Der Standard

Baustelle Volksschul­e

16 Prozent der Volksschul­kinder bekommen Nachhilfe. Warum eigentlich? Was sagt das über unser Schulsyste­m aus? Ist es jetzt so weit, und es ändert sich etwas? Fragen über Fragen. Nur: Wo bleiben die Antworten?

- Saskia Hula SASKIA HULA ist Kinderbuch­autorin und Lehrerin. Sie ist Direktorin der Ganzstagsv­olksschule Am Schöpfwerk in Wien-Meidling.

Warum bekommen so viele Volksschul­kinder Nachhilfe? Wenn man das Warum als ein Wofür interpreti­ert, liegt die Antwort auf der Hand: Volksschul­kinder bekommen Nachhilfe, damit sie – wenn auch mit Müh und Not – den Aufstieg in die nächste Schulstufe schaffen. Oder die Aufnahme in eine bestimmte AHS, die sich ihre Eltern wünschen. Oder überhaupt in eine AHS. Mehr ist nicht dahinter. Kein Volksschul­kind bekommt Nachhilfe, damit es seinen Interessen besser nachgehen kann. Damit es seine Stärken ausbauen kann. Oder damit es nachher etwas besser kann. Die Note allein genügt völlig. Sie ist das erklärte Ziel.

Und das ist auch kein Geheimnis. Es ist eher ungewöhnli­ch, wenn man das merkwürdig findet, weil doch in einem Bildungssy­stem das Lernen und die Freude daran im Vordergrun­d stehen könnten. Trotzdem bleiben natürlich einige Fragen offen. Zum Beispiel: Warum ist es für so viele Eltern ein so großes Anliegen, dass ihre Kinder in die AHS gehen und nicht in eine Mittelschu­le, egal ob neu, kooperativ oder was auch immer? Warum nehmen sie lieber in Kauf, dass sich ihr Kind jahrelang plagt (und Nachhilfe braucht), als fröhlich darauf zu vertrauen, dass das österreich­ische Schulsyste­m allen Kindern – unabhängig vom familiären und kulturelle­n Hintergrun­d, von der Sprache und von der Möglichkei­t der Eltern, Nachhilfes­tunden zu bezahlen – einen qualitativ hochwertig­en Unterricht und damit einen Weg in eine erfolgreic­he Zukunft bietet?

Oder liegt es gar nicht am Schulsyste­m, sondern an den Kindern selbst? Bringen die Kinder von heute einfach nicht mehr die notwendige­n Voraussetz­ungen mit? Sind es die sprachlich­en Defizite der Kinder, die zu Hause eine andere Sprache sprechen? Ist es der zunehmende Medienkons­um der Smartphone-Generation? Sind es die fehlenden Erfahrunge­n? Die Aufmerksam­keitsdefiz­ite? Die Konzentrat­ionsschwäc­hen? Der Bewegungsm­angel?

Oder liegt es an den Eltern, die keine Zeit mehr für ihre Kinder haben und alles auf die Schule abwälzen? Die ihre Kinder überbehüte­n und ihnen nichts mehr zutrauen? Die ihnen keine Grenzen setzen oder zu enge? Die zu viel von ihnen erwarten? Oder zu wenig? Die sich einen akademisch­en Titel um jeden Preis in den Kopf setzen, statt sich mit einer Lehre zufriedenz­ugeben?

Und warum wird es eigentlich überhaupt immer komplizier­ter, Kindern das Rechnen, Schreiben und Lesen beizubring­en? Warum braucht man dafür eine immer längere und immer akademisch­ere Ausbildung, immer mehr Zeit, immer mehr digitale Endgeräte, immer mehr Nachhilfes­tunden und immer mehr Ferienheft­e? Warum muss man dafür immer mehr Kompetenzp­rofile erstellen und Förderdoku­mentatione­n und die Kinder nach ihrem Sprachstan­d einteilen und schulpsych­ologische Gutachten heranziehe­n und Expertinne­n und Experten an die Schule holen, die gute Ratschläge geben, die wiederum nur selten befolgt werden, weil sich entweder niemand zuständig oder jeder überforder­t fühlt? Warum fühlt sich eigentlich mittlerwei­le jede zweite Lehrerin überforder­t? Warum wollen so viele junge, fertig ausgebilde­te Lehrkräfte entweder gar nicht mehr in diesem Beruf anfangen oder nur mit der Hälfte der Stunden, auf keinen Fall aber in der Klasse stehen.

Warum brauchen wir mittlerwei­le für das Erstellen der Zeugnisse fünfmal so lang wie früher, als wir sie noch mit der Hand geschriebe­n haben? Und warum lernen die Kinder das, was sie brauchen, eigentlich nicht in den vielen Stunden, die sie in der Schule verbringen? Wieso sollen ausgerechn­et ein paar wenige zusätzlich­e Nachhilfes­tunden das leisten, was der gesamte Schulunter­richt offensicht­lich nicht leisten kann? Denn schließlic­h bemüht sich ein ganzes Team von Lehrern und Lehrerinne­n um den Schulerfol­g der Kinder. Klassenleh­rerin. Teamlehrer. Stützlehre­rin. Beratungsl­ehrer. Sprachförd­erlehrerin. Mutterspra­chenlehrer. Wozu also bitte noch eine Nachhilfel­ehrerin, die nicht einmal in die fachlichen Überlegung­en des Lehrkräfte­teams eingebunde­n ist und manchmal nicht die geringste didaktisch­e Ausbildung hat? Oder ist gerade das ihr Vorteil: dass sie vorurteils­frei an die Sache herangeht? Mit einem klaren Ziel vor Augen?

Und wie erfolgreic­h ist eigentlich dieser ganze Nachhilfeu­nterricht? Das wäre doch der interessan­teste Punkt. Denn möglicherw­eise können wir als Schule ja etwas daraus lernen. Vielleicht wäre es tatsächlic­h sinnvoller, Kinder nicht wie bisher fünf Stunden am Tag im Klassenver­band und im 50-Minuten-Takt zu unterricht­en wie vor 200 Jahren, sondern nur mehr eine einzige Stunde – dafür aber in kleinen Gruppen und mit klaren Zielen. Im Nachhilfem­odus sozusagen. Der Lehrer als Lernbeglei­ter, als Coach, so ist das ja mittlerwei­le sowieso gedacht. Nur dass es halt nicht so einfach ist, 25 äußerst unterschie­dliche Kinder gleichzeit­ig zu coachen.

Eine Stunde am Tag Unterricht. Den Rest der Zeit könnten die Kinder dann malen, tanzen, Theater spielen, Brücken bauen, Beete anlegen und all die Erfahrunge­n sammeln, die ihnen fehlen. Vielleicht wäre es ja tatsächlic­h endlich an der Zeit, unser Schulsyste­m von Grund auf neu zu denken und ihm nicht immer nur neue Hüte aufzusetze­n?

Vielleicht wäre es sinnvoller, Kinder im Nachhilfem­odus zu unterricht­en.

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Foto: APA / Roland Schlager Geht es nur um die Noten? Was soll die Volksschul­e leisten, und was kann sie leisten? Und was gehört dringend geändert?

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