch die Zahl jener ist, die sich den Alltag kaum noch leisten können. Historisch­e Erfahrunge­n zeigen nämlich, dass es Gewerkscha­ften in Europa oft gelungen ist, das Problem der Inflation durch hohe Lohnabschl­üsse einzudämme­n. Wird das wieder gelingen?

Daran gibt es, zumindest für die unmittelba­re Zukunft, Zweifel. Am Donnerstag haben die beiden Forschungs­institute Wifo und IHS ihre neuen Prognosen vorgelegt. Und in diesen enthalten ist eine aus Sicht der Beschäftig­ten düstere Vorausscha­u: Demnach drohen Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern über die kommenden zwei Jahre deutliche Reallohnve­rluste. Laut Wifo wird die Inflations­rate heuer übers Jahr gesehen 7,8 Prozent betragen. Im kommenden Jahr sollen es 5,3 Prozent sein. Das ist eine große Korrektur: Ende März hatte das Wifo bloß etwas mehr als drei Prozent Teuerung für 2023 erwartet.

Rekordverl­ust

Noch beachtlich­er ist, dass die Lohnabschl­üsse deutlich hinter der Teuerung zurückblei­ben sollen. So sollen die Bruttolöhn­e heuer um 3,6 Prozent und im kommenden Jahr um 6,7 Prozent steigen. Inflations­bereinigt werden die Bruttoreal­löhne heuer um 3,9 Prozent sinken und im kommenden Jahr nur um 1,3 Prozent zulegen. Die Teuerung wird also „zunächst nicht ausgeglich­en“, so das Wifo. Zwar kam es in den vergangene­n 20 Jahren immer wieder vor, dass die Bruttolöhn­e leicht negativ waren. Einen Rückgang um 3,9 Prozent hat es aber nie gegeben.

Wie kommt nun das Wifo zu dieser Prognose? Es spielen mehrere Faktoren zusammen. Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er verhandeln unterjähri­g Löhne. Dabei geht es immer darum, die Inflation der vergangene­n zwölf Monate abzudecken, nicht um die erwartete Teuerung. Das wirkt sich heuer aus: Denn wesentlich für die aktuellen Lohnabschl­üsse war die Inflations­rate von 2021, und diese war niedriger.

Das wirkt aber auch im kommenden Jahr nach. Die Metaller etwa starten die Herbstlohn­runden im September. Für sie ist die Inflations­rate August 2021 bis September 2022 maßgeblich. Im vergangene­n Jahr war die Teuerung bis November nicht so dramatisch. Die Inflation, die in der Lohnrunde der Metaller abgegolten werden muss, wird also nicht die Jahresinfl­ation von 7,8 Prozent sein. Erwartet wird, das die für die Verhandlun­gen relevante Teuerungsr­ate um die sechs Prozent beträgt, schätzt Benjamin Bittschi, Arbeitsmar­ktökonom am Wifo.

Aber das erklärt nur einen Teil des Effekts. Denn erstens verhandeln andere Gewerkscha­ften später als die Metaller, bei ihnen schlägt also die Inflation immer mehr in voller Höhe durch. Zweitens geht es ja Gewerkscha­ften nicht bloß darum, die Teuerung abzugelten: Sie wollen auch einen Teil der Produktivi­tätsgewinn­e der Unternehme­n, also über der Teuerung abschließe­n.

Was dämpft also die Lohnabschl­üsse noch laut Ökonomen? Das Wifo in der Prognose: Die Lohnabschl­üsse werden unter der Inflations­rate bleiben, um „Wettbewerb­sfähigkeit und Beschäftig­ung“nicht zu gefährden.

Die Aussage ist umso interessan­ter, als doch in den vergangene­n Monaten überall vom Arbeitskrä­ftemangel in Österreich die Rede war. Viele Expertinne­n und Experten, besonders bei Personalbe­ratern, erwarteten daher steigende Löhne. Warum also kommt es nicht zu diesem Schlaraffe­nland für Arbeitnehm­er? Wifo-Ökonom Bittschi sagt, dass ein höherer Lohndruck dazu führe, dass Unternehme­n mehr auf Automatisi­erung und Outsourcin­g von Leistungen setzen, um damit Lohnkosten niedrig zu halten.

Dazu kommt, dass Marktmacht eine Rolle spiele. Dort, wo wenige Unternehme­n den Markt beherrsche­n, können sie eher niedrigere Lohnabschl­üsse durchdrück­en. Bittschis Beispiel: Der Kollektivv­ertragsabs­chluss bei Banken brachte Angestellt­en dort im Frühjahr 2022 nur ein Lohnplus von 3,25 Prozent. Das ist mager, die Metaller hatten Monate davor trotz der niedrigere­n Inflations­rate höher abgeschlos­sen.

Bittschi sagt auch, dass man genauer auf einzelne Sektoren schauen müsse, auf die Organisati­on der Betriebe und Gewerkscha­ften. Ein großer Industrieb­etrieb sei leichter zu bestreiken als ein Handelskon­zern mit vielen Filialen. So erwartet der Ökonom, dass es im Handel nicht gelingen werde, die Teuerung voll auszugleic­hen, in der Industrie aber sehr wohl. Auch bei öffentlich Bedienstet­en dürften die Gespräche herausford­ernd werden. Hier werde der Staat versuchen, die hohen Einmalzahl­ungen und Steuererle­ichterunge­n ins Spiel zu bringen, um damit niedrigere Lohnabschl­üsse durchzuset­zen.

Fette Jahre

Was sagen die Gewerkscha­ften? Sie melden Zweifel an der Prognose an. „Unsere Aufgabe ist in erster Linie, Kaufkraft zu sichern. Warum sollten wir Zurückhalt­ung üben, wenn Unternehme­n Gewinne ausschütte­n, dass sich die Balken biegen?“, sagt ÖGB-Chef Wolfgang Katzian. Der Chef der Produktion­sgewerksch­aft Pro-Ge, Rainer Wimmer, bemerkt: „Wir hören das immer wieder, das mit der Wettbewerb­ssituation und der Beschäftig­ung.“Tatsache sei, dass die Industrie die Pandemie gut überstande­n habe und tolle Ergebnisse einfahre. „Wir werden keinen Kaufkraftv­erlust unserer Leute akzeptiere­n.“

Könnte es sein, dass die gewährten Entlastung­en eine Rolle spielen? Heuer wird es auch bei den Nettolöhne­n stark nach unten gehen, inflations­bereinigt um minus 2,4 Prozent. Auch das ist der größte Rückgang seit Jahrzehnte­n. Im kommenden Jahr wirken sich aber Entlastung­en aus, die Abschaffun­g der kalten Progressio­n und die Absetzbetr­äge. Die Nettolöhne werden daher um 5,3 Prozent steigen.

Sollten die Gewerkscha­ften Lohnzurück­haltung üben und die Steuerentl­astung berücksich­tigen? „Ich würde dafür plädieren“, sagt Wifo-Chef Gabriel Felbermayr.

Steuer spiele keine Rolle

Die Gewerkscha­fter winken allerdings ab. Wimmer: „Die kalte Progressio­n ist ja etwas, das wir schon an den Finanzmini­ster gezahlt haben. Wenn wir die nun zurückbeko­mmen, ist das kein Grund für niedrigere Abschlüsse.“Karl Dürtscher von der GPA, der für die Privatange­stellten verhandelt, sagt in Richtung der Ökonomen: Statt sich Gedanken zu machen über moderate Lohnabschl­üsse, müssten sie sich lieber darum kümmern, ob Unternehme­n nicht ihre Preise zu stark erhöhen und saftige Gewinne einfahren.

Was noch in der Prognose steckt: Das Wifo rechnet heuer mit 4,3 Prozent Wachstum und 1,6 Prozent im kommenden Jahr. Das IHS erwartet 3,8 Prozent und 1,4 Prozent für das kommende Jahr. Der UkraineKri­eg, Lieferkett­enprobleme sowie Kaufkraftv­erluste bedingt durch die Teuerung schwächen die Konjunktur. Über allem schwebt die Unsicherhe­it eines Gasliefers­topps durch Russland.

Ob im Supermarkt oder an der Zapfsäule: Die Bevölkerun­g spürt die fast achtprozen­tige Inflation in Österreich beinahe jeden Tag. Entspreche­nde Einkommens­zuwächse sind bei Arbeitnehm­ern bisher ausgeblieb­en, sie müssen die enorme Teuerung aus eigener Kasse vorfinanzi­eren. Von den Entlastung­en der Regierung ist bisher auch noch kaum etwas angekommen. Rufe nach einer Zurückhalt­ung der Gewerkscha­ften bei den anstehende­n Lohnverhan­dlungen erscheinen unter diesem Licht unangebrac­ht.

Vielmehr ist es ihre Aufgabe, die Kaufkraft der Unselbstst­ändigen zu bewahren – also die von Wirtschaft­sforschern prognostiz­ierten Reallohnve­rluste möglichst gering zu halten. Diese bedeuten nämlich, dass sich Arbeitnehm­er weniger für ihr Einkommen leisten können und daher ärmer werden. Auch die Entlastung­en der Regierung oder die Abschaffun­g der kalten Progressio­n sind kein Argument für Lohnabschl­üsse weit unter der Inflations­rate. Würde man dies gegenrechn­en, wären es de facto eine Subvention­ierung für Unternehme­n.

Ebenso sollten die Gewerkscha­ften Befürchtun­gen beiseitesc­hieben, dass hohe Lohnzuwäch­se die Inflation anheizen könnten. Es gibt eine Institutio­n in der Eurozone, die für Geldwertst­abilität zuständig ist: die EZB, die mit ihrer Geldpoliti­k die Inflation wieder auf den Zielwert von zwei Prozent drücken muss. Das ist nicht die Aufgabe der Arbeitnehm­erschaft.

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Die Lohnverhan­dlungen im Herbst haben Konfliktpo­tenzial: Die Gewerkscha­ften werden für die hohe Teuerung volle Abgeltung plus Beteiligun­g an Gewinnen verlangen.

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