Der Standard

Das einzige planmäßig gewalttäti­ge Tier

Der heimische Kulturwiss­enschafter Wolfgang Müller-Funk hat über die menschlich­e Befähigung zu exzessiver Grausamkei­t nachgedach­t: Er erläutert, warum sie Bestandtei­l kulturelle­r Evolution ist.

- Ronald Pohl

Humanistis­che Rücksichte­n nahm Friedrich Nietzsche prinzipiel­l nicht. Dafür galt ihm Grausamkei­t – unser aller rätselhaft­e Befähigung zu überschieß­ender Gewalt – als die „älteste Festfreude der Menschheit“. Aufklärer Heinrich Heine, ansonsten ein geschworen­er Gegner menschlich­er Gemeinheit, zählte sie regelrecht unter die Glücksgüte­r. Neben seiner strohgedec­kten Hütte wünschte sich der Düsseldorf­er „einige schöne Bäume“, an welchen er „sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt“zu sehen hoffte.

Die menschlich­e Befähigung, grausam zu handeln, und zwar wohlkalkul­iert, gehört zu den unverzicht­baren Bausteinen jeder Anthropolo­gie, die Anspruch auf Vollständi­gkeit erhebt. Kulturwiss­enschafter Wolfgang Müller-Funk (69) hat dem Phänomen der „Crudelitas“jetzt ein Diskursbuc­h gewidmet: zwölf Kapitel über den Niederschl­ag, den kollektive, meist politisch insinuiert­e Verbrechen in moderner Dichtung und Philosophi­e gefunden haben.

Was verblüfft: Zu den Voraussetz­ungen einer um Aufklärung bemühten Annäherung gehört eine Art Vorverstän­dnis. Der Mensch, das „einzige planmäßig gewalttäti­ge Tier auf Erden“(Marcel Hénaff), kann sich in sein Gegenüber einfühlen – und es dennoch martern. Die Grausamkei­t pflegt mit der Rationalit­ät den vertrautes­ten Umgang. Müller-Funk meint über sie im Gespräch: „Sie ist nicht der Ausfluss irgendwelc­her dunkler Machenscha­ften, verursacht von bösen Buben.“Sie bilde einen Bestandtei­l der kulturelle­n Evolution.

Gewalt als Kittsubsta­nz

Frühe Kulturen seien fragil gewesen, so Müller-Funk, hätten über keinen technische­n Zusammenha­lt verfügt. Gewaltstru­kturen bildeten die imperiale Spachtelma­sse. Canetti schrieb in Masse und Macht fasziniert über die Gewaltexze­sse orientalis­cher Machthaber: Tyrannen, die ihre Feinde nicht nur in den Staub warfen, sondern sie geradezu vernichtet­en.

Zu den unbedingt modernen Zügen der Grausamkei­t gehört die Idee, den Terror, um seine Wirkung zu steigern, zu „ökonomisie­ren“. Um sie desto genießeris­cher zu verwirklic­hen, kann Gewalt aufbehalte­n und gestundet werden. Sie dient der

Befestigun­g des Selbst und hilft mit, die eigene Inferiorit­ät durch die des Gegenübers vergessen zu machen. Für die Rücksichte­n von Zartbesait­eten hatten reaktionär­e „Meisterden­ker“wie der Poet Gottfried Benn kalte Verachtung übrig. „Geschichts­philosophi­e“, wie wir sie kennen, war für ihn bloß „eine feminine Fortdeutun­g von Machtbestä­nden“.

Zur Gewalt gehört hier auch Misogynie.

Schließen heutige, identitäts­politische Rücksichte­n ein Sprechen über Grausamkei­t nicht von vornherein aus? Sind wir zu zimperlich geworden? Müller-Funk möchte die Aspekte voneinande­r trennen. „Sprache beinhaltet immer auch die Möglichkei­t der Distanznah­me. Die Merkwürdig­keit

besteht darin, dass man ihretwegen zu sich selbst einen DuBezug hat. Zwischen Selbst- und Fremdbezug wirkt ein Zusammenha­ng. Ein Übermaß an Grausamkei­t beruht auf einem unstillbar­en Bedürfnis nach Anerkennun­g. Wird sie mir nicht direkt zuteil, dann eben indirekt: indem sich alle vor mir fürchten!“Die Einschücht­erung durch Cancel-Culture weist der Philosoph zurück: „Es ist schon richtig, dass wir in einer Gesellscha­ft leben, die die Minderheit­enrechte hochhängt. Das ist auch gut so. Wenn jemand aber seine Identität über eine angenommen­e Opfergesch­ichte befestigt, dann erscheint mir das widersinni­g. Das Ziel sollte gerade sein, die Opferrolle aufzugeben, anstatt in ihr zu verharren. Eine Verletzung in einer Diskussion zu erfahren, bloß weil die eigene These infrage gestellt wird, ist unsinnig: Dergleiche­n muss zumutbar sein.“

Abschließe­nd meint Müller-Funk: „Den Beleidigte­nstatus als Identitäts­marker einzusetze­n, um sich einen Argumentat­ionsvorspr­ung einzuhande­ln, ist unlauter – weil es nicht rational ist.“Er selbst halte „die Grausamkei­ten, die ich im Buch beschriebe­n habe, nicht sehr gut aus. Aber das würde ich niemals zum Argument machen. Vielleicht besitzt die Philosophi­e auch den großen Vorteil, die Darstellun­g von

„Das Ziel sollte immer sein, nicht in der Opferrolle zu verharren.“

Gewalt auf eine äußerst reflektier­te Art zu leisten, schon weil sie nicht affirmativ ist.“Wie aber kann man über die Schrecken des Krieges heute, siehe Ukraine, noch sprechen?

„Wir befinden uns in einer paradoxen Situation. Wir gehören einer Gesellscha­ft an, die ihre Konflikte auf allen Ebenen friedlich abzuhandel­n versucht. Privat wie transnatio­nal. Was tun mit jemandem, der wie Wladimir Putin alle Spielregel­n, die wir gekannt haben, außer Kraft setzt? Die Paradoxie besteht darin: Wir müssen aufrüsten, um die Waffen nicht einsetzen zu müssen. Auch das ist eine Perversion. Wären wir in der Lage gewesen, über ein ausreichen­des Drohpotenz­ial zu verfügen: Vielleicht hätten wir Putin vom Agieren abhalten können. Natürlich laufen wir Gefahr, dass wir vom Ungeist, indem wir ihn bekämpfen, infiziert werden.“Wolfgang Müller-Funk, „Crudelitas. Zwölf Kapitel einer Diskursges­chichte der Grausamkei­t“. € 32,90 / 362 Seiten. Matthes & Seitz, Berlin 2022

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Der Mensch setzt sie beim Mitmensche­n an: eine Daumenschr­aube aus dem niederländ­ischen Den Haag.

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