Der Standard

Würzeaus dem Wald

- Verena Carola Mayer

Wer nur im Herbst auf Pilzsuche geht, verpasst viel. Jetzt wachsen Eierschwam­merln, Steinpilze – aber auch Exoten wie der Flockensti­elige Hexenröhrl­ing. Wie man sie erkennt – ein Waldspazie­rgang mit Wiens oberstem Pilzexpert­en Stefan Marxer.

In meiner Vorstellun­g waren Pilzsucher ältere Herren, die – ausgestatt­et mit wetterfest­er Kleidung und Körbchen – frühmorgen­s die Wälder durchstrei­fen. So ist das mit Klischees: Sie sind albern, aber schwer aus dem Kopf zu bekommen. Stefan Marxer trägt kein Körbchen, dafür Shorts, grünes T-Shirt und einfache Turnschuhe, als er zum vereinbart­en Treffpunkt am Rande des Wiener Waldes im 14. Bezirk erscheint. Ein junger Mann von 31 Jahren mit ruhigem Gang und lässig zurückgebu­ndenen Haaren.

Marxer ist hier, am westlichen Stadtrand von Wien, aufgewachs­en. Die umliegende­n Wälder waren sein Abenteuers­pielplatz. Sind es bis heute. Mehrmals die Woche durchstrei­ft er sie auf der Suche nach Pilzen. Nicht nur im Herbst, wenn die Sammler in Scharen in die Wälder strömen, sondern auch in Frühling, Sommer und Winter. „Es ist fasziniere­nd, wie viel man das ganze Jahr über sammeln kann“, sagt er. Wer nur im Herbst gehe, „versäumt ganze Jahreszeit­en“.

Rund 4500 Großpilze wachsen in den Wäldern in und um Wien. Ungefähr 50 davon, so schätzt er, seien „wirklich gute Speisepilz­e“, sprich: ungiftig und äußerst schmackhaf­t. Stefan Marxer kennt sie (fast) alle. Er geht auf Pilzsuche, seit er laufen kann. Er gibt Workshops, hält Vorträge, organisier­t Pilzwander­ungen. Außerdem hat er ein Buch geschriebe­n, in dem er erklärt, wie man „die

Schätze des Waldes“aufspürt und betreibt einen eigenen Youtube-Kanal zum Thema.

Auch ich koche gerne mit Pilzen. Allerdings stammen meine aus dem Super- oder vom Wochenmark­t. Nicht nur aus Bequemlich­keit, sondern auch wegen der Schauerges­chichten über Hobbysamml­er, die mit Lebensmitt­elvergiftu­ng im Spital landen. „Die Angst geht immer mit“, meint Marxer. Weil man diese Geschichte­n schon im Kindergart­en höre. Auf seinen Wanderunge­n will er den Menschen diese Angst nehmen.

Der Quatsch mit der Wurzel

Wir treffen uns an einem sonnigen Junimorgen. Der Regen der vergangene­n Wochen hat die Wälder in ein leuchtend grünes Postkarten­idyll verwandelt. Schnell verlassen wir die Wege, biegen auf dicht bewachsene Pfade ab, denn: „Wer was finden will, muss tief rein in den Wald.“Wir steigen über Wurzeln und Büsche. Das Blätterras­cheln, der Wind und die Vögel sind alles, was man hört.

Zielsicher geht Marxer voran. „Dieser Buchenwald mit viel Moos, Totholz und Laubinseln ist ideal. Das ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis wir was finden.“Wenige Sekunden später: „Ah ja, da ist schon einer.“Ein Eichenstei­npilz. Sie wachsen gerne unter Eichen, Buchen oder Kastanien. Mit einem kleinen Taschenmes­ser trennt er ihn ab. Könnte man ihn auch rausdrehen, oder (mein Pilzhalbwi­ssen) beschädigt man dabei die Wurzel? Das mit der Wurzel sei Quatsch, sagt Marxer. Pilze wachsen unterirdis­ch. „Was wir sehen und ernten, ist nur der Fruchtkörp­er.“Deswegen sei es auch so wichtig, immer ein paar stehenzula­ssen. So können sie aussporen und sich weiter vermehren. Der Eichenstei­npilz, auch Sommerstei­npilz genannt, ist einer der beliebtest­en Speisepilz­e und wandert daher unbedingt ins mitgebrach­te Säckchen.

Wie ist das nun mit den giftigen Exemplaren? Weniger als ein Prozent der hier wachsenden Pilze sei tödlich giftig – zehn, vielleicht zwanzig Arten. Die meisten Lebensmitt­elvergiftu­ngen, sagt Marxer, seien eine Folge von falscher Zubereitun­g – wenn sie nicht ausreichen­d erhitzt werden – oder weil alte Pilze gesammelt werden. Erst an dritter Stelle komme das Problem mit der Verwechslu­ng.

„Hier haben wir einen Flockensti­eligen Hexenröhrl­ing: Klingt giftig, schmeckt aber großartig!“Ein knubbelige­s Exemplar mit braunem, samtigem Hut und orange-rot gepunktete­m Stiel. Man erkennt ihn auch an seinem Fleisch, das sich dunkelblau verfärbt, sobald man es anschneide­t. Auf seinen Wanderunge­n will Marxer den Leuten zeigen, dass der Wald mehr zu bieten hat als Steinpilz und Eierschwam­merl. Verschiede­ne Pilze zu sammeln sei nicht nur spannender, sondern auch besser für die Umwelt. Auch darum geht es ihm, den „achtsamen Zugang“. Nicht zu viel von einer Art sammeln. Seltene Exemplare stehen lassen. Giftige nicht mutwillig umwerfen, „eine Unart, die früher weit verbreitet war“.

Schon seine Eltern und Großeltern waren leidenscha­ftliche Sammler, sein Detailwiss­en aber hat er sich selbst angeeignet. In der Ausbildung „beschränkt sich das Pilzthema auf einen Spaziergan­g im Kindergart­en“, selbst in seinem Studium der Agrarwisse­nschaften taucht es nur am Rande auf. Die Universitä­t für Bodenkultu­r, an der er derzeit seinen Doktor macht, überlegt daher, ihm eine Lehrverans­taltung zum Thema Pilze einzuricht­en. Bis heute ist vieles unerforsch­t. Erst langsam erkennt man, welch wichtige Rolle die Pilze im Ökosystem spielen. Wie fatal es daher ist, dass ihre Anzahl aufgrund von intensiver Forstwirts­chaft, Waldzerstö­rung und Klimawande­l immer weiter zurückgeht.

Auf der Spur der Heidelbeer­e

Wir stehen auf einer Lichtung. „Dieser Hang war in meiner Kindheit voll mit Pilzen“, erzählt er. Es dauert nicht lange, da hat er etwas entdeckt. „Hier habe ich noch was Schönes“, ruft Marxer, der vor einem kleinen Strauch kniet. Wilde Heidelbeer­en – ein Indikator für sauren Boden, was vor allem Steinpilze und Eierschwam­merln lieben, wie er erklärt. Ganz in der Nähe versteckt sich ein Feld zwischen Laub und Moos. „Da haben wir Glück! Das habe ich in dieser Gegend jahrelang nicht gesehen.“April und Mai waren recht feucht, das kommt den Pilzen zugute. Sammeln sollte man nur jene, die „gelb wie ein Eigelb“sind. Wenn sie sich am Rand orange verfärben, sind sie alt und oft schimmlig. Auch alle mit „Untermiete­rn“, sprich Würmern, sollte man nicht essen. Schneckens­chleim sei hingegen kein Problem, den könne man einfach abbürsten.

Normalerwe­ise darf Stefan Marxer auf seinen Touren nur zeigen und erklären. Der Gesetzgebe­r

verbietet „Pilz- und Beerensamm­elveransta­ltungen“. Laut Pilzverord­nung darf außerdem nur für den Eigenbedar­f gesammelt werden: Wer mehr als zwei Kilo pro Person und Tag mitnimmt, riskiert hohe Geldstrafe­n. Mit den strengen Vorgaben hat er kein Problem. Im Gegenteil: Er würde sich wünschen, dass das Sammeln strenger kontrollie­rt würde. Rund ein Drittel der heimischen Pilze sei geschützt oder als bedroht deklariert. Verstöße würden allerdings kaum geahndet.

Pilze – giftige wie essbare – sind immens wichtig für das Ökosystem, sagt Marxer. Ohne sie könnten die Wälder nicht überleben. Wie bei Pflanzen und Tieren gibt es auch bei Pilzen unterschie­dliche Lebensweis­en. Mykorrhiza­pilze – wozu Steinpilze und Eierschwam­merln gehören – leben in Symbiose mit Bäumen. Sie umhüllen deren Feinwurzel­n mit einem dichten Fadengefle­cht. Daher auch der Name: Das griechisch­e Wort Mykorrhiza bedeutet „Pilzwurzel“. Durch diese verpilzten Wurzeln versorgt der Pilz den Baum mit wertvollem Stickstoff und Phosphor, die er aus dem Boden aufgenomme­n hat, im Gegenzug erhält er das Fotosynthe­seprodukt Zucker. Diese Symbiose kann bis heute nicht künstlich hergestell­t werden, erklärt Marxer, weshalb Eierschwam­merln und Co nicht gezüchtet werden können. Viele Mykorrhiza­pilze aber sind standorttr­eu, wachsen über Jahrzehnte an denselben Stellen. „Sammler wissen, wo sie suchen müssen.“

Die zweite Gruppe sind die parasitäre­n Pilze. Klingt weniger erfreulich, ist für das Ökosystem des Waldes aber genauso wichtig. Sie befallen Bäume, meist kranke, wodurch diese absterben. Die Müllabfuhr des Waldes, sozusagen. Anschließe­nd gehen die Saprophyte­n ans Werk. Sie zersetzen das abgestorbe­ne Material und machen die Nährstoffe für andere verfügbar. Das wäre dann die Recyclinga­nlage. „Ohne Pilze würde der Wald an Totholz, Laub und Nadeln ersticken“, sagt Marxer. Da sich Saprophyte­n wie Austernsei­tlinge, Shiitake und Champignon­s von Biomasse ernähren, können sie einfach gezüchtet werden – etwa auf Kaffeesatz, wie es die Wiener Pilzbrüder tun.

Ich frage nach seinen liebsten Pilzrezept­en. Sein Tipp: trocknen und zu Pulver mahlen. So verleihen sie Suppen und Soßen aromatisch­e Tiefe, das vielbeschw­orene Umami. Neben kulinarisc­hen Genüssen geht es ihm vor allem um die Freude am Draußensei­n und das Glück des Findens. Das Umherstrei­fen durch Büsche, das Spähen unter Wurzeln und Laubhaufen – es erinnert ein wenig ans Ostereiers­uchen. „Sobald man die Hauptwege verlässt, ist das Sammeln ein sehr exklusives Unternehme­n“, sagt er. „Man vergisst alles um sich herum.“Meditativ sei das.

Vor eineinhalb Jahren hat sich der „Pilzvergnü­gte“Stefan Marxer selbststän­dig gemacht. Sein Geld verdient er außer mit Wanderunge­n, Seminaren und dem Buch mittlerwei­le auch durch Werbung auf seinem Youtube-Kanal, der zu den erfolgreic­hsten im deutschspr­achigen Raum gehört. Mit seinem besten Freund Daniel Schwingens­chlögl, einem Videoprodu­zenten, ist er mehrmals die Woche im Wald unterwegs, um Videos zu drehen. Vor allem in Deutschlan­d hat er viele Zuschauer, weshalb er – ein Wiener Kind – sich irgendwann „assimilier­t“hat und nunmehr meist von Pilzen statt Schwammerl­n spricht.

Stefan Marxers Enthusiasm­us ist ansteckend. Als wir uns nach eineinhalb Stunden verabschie­den, bin ich fest entschloss­en, bald wieder in die Wälder aufzubrech­en. Die gesammelte­n Eierschwam­merln gibt es später zum Abendessen. Lediglich mit ein paar Zwiebeln in Butter angebraten. Ein köstlicher Klassiker – der, im Wissen, dass man die Zutaten selbst gesammelt hat, gleich noch viel besser schmeckt.

 ?? ?? Stefan Marxer ist einer der profundest­en Pilzexpert­en Österreich­s – sein Wissen gibt er mittlerwei­le auch auf Youtube preis.
Stefan Marxer ist einer der profundest­en Pilzexpert­en Österreich­s – sein Wissen gibt er mittlerwei­le auch auf Youtube preis.
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 ?? ?? Eine kulinarisc­he Empfehlung: die Pilze trocknen und zu Pulver vermahlen. Das verhilft Suppen und Soßen zum vielbeschw­orenen Umami, der aromatisch­en Tiefe.
Eine kulinarisc­he Empfehlung: die Pilze trocknen und zu Pulver vermahlen. Das verhilft Suppen und Soßen zum vielbeschw­orenen Umami, der aromatisch­en Tiefe.
 ?? ?? Bereits als Kind war Stefan Marxer von Pilzen begeistert – heute verdient er mit dem einstigen Hobby sein Geld.
Bereits als Kind war Stefan Marxer von Pilzen begeistert – heute verdient er mit dem einstigen Hobby sein Geld.
 ?? ?? In den Wäldern rund um Wien findet man nun Eierschwam­merln und Steinpilze – man muss nur wissen, wo.
In den Wäldern rund um Wien findet man nun Eierschwam­merln und Steinpilze – man muss nur wissen, wo.
 ?? ?? Eine echte Rarität: der Flockensti­elige Hexenröhrl­ing.
Eine echte Rarität: der Flockensti­elige Hexenröhrl­ing.

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