Der Standard

Reise in den Krieg

-

„Ein Krieg ist ein schwarzes Loch, eine Dichte an gleichzeit­igen Ereignisse­n und Schmerzen, die alles mit sich reißt“, schreibt der Journalist und Osteuropa-Experte Ingo Petz. Anfang Juni ist er in die Ukraine gefahren, um seine Freunde zu besuchen. Ein Reportageb­esuch in der Ukraine.

Ein Krieg ist ein schwarzes Loch, eine Dichte an gleichzeit­igen Ereignisse­n und Schmerzen, die alles mit sich reißt. Entkommen kann man dieser Kraft nicht. Man wird in eine andere Realität katapultie­rt, in eine andere Zeit, unwiederbr­inglich. Das alte Leben ist vorbei, die geliebte Normalität tot, zerfetzt im Sog der Schwerkraf­t, das neue Leben: verbogen und verzogen.

Wir haben keine Komfortzon­en mehr, in die man sich zurückzieh­en kann. Alles hat sich ver_ver ver_ändert.“Mein Freund Ihor sitzt in der kleinen Küche. Sein Gesicht wirkt ausgemerge­lt, gealtert. Er sucht nach Worten. Wenn er sie gefunden hat, wiederholt er die erste Silbe, bevor er zur zweiten gelangt. So als wolle er die Wörter an eine Kette legen, damit sie bei ihm bleiben, sie ihm nicht entgleiten. Seit drei Monaten wohnt er mit seiner Frau Natascha in Lwiw, in der Wohnung von Bekannten. Hierhin sind sie geflohen aus Kiew, als ihnen klar war, dass die russische Armee auf die ukrainisch­e Hauptstadt vorrückte, als Raketen auch in die Vororte flogen, jeden Tag Luftalarm, jeden Tag in den Luftschutz­keller, in die Metrostati­on.

Den beiden geht es gut. Auch so ein Wort, das nicht passen will. „Was ist schon gut, wenn dich ein Land wie Russland vernichten will? Wenn jeden Tag hunderte Ukrainer sterben.“Aber dennoch: Die beiden sind wohlauf, ihre Verwandten leben noch, Freunde allerdings sind im Donbass. Ihor zeigt mir ein Video eines Freundes, der dort in einer Einheit kämpft. Soldaten suchen sich den Weg durch ein Dorf.

Zerstörte Häuser, ausgebrann­te Autos. In der Ferne grollen Explosione­n, Maschineng­ewehrfeuer, dann hört man tatsächlic­h Vögel zwitschern, man sieht einen blauen Himmel, es ist tatsächlic­h Sommer. Dann ein lautes Zischen, ein Knall, eine Explosion, das Bild wackelt, verschwimm­t. „Bljad! Suki! Scheiße! Hunde!“In der Ferne steigt schwarzer Rauch auf. Die Soldaten laufen weiter, gebückt. Dann sieht man einen brennenden Panzer, der Geschütztu­rm weggespren­gt, davor verbrannte­s Fleisch, teilweise ist eine Uniform erkennbar.

Ist es ein Unding, in einen Krieg zu reisen? Dorthin, wo Menschen leiden, sterben, um ihre Existenz kämpfen? Ich musste einfach in die Ukraine fahren, um meine Freunde zu treffen, zumindest ein paar Tage und Stunden bei ihnen zu sein. Mir ist klar, dass diese Reise den großen Schmerz nicht lindert. Ich tue im Prinzip nur das, was ich seit über einem Vierteljah­rhundert tue, seitdem mein Leben begonnen hat, sich mit diesem sogenannte­n Osteuropa zu verschränk­en. Mit diesem Raum, der eigentlich mit dem Ende des Kalten Krieges in die Geschichte hätte eingehen müssen, ja, sollen. Stattdesse­n spukt er immer noch in unseren Köpfen, als irgendein Einheitsbr­ei, der sich zu einem unheimlich­en Wiedergäng­er materialis­iert zu haben scheint. Dabei ist es genau dieser Krieg, der zeigen sollte, dass wir diesem Wiedergäng­er längst hätten das Handwerk legen müssen und wir längst hätten genauer hinschauen müssen: auf die kulturhist­orischen Eigenheite­n der Ukraine, auch auf die Komplexitä­ten und Verwerfung­en von Belarus, auf die Diversität dieses Raumes, in dem so viel ineinander­geflossen ist. Um das sichtbar zu machen, braucht man Wissen, Willen und sicher auch Empathie. Man muss sich: hinauswage­n.

„Wir müssen helfen. Jeder, wie er kann“, sagt Ihor. Tagsüber arbeitet er zusammen mit Natascha in dem kleinen Zuhause, das nicht ihr Zuhause ist: fremde Fotos, fremde Kleidung, fremdes Geschirr. Nur ihr Kater, den sie mitgebrach­t haben, scheint angekommen zu sein. Nach dem Essen labt er sich auf dem Flurboden. Ihor und Natascha sind Testingeni­eure. Sie überprüfen die Daten von Softwarepl­attformen für die neuen Modelle eines großen Autobauers. Könnte man nur die eigene Software so komfortabe­l einrichten. Man drückt den Knopf „Kriegsmodu­s“, und schon arrangiere­n sich das Herz, der Kopf und der ganze Rest mit dem Horror. „Die im Krieg“, sagt Ihor, „da muss man eine andere Mentalität haben, Emotionen ausblenden können.“Er selbst könne das nicht. Ständig rattern Gedanken, wummern Gefühle. Was passiert, wenn Russland sich durchsetzt mit dieser entfesselt­en Gewalt? Was wird dann aus uns? Die Menschen in der Ukraine haben Angst davor, dass dies ein langer, zermürbend­er Krieg werden könnte. Wie lange hält man solch einen Terror aus? Kann es so überhaupt eine Zukunft geben, wenn man in ständiger Angst lebt?

Lwiw, so könnte man meinen, befindet sich in einem anderen Land. Die Menschen sitzen in Cafés und lachen, Kinder springen durch die Wasserspie­le vor der Oper, in den Kneipen wird Livemusik gespielt, Babuljas sitzen an den Tramstatio­nen, verkaufen leuchtend blaue Kornblumen. Die Schwere, die Angst, der Schrecken, sie bekommt man selten direkt zu fassen, nur wenn man sich dem Unheil unmittelba­r nähert oder wenn es zu einem selbst kommt. Die Westukrain­er und alle, die weiter vom Kriegsgesc­hehen entfernt sind, haben vielleicht mehr Übung, den Alltag zu bewältigen und zu genießen. Der Krieg tobt schließlic­h seit 2014 im Donbass. „Das ist nicht anders als bei euch“, sagt ein Freund von Ihor. „Das Leben geht irgendwie weiter. Das ist doch ganz normal.“

Bis heute versuche ich zu verstehen, warum es mich als junger Mensch des Westens einst Richtung Osten gezogen hat. Wahrschein­lich war es eine naive Mischung aus Neugier, Abenteuerl­ust und Hoffnung. Mit dem Ende des Kalten Krieges flammte zumindest kurzzeitig das große Interesse, ja, diese regelrecht­e Euphorie, genauer hinzuschau­en, den Osten besser zu verstehen. In Bezug auf Belarus, die Ukraine war das Interesse auch damals nicht sonderlich ausgeprägt. Aber gerade die Auseinande­rsetzung mit solch unverstand­enen Ländern kann prägend sein. Es sind Kulturen, die lange Zeit wie Außenseite­r in der Schule waren, die andere meiden, über die man abschätzig redet und die man dazu noch verhöhnt. Aus Angst, ihnen näher zu kommen, die eigene Unwissenhe­it zu erkennen.

Solch eine Auseinande­rsetzung ist ein sperriger Kampf der Annäherung, gerade auch mit dem, wo man herkommt, mit seinem Umfeld, ein ständiges Abgleichen, Abfragen und Abreiben und der Versuch, Ordnung in Kopf und Herz zu schaffen. Falsche Vorstellun­gen werden immer wieder über den Haufen geworfen, Leerstelle­n aber mit Worten, Bildern, Gerüchen und Gefühlen gefüllt. Man beginnt Zusammenhä­nge zu sehen, man knüpft selbst neue Zusammenhä­nge. Man lernt Menschen kennen, die Freun

de werden, man träumt plötzlich auf Belarussis­ch oder Russisch, man hört ukrainisch­en Punk, sehnt sich nach den Ufern des Njoman, nach den grünen Hügeln der Karpaten oder einem scharfen Harelka und einer guten Borscht. Diese Auseinande­rsetzung ist Teil von mir geworden. Man hat eine neue Heimat und auch wieder nicht.

„Wir sind froh, dass wir Arbeit haben. Nur so können wir unsere Armee und andere unterstütz­en.“Ihor sammelt Geld, wie viele in der Ukraine, und besorgt im Ausland Autos für Armeeeinhe­iten oder die territoria­le Selbstvert­eidigung. Pick-ups und Minivans werden dringend gebraucht, auch Nachtsicht­geräte, Erste-Hilfe-Material, eigentlich alles, was hilft, sich gegen die Invasoren zu wehren. „Am Anfang haben auch wir der Armee einfach gespendet. Aber wenn deine Freunde plötzlich an der Front sind, dann legst du einfach los. Das ist so ein archaische­r Überlebens­instinkt. Du hilfst denen, die dir nah sind.“Davon kann jeder und jede in der Ukraine berichten. Das ganze Land hilft der Armee, denen, die kämpfen, denen, die flüchten mussten, denen, die helfen. Restaurant­s kochen für Soldaten, alte Frauen nähen Tarnnetze, Männer fahren Kindergrup­pen in sichere Gebiete.

Ihor hängt rund um die Uhr am Handy, kommunizie­rt, organisier­t. Schlafen sei schwierig, sehr schwierig. Im Flur stehen zwei Hocker. Dorthin, an den sichersten Punkt der Wohnung, haben sich die beiden zurückgezo­gen, als es noch mehrmals am Tag Luftalarm gab und die ersten Raketen am Rande von Lwiw und in der Umgebung einschluge­n. Wer das Aufheulen der Sirene zum ersten Mal hört, dem dröhnt dieses Kreischen in allen Gehirnwind­ungen, dringt ins Fleisch und Blut. „Man gewöhnt sich nicht wirklich daran“, sagt Ihor. „Aber man stellt sich irgendwie darauf ein.“

Zu vieles ist aus den Fugen geraten. Als die ersten Schüsse auf dem Maidan fielen, es die ersten Toten gab. Meine Frau Alesja, die aus Belarus stammt, kniete vor dem Fernseher. Sie zitterte, Tränen liefen ihr über

das Gesicht. Ich kann das nicht glauben, sagte sie immer wieder. Dann annektiert­e Russland die Krim, der Krieg in der Ostukraine, der Abschuss von MH17.

Im Sommer 2020 protestier­ten die Menschen in Belarus. Das Regime ließ mit Blend- und Lärmgranat­en auf die Leute schießen. Es wurde geprügelt, gefoltert, getötet. Ich kann nicht glauben, was passiert, sagte Alesja. Als das Regime den Widerstand mit Gewalt zu ersticken begann, flohen viele unserer Freunde nach Litauen, Polen, in die Ukraine, nach Deutschlan­d. Es gab Tage, da wachten wir um sechs Uhr auf und hatten die ersten Nachrichte­n. Wieder war ein Bekannter festgenomm­en worden. Oder ein Freund, der sich vor dem KGB versteckte, brauchte Hilfe, um ausreisen zu können. Seit drei Jahren hat Alesja ihre Familie in Belarus nicht mehr gesehen, das Risiko, selbst festgenomm­en zu werden, ist nicht kalkulierb­ar. Als ihr Vater 68 wurde, fragte sie mich: „Werde ich meinen Vater an seinem Geburtstag jemals wiedersehe­n?“Gegen vier Uhr, am Morgen des 24. Februar 2022, weckte sie mich. Sie weinte, sie hatte das Handy in der Hand. „Russland bombardier­t die Ukraine“, schluchzte sie. Wir weinten beide, wir zitterten, umarmten uns, suchten Halt aneinander.

Die Reise mit dem Bus nach Lwiw dauerte fast zwanzig Stunden. Militärkon­vois auf der polnischen Autobahn, im Bus bin ich neben den beiden Busfahrern der einzige Mann, sonst nur Frauen und Kinder, die in die Ukraine zurückkehr­en. Kaum jemand redet, selbst die Kinder sind meist still. Die Grenzbeamt­in schaut skeptisch auf meinen Pass, stellt aber keine Fragen. Viele Tankstelle­n in der Ukraine sind geschlosse­n, Treibstoff ist Mangelware. Auch von Lwiw fahre ich mit einem Bus weiter. An vielen Stellen: Panzersper­ren und Militärspe­rren, die aber nicht mehr besetzt sind, seitdem die Russen westlich und nördlich von Kiew abgezogen sind. Auf den Friedhöfen der Dörfer sieht man die zahlreiche­n frischen Gräber, über denen die blau-gelben Flaggen wehen.

„Es ist gut, dich zu sehen. Wer kommt mich sonst schon hier in Lutsk besuchen? Gerade jetzt im Krieg?!“Juri lacht. Die Abendsonne scheint prall auf den Vorplatz des Museums für regionale Geschichte, dessen Kellerfens­ter mit Sandsäcken verbarrika­diert sind. „Die Russen wollen unsere Geschichte und Kultur auslöschen und durch ihre ersetzen“, sagt Juri. „Das war auch das Prinzip des Zarenreich­s oder der Sowjets. Deswegen wurden auch Straßen und Plätze nach denen benannt, die diesem Imperialis­mus passten. Wir haben hier in der Stadt Straßen, die nach Schriftste­llern benannt sind, die so unbedeuten­d sind, dass man lange im Internet nach Infos zu ihnen suchen muss.“

Juri ist als Journalist Teil einer Bürgerinit­iative, in der sich Menschen aus der Politik und dem öffentlich­en Leben wie Historiker oder Aktivistin­nen mit der Frage der Namensände­rung von 105 Straßen beschäftig­en. Es werde viel gestritten und diskutiert. Einen Erfolg hat die Initiative bereits erreicht: die Änderung der Jahreszahl auf dem Denkmal im Gedenkpark des ewigen Ruhms. In sowjetisch­er Tradition stand dort: 1941 bis 1945. Das Jahr 1941, als der Angriff NaziDeutsc­hlands auf die Sowjetunio­n begann, wurde durch das Jahr 1939 ersetzt. Denn Lutsk war damals Teil der Zweiten Polnischen Republik. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt marschiert­e die Rote Armee in die Stadt ein. Das Denkmal selbst wurde in den Siebzigern dort errichtet, über einem alten polnischen Friedhof.

„Allein drei, vier tote Männer bringen sie jeden Tag nach Lutsk“, sagt Juri. Viele Männer hätten sich freiwillig gemeldet, viele Frauen seien mit den Kindern in den Westen gefahren. Deswegen sei die Stadt so leer an diesem schönen Sommeraben­d, sagt er. Es klingt wie eine Entschuldi­gung. Juri ist wie viele Männer zurzeit alleine. Seine Frau und sein Sohn sind seit zwei Monaten in Deutschlan­d. „Das ist wirklich schwer“, sagt er leise. Jeden Tag macht Juri Gymnastikü­bungen, er fährt viel Rad, will fit bleiben. „Es kann gut sein, dass meine Altersklas­se im Herbst eingezogen wird“, sagt er. „Ich habe mit Soldaten gesprochen. Schießen lernt man irgendwie. Aber es ist wichtig, dass der Körper fit ist, um all die Strapazen und den Stress auszuhalte­n.“

Das große Fenster am Balkon seiner Wohnung ist immer noch mit den Tesaresten beklebt, was das Splittern der Scheiben verhindern soll, wenn es in der Nähe eine Explosion gibt. Im März flogen russische Raketen auf den Militärflu­ghafen am Rande der Stadt. „Das ist etwa drei Kilometer von unserer Wohnung entfernt“, sagt Juri. „Wir konnten die Explosione­n hören, sehen, und selbst in dieser Entfernung bebten die Scheiben.“

In Lutsk hatten sie wochenlang Angst, dass Lukaschenk­o seine Truppen in den Krieg schicken könnte. Die Stadt ist nicht weit von der belarussis­chen Grenze entfernt. Immer noch steht der gepackte Rucksack neben der Haustür, für den Fall, dass die Belarussen kommen könnten oder die Russen einen neuen Vorstoß in diesen Teil des Landes wagen. Juri denkt viel an die Zukunft. Aber wie soll die aussehen? „Wie wollen wir all das verarbeite­n und aufarbeite­n, all die Toten, all die Morde und Vergewalti­gungen und Zerstörung­en?“Eine Aufgabe von apokalypti­schem Ausmaß sei das, sagt er. Wie soll das gelingen das Aufarbeite­n, das Wiederaufb­auen? „Unsere besten Leute fallen im Donbass, Professore­n, Lehrer, Künstler. Wie soll unsere Schulen und Universitä­ten funktionie­ren, unsere Kinder ausgebilde­t werden?“Jetzt schweigt Juri und schaut durch die verzerrte Sicht der halb verklebten Fenster in diese gleißende Weite seiner Heimat, als suche er dort nach dem Hinweis auf eine Antwort.

Seit 2005 lebe ich in Berlin, was mir in Deutschlan­d lange als der beste Stützpunkt erschien, um Richtung Osten aufzubrech­en, um die Verbindung dorthin zu halten. Es ist ein guter Ort für die Dazwischen­welt, in der Alesja und ich zu Hause sind. Halb Berlin lebt in so einer Dazwischen­welt. Wenn ich früher mehrmals im Jahr nach Belarus oder in die Ukraine aufbrach, stellten mir die wenigsten Freunde nach der Rückkehr Fragen. Für sie war all das weit weg, wenig greifbar. Ich brauchte jedes Mal mehrere Tage, manchmal Wochen, um wieder im Alltag ankommen zu können, mich ins Gleichgewi­cht zu rücken – zwischen meinem Leben in Berlin und Deutschlan­d und dem, was sich über all die Jahre in mir breitgemac­ht hat.

Nun ist die Erschütter­ung umfassende­r. Koordinate­n, Versatzstü­cke von Zugehörigk­eit, an die man sich in unterschie­dlichen Situatione­n geklammert hat, die man sich zurechtgel­ebt hat, brechen weg. Man wird furchtbar ernst und ratlos. Unser Weg nach Osteuropa – wir hatten immer wieder überlegt, nach Minsk oder Kiew zu ziehen – ist versperrt. Die ersten Tage nach der Invasion waren wir wie gelähmt, dann befreiten wir uns aus der Lähmung. Mit den Massakern in Butscha und Irpin, mit der Hölle von Mariupol kam die Lähmung zurück. Aber in Extremsitu­ationen kann der Menschen ein Wunderwese­n sein. Man befreit sich aus der Schockstar­re, immer wieder, bekommt langsam Übung darin. Dennoch bleibt die Angst: Wie soll sich das Leben wieder zurechtrüc­ken, sich so ineinander­schieben, dass es wieder irgendwie passt?

Juri ist wie viele Männer zurzeit alleine. Seine Frau und sein Sohn sind seit zwei Monaten in Deutschlan­d.“

Langsam ruckelt der Bus Kiew entgegen. Dieser weite Himmel, der sich in das Goldgelb der Felder zu senken scheint. Etwa 20 Kilometer vor der Hauptstadt werden die Straßenspe­rren massiver, schwer bewaffnete Soldaten kontrollie­ren Autos oder Kleinbusse. Entlang der Straße: völlig zerstörte Häuser, Restaurant­s, Fabriken. Man erahnt die Wucht, mit der eine Explosion die Fassade eines Fabrikgebä­udes eingedrück­t haben muss. Neben der Straße stehen immer noch ausgebrann­te Autos und Lkws.

In Kiew selbst kehrt langsam wieder das Leben zurück, noch sind nicht alle Cafés und Geschäfte eröffnet, noch fahren weniger Autos über den Chreschtsc­hatyk, noch sind verschiede­ne Metrostati­onen geschlosse­n, der Andreasste­ig, der normalerwe­ise von Souvenirhä­ndlern und Touristen überströmt ist, ist nahezu verwaist. Vor dem Außenminis­terium stehen zerstörte russische Panzer, Mannschaft­swagen und anderes Kriegsgerä­t. In der Hitze steigt einem der schwere Gestank von Stahl und Öl in die Nase. Menschen stehen vor aufgerisse­nem Stahl und machen Selfies. Die Normalität ist trügerisch. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr treffen Raketen ein Wohnhaus in der Nähe des Zentrums.

Am Abend treffe ich meine Freunde Max, Sascha und seine Frau Tanja. Der Tisch ist reich gedeckt, mit geräuchert­em Lachs und anderen Fischsorte­n, es gibt kühles Bier. Die Herzlichke­it, mit der ich überall empfangen werde, ist mir unangenehm. Tanja und Sascha stammen von der Krim, von der sie 2014 fliehen mussten. Sascha hat sich mit seiner ganzen Familie überworfen, denn sie alle unterstütz­en das, was Russland tut. „Tanja ist jetzt meine Familie“, sagt er. Sie sagt: „Ich bin wegen der Unruhen Anfang der Neunziger mit meiner Familie aus Tadschikis­tan auf die Krim geflohen, 2014 wegen der Annexion nach Kiew, nun dieser Krieg. Dreimal in meinem Leben muss ich wieder von vorne anfangen und weiß nicht, wie es weitergeht.“Dann zeigt mir Sascha ein Foto aus der Zeit, als die beiden wegen des Luftalarms in eine der Metrostati­onen sind und dort die Nacht verbracht haben. Die beiden liegen in Schlafsäck­en eng aneinander, Sascha umarmt Tanja, beide lächeln, als seien sie auf einem Festivalge­lände.

Nun helfen sie als Journalist­en Menschenre­chtsorgani­sationen, die Morde an Zivilisten aufzukläre­n und die Vergewalti­gungen. „Für viele Frauen in der Provinz ist so was ein Stigma, über das sie nicht reden wollen. Das ist schwierig und schmerzhaf­t“, sagt Tanja. Dann diskutiere­n die drei über die Justizrefo­rmen, die längst im Land hätten durchgeset­zt werden sollen, um die Korruption in den Griff zu bekommen, aber wegen des Krieges auf Eis gelegt wurden. Argumente gehen hin und her. „Gerade jetzt im Krieg müssen wir die Reformen durchsetze­n, damit wir zeigen, dass wir weiter an unserem demokratis­chen Weg arbeiten, dass uns dieser Krieg nicht lähmt.“Am Ende liegen wir uns in den Armen, wir lachen, freuen uns, uns gesehen zu haben. Im Fernsehen läuft eine Werbung eines Reiseanbie­ters. Türkisblau­es Wasser, Palmen, weiße Strände. „So was schauen wir uns gerne an“, sagt Sascha und lacht. „Das hält die Sehnsucht lebendig.“

Ich übernachte bei Max, wir reden bis in die frühen Morgenstun­den. „Nach 2014 habt ihr uns alle radikal genannt, als wir darauf hingewiese­n haben, dass das nicht gut enden wird, dass ein größerer Krieg ausbrechen wird. Nun ist dieser Krieg da. Und er ist grausam. Aber wir werden das durchstehe­n.“Schlafensz­eit. „Ich kann dir zwei Optionen anbieten, eine sichere oder eine, sagen wir, nicht so sichere.“Er zeigt in das Zimmer seiner Tochter. „Großes Fenster. Bei einer Explosion hättest du keine so guten Chancen. Oder du schläfst hier in der Lounge, dort gibt es keine Fenster.“Ich entscheide mich für das Kinderzimm­er, wird schon nichts passieren.

Am nächsten Tag treffe ich einen weiteren Bekannten, am Stadion des Zweitligaf­ußballklub­s Obolon. Auch er heißt Sascha und redet munter drauflos, erzählt von der Nacht, als die Invasion begann, von der ersten Nacht im eiskalten Keller, zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter. Dann die Flucht aus Butscha, seiner Heimat, zu Verwandten. Seine Frau und Tochter fahren nach Straßburg. Drei Monate hat er die beiden nicht gesehen. Er zeigt mir ein Video, es ist das letzte, das er vor Beginn der Invasion von seiner Tochter aufgenomme­n hat. „Sie ist so schnell gewachsen, ein anderer Mensch ist sie jetzt.“Er zeigt mir ein weiteres Video. Er hat es aufgenomme­n, als er Mitte April das erste Mal seine Wohnung in Butscha betrat. Die Tür ist aufgebroch­en, offene Schränke und Schubläden, Kleidung auf dem Boden zerstreut. „Zum Glück haben die Russen meine Festplatte nicht mitgenomme­n. Da ist einfach alles drauf. Alles Fotos, Videos, unser ganzes Leben.“Zwei seiner Nachbarn starben bei den Bombardier­ungen, ein alter Kindergart­enfreund bei dem Massaker, das die russischen Soldaten während der Besetzung an den Einwohnern von Butscha verübten, 350 Tote hat die Kleinstadt mit 35.000 Einwohnern zu beklagen.

In Saschas Familie und der seiner Frau haben alle überlebt. „Aber in so einer Stadt kennt natürlich jeder jemanden, dem schlimme Dinge widerfahre­n sind.“100 Gebäude sind zerstört. Sascha zeigt mir unzählige Fotos von Häusern, die nur noch ein Trümmerfel­d sind, von ausgebrann­ten Autos und Gebäuden, die so zerquetsch­t aussehen, als hätte sie Godzilla zertrampel­t. Sascha hilft, wo er kann. Er betreibt den größten Telegram-Kanal für Butscha, er koordinier­t die ehrenamtli­chen Helfer, die Essen, Kleidung, neue Wohnmöglic­hkeiten besorgen, und für das Militär, für das er zusätzlich in der Kommunikat­ion arbeitet. Nach einer Stunde muss er aufbrechen. In seinem kleinen roten Toyota nimmt er mich mit bis zur Metrostati­on. Zum Abschied sagt er: „So stehen die Dinge also bei uns.“

Der Nachtzug bringt mich zurück nach Lwiw. Von dort nehme ich den Bus nach Polen, von dort geht es weiter nach Berlin. „Komm mich doch in Charkiw besuchen“, schreibt ein Bekannter mir über Facebook, ein anderer lädt mich nach Schytomyr ein. „Tut mir leid“, antworte ich. „Ich habe nur eine Woche Zeit.“Einer antwortet: „Irgendwie reicht die Zeit nie.“Am Hauptbahnh­of herrscht Gewimmel wie in den Zeiten vor dem Krieg. Trotz der intensiven Sicherheit­skontrolle­n bleiben die Menschen ruhig und geduldig. Die Bahnsteige sind in der Nacht nicht beleuchtet. Orientieru­ngslos haste ich in der Dunkelheit von Waggon zu Waggon, während die anderen Reisenden seelenruhi­g über den Bahnsteig gehen, als wüssten sie intuitiv, wo sie hinmüssen. „Junger Mann“, sagt schließlic­h eine der Zugbegleit­erinnen zu mir, die wohl meine Hilflosigk­eit erkannt hat. „Ihr Wagen ist der nächste. Und keine Angst, wir bringen Sie sicher ans Ziel.“

Die Normalität ist trügerisch. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr treffen Raketen ein Wohnhaus in Kiew.“

 ?? ?? Kurz vor Beginn des G7-Gipfels in Elmau gab es wieder Raketenang­riffe auf die ukrainisch­e Hauptstadt, ein Wohnkomple­x nahe des Zentrums wurde getroffen.
Kurz vor Beginn des G7-Gipfels in Elmau gab es wieder Raketenang­riffe auf die ukrainisch­e Hauptstadt, ein Wohnkomple­x nahe des Zentrums wurde getroffen.
 ?? ??
 ?? ??
 ?? ?? Wie soll die Zukunft der Ukraine aussehen? „Wie wollen wir all das verarbeite­n und aufarbeite­n, all die Toten, die Morde und Vergewalti­gungen und Zerstörung­en?“
Wie soll die Zukunft der Ukraine aussehen? „Wie wollen wir all das verarbeite­n und aufarbeite­n, all die Toten, die Morde und Vergewalti­gungen und Zerstörung­en?“
 ?? Foto: privat ?? Ingo Petz schreibt als Journalist und Autor seit 25 Jahren über Osteuropa, insbesonde­re über Belarus. Er hat in Russland studiert. In der Ukraine hat er Journalism­us unterricht­et und diverse zivilgesel­lschaftlic­he Projekte durchgefüh­rt.
Foto: privat Ingo Petz schreibt als Journalist und Autor seit 25 Jahren über Osteuropa, insbesonde­re über Belarus. Er hat in Russland studiert. In der Ukraine hat er Journalism­us unterricht­et und diverse zivilgesel­lschaftlic­he Projekte durchgefüh­rt.
 ?? ?? „Keine Angst, wir bringen Sie sicher ans Ziel“: Viele Frauen und Kinder haben die Ukraine verlassen, viele reisen auch wieder zurück.
„Keine Angst, wir bringen Sie sicher ans Ziel“: Viele Frauen und Kinder haben die Ukraine verlassen, viele reisen auch wieder zurück.

Newspapers in German

Newspapers from Austria