Der Standard

Geeint gegen einen

- Eric Frey

Gestärkt geht der Westen in seiner Konfrontat­ion mit Wladimir Putin aus drei Gipfeltref­fen vergangene Woche hervor – vor allem durch den Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato. Auf dem ukrainisch­en Schlachtfe­ld läuft es für Russland besser. Aber auch das könnte sich im Herbst ändern, sagen Experten.

Es war eine Woche der Kontraste. Während in Brüssel, Elmau und Madrid die westlichen Institutio­nen Einigkeit gegen Russland und Solidaritä­t mit der Ukraine zelebriert­en, stießen im Donbass die russischen Truppen Meter für Meter weiter vor, zerstörten mit unerbittli­chem Artillerie­feuer unzählige Wohnhäuser und löschten Menschenle­ben aus. Auf der diplomatis­chen Bühne, so der Eindruck, eilt die Ukraine von Sieg zu Sieg, doch auf dem Schlachtfe­ld geht das Gespenst der Niederlage um. Hat Russlands Präsident Wladimir Putin vielleicht recht, wenn er bei seinem ersten Auslandsbe­such seit Kriegsbegi­nn in der turkmenisc­hen Hauptstadt Aschgabat verkündet: „Alles läuft nach Plan“?

Nein, sagt der Russland-Experte Jörg Forbrig. „Nichts läuft nach Plan, weder in der Ukraine noch internatio­nal.“Der Vormarsch im Donbass sei „extrem langsam, in einem extrem begrenzten Bereich und mit sehr hohen Verlusten an Material und Menschen verbunden,“sagt der Direktor für Mittel- und Osteuropa des Thinktanks German Marshall Fund of the United States (GMFUS) im STANDARD-Gespräch.

Im Spiel um geopolitis­che Macht und Einfluss hätten die Europäisch­e Union, die G7Gruppe der Industries­taaten, zu deren Kreis einst auch Russland zählte, und die Nato das Gleichgewi­cht zuungunste­n Moskaus verschoben – durch die Verleihung des EU-Kandidaten­status an die Ukraine, durch unzählige Sanktionsp­akete, den Nato-Beschluss zur massiven Erhöhung der Verteidigu­ngsausgabe­n und die Aufnahme von Schweden und Finnland in das westliche Verteidigu­ngsbündnis. Entgegen den Erwartunge­n Moskaus hätten die westlichen Staaten zusammenge­halten – sowohl in der EU als auch zwischen Europa und den USA sowie anderen westlich orientiert­en Staaten wie Japan und Australien. „All das war noch vor wenigen Monaten undenkbar“, sagt Forbrig.

Russischer Vormarsch

Das Problem sei allerdings, dass Wirtschaft­ssanktione­n und politische Weichenste­llungen kurzfristi­g wenig Auswirkung auf die militärisc­he Lage haben. „Sie sind dazu angetan, auf längere Sicht eine der Kriegspart­eien strukturel­l zu schwächen“, sagt Forbrig. Man muss sehr viel Erklärungs- und Erwartungs­management betreiben, um klarzustel­len, dass von all dem unmittelba­r auf dem Schlachtfe­ld nichts zu spüren sein wird.“

Und das spüren die ukrainisch­en Truppen, die gerade dabei sein, ihre Verteidigu­ngspositio­nen in Lyssytscha­nsk, der letzten größeren Stadt im Oblast Luhansk, zu verlieren und dabei schmerzhaf­te Verluste erleiden. Der Optimismus, den der russische Rückzug aus der Region rund um Kiew Anfang April ausgelöst hat, ist großteils verflogen. „Die Situation ist schwierig“, lautet der Stehsatz des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj in seinen täglichen Videobotsc­haften.

Allerdings sei auch auf dem Schlachtfe­ld das Bild weniger eindeutig, als es scheint, sagt Forbrig. Der gewaltige materielle Vorteil Russlands bei der Artillerie schlage sich nur in geringen Bodengewin­nen nieder. Und was an Material täglich verloren gehe, lasse sich immer schwerer ersetzen, weil durch die westlichen Sanktionen der Rüstungspr­oduktion wichtige Ersatzteil­e für Präzisions­geschoße, Panzer oder Flugzeuge fehlten. Gleichzeit­ig könne die Ukraine mit einer zunehmende­n Lieferung moderner westlicher Waffen rechnen. Die Verluste bei den Truppen könnten die Ukrainer leichter ersetzen als die Russen, solange Putin keine Mobilisier­ung wagt.

„Tendenziel­l wird die Ukraine stärker, während auf der russischen Seite die materielle­n und menschlich­en Kapazitäte­n abnehmen“, sagt Forbrig. Das werde erst in einem Zeitraum von zwei bis sechs Monaten den Kriegsverl­auf beeinfluss­en. „Im Herbst werden wir für die Ukraine mehr Möglichkei­ten sehen, Russland nicht nur aufzuhalte­n, sondern auch zurückzudr­ängen.“Vor allem im Süden seien die russischen Truppen ausgedünnt und verwundbar, betont Forbrig und verweist auf den Rückzug von der strategisc­h wichtigen Schlangeni­nsel südlich von Odessa am Donnerstag. Dass Russland im Schwarzen Meer präsent und gefährlich bleibt, zeigte sich wenige Stunden später beim Raketenang­riff auf ein Wohnhaus in der Hafenstadt mit 19 Toten.

Ein ähnliches Bild zeichnet der US-Militärana­lyst Michael Kofman in seinen Tweets zur militärisc­hen Lage. Auch im Donbass werde die ukrainisch­e Armee „Kraft für eine Offensive in einer späteren Phase entwickeln können“, schrieb er vor kurzem auf Twitter.

Noch deutlicher ist die Machtversc­hiebung auf der weltpoliti­schen Ebene zu spüren. Zwar hält China immer noch zu Russland, während sich die meisten Staaten des Globalen Südens aus dem Konflikt heraushalt­en. Letzteres führt Forbrig zum Teil auf prosowjeti­sche und antiamerik­anische Traditione­n in der Dritten Welt zurück. Aber die überrasche­nde Einigkeit des Westens seit Kriegsbegi­nn sei vielleicht Putins größte Fehlkalkul­ation gewesen.

Vor allem die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Nato sei ein sicherheit­spolitisch­er Meilenstei­n, den Putin selbst verursacht habe. Zwei stabile Demokratie­n mit – besonders im Fall Finnland – schlagkräf­tigen Armeen, die dem Bündnis viel mehr brächten als die letzten Erweiterun­gsrunden in Südosteuro­pa, betont Forbrig. „Da kommen zwei Länder, die Nettobeitr­agszahler für die Sicherheit sind und keine Nettoempfä­nger“, sagt er. „Auch die Landkarte verändert sich. Die Ostsee wird zum Nato-Meer.“Das sei vor allem für die verwundbar­en baltischen Staaten, aber auch für Polen, Dänemark und Norwegen ein Zugewinn an Sicherheit – und für Russland eine strategisc­he Schwächung.

Erdoğan droht weiter

Doch noch ist der Beitritt nicht vollzogen. Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan hat nach seiner grundsätzl­ichen Zustimmung auf dem Gipfel erneut davor gewarnt, dass das Parlament in Ankara die Ratifizier­ung verweigern werde, wenn die Staaten nicht zahlreiche Aktivistin­nen und Aktivisten, die Erdoğan als „Terroriste­n“bezeichnet“, ausliefert – eine Forderung, der die Gerichte in Schweden und Finnland kaum nachkommen können.

Die große offene Frage in diesem zunehmend langen Krieg ist, wie sich beide Seiten das Ende vorstellen. Das russische Kriegsziel bleibe klar, sagt Forbrig: die Kapitulati­on der Ukraine und ihre Umwandlung in einen Vasallenst­aat, gefolgt von einem Rückzug der Nato aus Osteuropa. „Der Kreml sagt sehr deutlich, was er will, wir haben ihm bloß in der Vergangenh­eit nicht gut genug zugehört.“

Auf der Seite des Westens herrscht zwar Einigkeit, dass man der Ukraine bis zum Schluss helfen werde, sich zu verteidige­n. Aber bedeutet das die Rückerober­ung der seit dem 24. Februar besetzten Gebiete oder auch des 2014 verlorenen östlichen Donbass und der Krim? Und unterstütz­en die Europäer das von USPolitike­rn artikulier­te Ziel, Russland so zu schwächen, dass es in Zukunft seine Nachbarn nicht mehr bedrohen kann? Für Forbrig wäre das der einzige Weg zu einem stabilen Frieden. „Wir können nicht darauf hoffen, dass sich Russland im Inneren wandelt. Wir müssen es im Interesse seiner Nachbarn eingrenzen und schwächen.“Dies sei dank der riesigen Verluste im Krieg gegen die Ukraine und die langfristi­gen Folgen der Wirtschaft­ssanktione­n auch erreichbar.

Aber je länger der Krieg andauert und je härter die Folgen für die Weltwirtsc­haft sind, desto schwierige­r wird es im Westen werden zusammenzu­halten. Die drei Gipfel im Juni 2022 könnten sich rückblicke­nd als Gipfel der Einigkeit erweisen.

Eine Mehrheit der Österreich­erinnen und Österreich­er will ein Bundesheer, das sie vor äußeren Angriffen schützt. Eine noch viel größere Mehrheit will unbedingt an der Neutralitä­t festhalten.

Diese beiden Wünsche passen nicht zusammen. Neutralitä­t bietet keinen Schutz vor Aggressore­n, das hat die Geschichte oft genug gezeigt. Dafür braucht es sehr hohe Rüstungsau­sgaben wie in der Schweiz, zu denen in Österreich nur wenige bereit sind. Und selbst das Schweizer Modell bietet weniger Sicherheit als die Einbettung in ein breites Verteidigu­ngsbündnis, das viel effiziente­r arbeiten kann als militärisc­he Einzelgäng­er.

Die Folge ist, dass Österreich keine Sicherheit­spolitik verfolgt, die diesen Namen verdient. Das kann sich das Land nur leisten, weil es von befreundet­en Staaten umgeben ist, die wiederum fast alle Mitglieder der Nato sind. Österreich nascht an deren militärisc­hen Investitio­nen mit und nimmt sich das Privileg heraus, Verteidigu­ng „im Herzen“(Zitat Ministerin Klaudia Tanner) zu betreiben statt mit Geld und Hirn.

Ganz anders handeln Finnland und Schweden, die beide nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre Bündnisfre­iheit aufgegeben haben und nun auf dem Weg in die Nato sind. Zurück bleiben unter den EU-Neutralen drei Inselstaat­en und ein Land, das sich einbildet, eine Insel der Seligen zu sein.

Österreich muss daran nichts ändern, es steht kein Aggressor vor den Toren. Die Nato braucht uns nicht und ist zufrieden, solange Bundesheer und Regierung in der Praxis kooperiere­n. Aber es ist die Rolle eines peinlichen Sonderling­s, in die sich das Land hineinmanö­vriert hat. An die Chancen einer „aktiven Neutralitä­t“glaubt jenseits der Landesgren­zen niemand.

Nun gibt es auch in Österreich vereinzelt­e Stimmen, die die Neutralitä­t als Schimäre sehen und sie überwinden möchten. Aber selbst sie schrecken vor einer Nato-Mitgliedsc­haft zurück. Stattdesse­n drängen sie darauf, Teil einer europäisch­en Verteidigu­ng zu werden, ohne die bösen Amerikaner.

Das Problem daran: Die EU-Armee gibt es heute nicht und wird es nicht bald geben. Eine europäisch­e Verteidigu­ngssäule, darüber herrscht Konsens, kann nur innerhalb der Nato entstehen. Wenn Österreich mitreden will, dann muss es dem Bündnis beitreten – genauso wie Dänemark nun offiziell an der EU-Verteidigu­ng teilnimmt. Das Land auf diesen Schritt vorzuberei­ten wäre die Aufgabe einer Regierung, die sich um Sicherheit kümmert und nicht nur um Umfragen.

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Fotos: AP / Susan Walsh, AP, EPA / Pavel Bednyakov US-Präsident Joe Biden verspricht auf dem Nato-Gipfel der Ukraine anhaltende Hilfe gegen Wladimir Putins Angriffskr­ieg.

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