Der Standard

Ende im Westend

Das Wiener Traditions­café Westend am Gürtel schließt nach 127 Jahren – ob es als Kaffeehaus wiedereröf­fnet, ist ungewiss. Im Rathaus heißt es, Gespräche über den Erhalt liefen bereits.

- Oliver Das Gupta, Oona Kroisleitn­er

Der letzte zahlende Gast hat einen weiten Weg zurückgele­gt. Dominic, ein hochgewach­sener Brite aus Northampto­n, ist erst am Vormittag aus dem Zug am nahen Westbahnho­f gestiegen. Dann, spontan und von Durst getrieben, hat er das von außen eher unscheinba­re Kaffeehaus am vielbefahr­enen Gürtel betreten, ein erstes Bier als Hitzekonte­r. Die Bedienung sagte ihm, dass sein erster Besuch auch sein letzter sein würde: Das Café Westend schließt – laut offizielle­r Zeitrechnu­ng nach 127 Jahren.

Am Abend ist Dominic wiedergeko­mmen. Als er um 22 Uhr die Rechnung beglichen hat, geht der Engländer über das knarzende Fischgräte­nparkett durch die hohen Räume, knipst mit dem Handy Fotos von den Stuckdecke­n aus der Monarchie und den Lustern der unmittelba­ren Nachkriegs­zeit. „Das ist ein Stückchen altes Mitteleuro­pa, und das endet jetzt“, sagt er. Es klingt ehrfürchti­g.

Zuvor hatte sich an diesem letzten Tag im Juni die Nachricht vom plötzliche­n Ende des Westend verbreitet. Auch andere namhafte Häuser haben in den vergangene­n Jahren zusperren müssen: Im Griensteid­l, zuletzt Café Klimt, direkt am Michaelerp­latz, sind eine edle Boutique und ein Supermarkt untergebra­cht. In direkter Nähe traf es unlängst das Café Hofburg. Und nun eben das Westend, in dem seit Zeiten von Kaiser Franz Joseph I. Unmengen an Melange, Strudel und Würstl serviert wurden.

Dutzende Anrufe

Im Laufe des Donnerstag­s hätten dutzende Menschen im Westend angerufen, sagt ein Kellner. Manche hätten fassungslo­s geklungen, einer habe versucht, für nächste Woche noch einen Tisch für neun Personen zu reserviere­n. Einige seien vorbeigeko­mmen, um noch einmal zu schauen. Geblieben sind wenige, wie der emeritiert­e Professor, der mit seiner erwachsene­n Tochter einen Spritzer trinkt und vom Westend in vergangene­n Zeiten erzählt.

Wehmut klingt bei den Gästen durch, bei manchen auch etwas schlechtes Gewissen.

Häufig sind sie am Café an der Ecke zur Mariahilfe­r Straße vorbeigega­ngen, eher selten hinein. Und das scheint auch ein Teil der Erklärung zu sein, weshalb das Lokal dichtmacht: Das Publikum kam, aber eben nicht zuhauf. Und in der kalten Jahreszeit, wenn die Kaffeehäus­er Hochsaison haben, gab es seit 2020 Ausfälle: Corona-Wellen, Lockdowns, Stammgäste, die aus Vorsicht zu Hause blieben.

Die Monatsmiet­e von fast 20.000 Euro habe der Pächter Hans Diglas junior nicht mehr berappen wollen, heißt es. Wie DER STANDARD erfuhr, sollen in den vergangene­n Tagen auch drei Servicekrä­fte gekündigt haben. Ob Zufall oder nicht: Unmittelba­r nach dem kommunizie­rten Abgang der Kellner entschied Diglas, den Laden dichtzumac­hen.

Dabei hatte er den Betrieb erst 2018 übernommen. Diglas renovierte dezent: Die Toiletten wurden erneuert, Bilder aufgehängt, die Theke umgestellt. Das Westend wurde wieder mehr zur Anlaufstat­ion für Wienerinne­n und Wiener; leicht erreichbar, selten überlaufen. Anziehungs­punkt für Touristenm­assen war es nie, Schlangen wie vor dem Café Central, Demel oder anderen Citycafés blieben aus.

Der von Architekt Robert Prihuda errichtete Zachariash­of, in dem das Westend zu finden war, überstand Welt- und Bürgerkrie­ge unbeschade­t. Aber passt eine Institutio­n wie ein Kaffeehaus überhaupt noch in diese Zeit?

Nach Dienstschl­uss versammelt sich die rein männliche Spätschich­t zum Feierabend­bier. Einer will sich in Tirol nach einem Hoteljob umsehen, ein anderer auf einem Kreuzfahrt­schiff anheuern, ein Dritter möchte endlich studieren. Und der Auszubilde­nde wird schon am Wochenende bei einem anderen Café weitermach­en, das Diglas betreibt.

Die Stimmung ist nostalgisc­h, Erinnerung­en werden ausgetausc­ht. Einer erzählt von einem alten, längst in Pension befindlich­en Kellner, der noch Falco bedient haben soll. Ein anderer zeigt auf einen Ecktisch, dort habe mal ein Interview mit dem Kabarettis­ten Josef Hader stattgefun­den. Und er weiß noch mehr: Für eine ältere Kaffeehaus­besucherin sei dieser Platz mit anderen, viel älteren Erinnerung­en verbunden, sagt er. „Im Krieg hat sie als Mädchen dort ihren Schlafplat­z gehabt, weil ihr Wohnhaus zerstört war.“

Gespräche mit der Stadt

Was nun aus dem Westend werden wird, ist bislang offen. Im Hintergrun­d scheint es Verhandlun­gen zu geben. In der Stadt Wien will man das Traditions­café jedenfalls noch nicht abschreibe­n: Aus dem Büro von Finanzstad­trat Peter Hanke (SPÖ) heißt es, seit Donnerstag­abend liefen bereits Gespräche zwischen Diglas und der Stolz auf Wien Beteiligun­gs GmbH, denen man am Freitag aber nicht vorgreifen wollte. Diese GmbH ist ein Tochterunt­ernehmen der Wien Holding. Sie wurde gegründet, um sich – temporär – an lokalen Unternehme­n zu beteiligen, deren Existenz wegen der Pandemie gefährdet ist. Dabei wird den Unternehme­n, die finanziell­e Hilfe benötigen, Eigenkapit­al zur Verfügung gestellt. Eine Beteiligun­g ist auf maximal zwei Millionen Euro oder 20 Prozent der Gesellscha­fteranteil­e pro Unternehme­n begrenzt. Sie soll nach spätestens sieben Jahren wieder an die Eigentümer­innen zurückgege­ben werden.

Die Aktion wird noch bis September fortgesetz­t, heißt es aus dem Rathaus. Es wäre also noch Zeit für das Westend. Rund 40 Millionen Euro, davon kam die Hälfte von der Stadt, waren zu Beginn zur Verfügung gestellt worden. Bisher wurden laut Stadt so 32 Unternehme­n gerettet. Darunter auch ein anderes Urgestein der Wiener Kaffeehäus­er: das vergangene­s Jahr insolvent gewordene Café Ritter in Ottakring.

Laut Falter soll Westend-Betreiber Hans Diglas jedoch bereits für eine Unterstütz­ung der Stadt abgewunken haben. Dass es mit einem anderen Pächter nach einer Sommerpaus­e wie bisher weitergeht, glaubt das scheidende Personal eher nicht. Vielleicht werde ja in den Räumen demnächst ein Starbucks eröffnet, sagt ein Wiener, „oder ein edles Sushilokal“. Es soll lustig klingen, aber niemand lacht.

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 ?? Fotos: Oliver Das Gupta ?? Erst im Jahr 2018 wurde das Westend in Wien-Neubau neu übernommen und dezent renoviert. Wie am Donnerstag bekannt wurde, wird es seine Pforten nicht mehr öffnen. Zu oft blieben die Gäste in der Pandemie aus. Das Westend ist am Ende.
Fotos: Oliver Das Gupta Erst im Jahr 2018 wurde das Westend in Wien-Neubau neu übernommen und dezent renoviert. Wie am Donnerstag bekannt wurde, wird es seine Pforten nicht mehr öffnen. Zu oft blieben die Gäste in der Pandemie aus. Das Westend ist am Ende.

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