Geeint gegen einen
Gestärkt geht der Westen in seiner Konfrontation mit Wladimir Putin aus drei Gipfeltreffen vergangene Woche hervor – vor allem durch den Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato. Auf dem ukrainischen Schlachtfeld läuft es für Russland besser. Aber auch das könnte sich im Herbst ändern, sagen Experten.
Es war eine Woche der Kontraste. Während in Brüssel, Elmau und Madrid die westlichen Institutionen Einigkeit gegen Russland und Solidarität mit der Ukraine zelebrierten, stießen im Donbass die russischen Truppen Meter für Meter weiter vor, zerstörten mit unerbittlichem Artilleriefeuer unzählige Wohnhäuser und löschten Menschenleben aus. Auf der diplomatischen Bühne, so der Eindruck, eilt die Ukraine von Sieg zu Sieg, doch auf dem Schlachtfeld geht das Gespenst der Niederlage um. Hat Russlands Präsident Wladimir Putin vielleicht recht, wenn er bei seinem ersten Auslandsbesuch seit Kriegsbeginn in der turkmenischen Hauptstadt Aschgabat verkündet: „Alles läuft nach Plan“?
Nein, sagt der Russland-Experte Jörg Forbrig. „Nichts läuft nach Plan, weder in der Ukraine noch international.“Der Vormarsch im Donbass sei „extrem langsam, in einem extrem begrenzten Bereich und mit sehr hohen Verlusten an Material und Menschen verbunden,“sagt der Direktor für Mittel- und Osteuropa des Thinktanks German Marshall Fund of the United States (GMFUS) im STANDARD-Gespräch.
Im Spiel um geopolitische Macht und Einfluss hätten die Europäische Union, die G7Gruppe der Industriestaaten, zu deren Kreis einst auch Russland zählte, und die Nato das Gleichgewicht zuungunsten Moskaus verschoben – durch die Verleihung des EU-Kandidatenstatus an die Ukraine, durch unzählige Sanktionspakete, den Nato-Beschluss zur massiven Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die Aufnahme von Schweden und Finnland in das westliche Verteidigungsbündnis. Entgegen den Erwartungen Moskaus hätten die westlichen Staaten zusammengehalten – sowohl in der EU als auch zwischen Europa und den USA sowie anderen westlich orientierten Staaten wie Japan und Australien. „All das war noch vor wenigen Monaten undenkbar“, sagt Forbrig.
Russischer Vormarsch
Das Problem sei allerdings, dass Wirtschaftssanktionen und politische Weichenstellungen kurzfristig wenig Auswirkung auf die militärische Lage haben. „Sie sind dazu angetan, auf längere Sicht eine der Kriegsparteien strukturell zu schwächen“, sagt Forbrig. Man muss sehr viel Erklärungs- und Erwartungsmanagement betreiben, um klarzustellen, dass von all dem unmittelbar auf dem Schlachtfeld nichts zu spüren sein wird.“
Und das spüren die ukrainischen Truppen, die gerade dabei sein, ihre Verteidigungspositionen in Lyssytschansk, der letzten größeren Stadt im Oblast Luhansk, zu verlieren und dabei schmerzhafte Verluste erleiden. Der Optimismus, den der russische Rückzug aus der Region rund um Kiew Anfang April ausgelöst hat, ist großteils verflogen. „Die Situation ist schwierig“, lautet der Stehsatz des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in seinen täglichen Videobotschaften.
Allerdings sei auch auf dem Schlachtfeld das Bild weniger eindeutig, als es scheint, sagt Forbrig. Der gewaltige materielle Vorteil Russlands bei der Artillerie schlage sich nur in geringen Bodengewinnen nieder. Und was an Material täglich verloren gehe, lasse sich immer schwerer ersetzen, weil durch die westlichen Sanktionen der Rüstungsproduktion wichtige Ersatzteile für Präzisionsgeschoße, Panzer oder Flugzeuge fehlten. Gleichzeitig könne die Ukraine mit einer zunehmenden Lieferung moderner westlicher Waffen rechnen. Die Verluste bei den Truppen könnten die Ukrainer leichter ersetzen als die Russen, solange Putin keine Mobilisierung wagt.
„Tendenziell wird die Ukraine stärker, während auf der russischen Seite die materiellen und menschlichen Kapazitäten abnehmen“, sagt Forbrig. Das werde erst in einem Zeitraum von zwei bis sechs Monaten den Kriegsverlauf beeinflussen. „Im Herbst werden wir für die Ukraine mehr Möglichkeiten sehen, Russland nicht nur aufzuhalten, sondern auch zurückzudrängen.“Vor allem im Süden seien die russischen Truppen ausgedünnt und verwundbar, betont Forbrig und verweist auf den Rückzug von der strategisch wichtigen Schlangeninsel südlich von Odessa am Donnerstag. Dass Russland im Schwarzen Meer präsent und gefährlich bleibt, zeigte sich wenige Stunden später beim Raketenangriff auf ein Wohnhaus in der Hafenstadt mit 19 Toten.
Ein ähnliches Bild zeichnet der US-Militäranalyst Michael Kofman in seinen Tweets zur militärischen Lage. Auch im Donbass werde die ukrainische Armee „Kraft für eine Offensive in einer späteren Phase entwickeln können“, schrieb er vor kurzem auf Twitter.
Noch deutlicher ist die Machtverschiebung auf der weltpolitischen Ebene zu spüren. Zwar hält China immer noch zu Russland, während sich die meisten Staaten des Globalen Südens aus dem Konflikt heraushalten. Letzteres führt Forbrig zum Teil auf prosowjetische und antiamerikanische Traditionen in der Dritten Welt zurück. Aber die überraschende Einigkeit des Westens seit Kriegsbeginn sei vielleicht Putins größte Fehlkalkulation gewesen.
Vor allem die Aufnahme Schwedens und Finnlands in die Nato sei ein sicherheitspolitischer Meilenstein, den Putin selbst verursacht habe. Zwei stabile Demokratien mit – besonders im Fall Finnland – schlagkräftigen Armeen, die dem Bündnis viel mehr brächten als die letzten Erweiterungsrunden in Südosteuropa, betont Forbrig. „Da kommen zwei Länder, die Nettobeitragszahler für die Sicherheit sind und keine Nettoempfänger“, sagt er. „Auch die Landkarte verändert sich. Die Ostsee wird zum Nato-Meer.“Das sei vor allem für die verwundbaren baltischen Staaten, aber auch für Polen, Dänemark und Norwegen ein Zugewinn an Sicherheit – und für Russland eine strategische Schwächung.
Erdoğan droht weiter
Doch noch ist der Beitritt nicht vollzogen. Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan hat nach seiner grundsätzlichen Zustimmung auf dem Gipfel erneut davor gewarnt, dass das Parlament in Ankara die Ratifizierung verweigern werde, wenn die Staaten nicht zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten, die Erdoğan als „Terroristen“bezeichnet“, ausliefert – eine Forderung, der die Gerichte in Schweden und Finnland kaum nachkommen können.
Die große offene Frage in diesem zunehmend langen Krieg ist, wie sich beide Seiten das Ende vorstellen. Das russische Kriegsziel bleibe klar, sagt Forbrig: die Kapitulation der Ukraine und ihre Umwandlung in einen Vasallenstaat, gefolgt von einem Rückzug der Nato aus Osteuropa. „Der Kreml sagt sehr deutlich, was er will, wir haben ihm bloß in der Vergangenheit nicht gut genug zugehört.“
Auf der Seite des Westens herrscht zwar Einigkeit, dass man der Ukraine bis zum Schluss helfen werde, sich zu verteidigen. Aber bedeutet das die Rückeroberung der seit dem 24. Februar besetzten Gebiete oder auch des 2014 verlorenen östlichen Donbass und der Krim? Und unterstützen die Europäer das von USPolitikern artikulierte Ziel, Russland so zu schwächen, dass es in Zukunft seine Nachbarn nicht mehr bedrohen kann? Für Forbrig wäre das der einzige Weg zu einem stabilen Frieden. „Wir können nicht darauf hoffen, dass sich Russland im Inneren wandelt. Wir müssen es im Interesse seiner Nachbarn eingrenzen und schwächen.“Dies sei dank der riesigen Verluste im Krieg gegen die Ukraine und die langfristigen Folgen der Wirtschaftssanktionen auch erreichbar.
Aber je länger der Krieg andauert und je härter die Folgen für die Weltwirtschaft sind, desto schwieriger wird es im Westen werden zusammenzuhalten. Die drei Gipfel im Juni 2022 könnten sich rückblickend als Gipfel der Einigkeit erweisen.
Eine Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher will ein Bundesheer, das sie vor äußeren Angriffen schützt. Eine noch viel größere Mehrheit will unbedingt an der Neutralität festhalten.
Diese beiden Wünsche passen nicht zusammen. Neutralität bietet keinen Schutz vor Aggressoren, das hat die Geschichte oft genug gezeigt. Dafür braucht es sehr hohe Rüstungsausgaben wie in der Schweiz, zu denen in Österreich nur wenige bereit sind. Und selbst das Schweizer Modell bietet weniger Sicherheit als die Einbettung in ein breites Verteidigungsbündnis, das viel effizienter arbeiten kann als militärische Einzelgänger.
Die Folge ist, dass Österreich keine Sicherheitspolitik verfolgt, die diesen Namen verdient. Das kann sich das Land nur leisten, weil es von befreundeten Staaten umgeben ist, die wiederum fast alle Mitglieder der Nato sind. Österreich nascht an deren militärischen Investitionen mit und nimmt sich das Privileg heraus, Verteidigung „im Herzen“(Zitat Ministerin Klaudia Tanner) zu betreiben statt mit Geld und Hirn.
Ganz anders handeln Finnland und Schweden, die beide nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihre Bündnisfreiheit aufgegeben haben und nun auf dem Weg in die Nato sind. Zurück bleiben unter den EU-Neutralen drei Inselstaaten und ein Land, das sich einbildet, eine Insel der Seligen zu sein.
Österreich muss daran nichts ändern, es steht kein Aggressor vor den Toren. Die Nato braucht uns nicht und ist zufrieden, solange Bundesheer und Regierung in der Praxis kooperieren. Aber es ist die Rolle eines peinlichen Sonderlings, in die sich das Land hineinmanövriert hat. An die Chancen einer „aktiven Neutralität“glaubt jenseits der Landesgrenzen niemand.
Nun gibt es auch in Österreich vereinzelte Stimmen, die die Neutralität als Schimäre sehen und sie überwinden möchten. Aber selbst sie schrecken vor einer Nato-Mitgliedschaft zurück. Stattdessen drängen sie darauf, Teil einer europäischen Verteidigung zu werden, ohne die bösen Amerikaner.
Das Problem daran: Die EU-Armee gibt es heute nicht und wird es nicht bald geben. Eine europäische Verteidigungssäule, darüber herrscht Konsens, kann nur innerhalb der Nato entstehen. Wenn Österreich mitreden will, dann muss es dem Bündnis beitreten – genauso wie Dänemark nun offiziell an der EU-Verteidigung teilnimmt. Das Land auf diesen Schritt vorzubereiten wäre die Aufgabe einer Regierung, die sich um Sicherheit kümmert und nicht nur um Umfragen.