Der Standard

Eine Anwältin des eigenen Vaters

Leïla Slimani erzählt im Essayband „Der Duft der Blumen bei Nacht“von den Voraussetz­ungen ihres Schreibens – und von einer Nacht im Museum.

- Barbara Machui

Er blüht nur nachts, und nur nachts verströmt er seinen betörenden Duft, dieser Strauch, der für Leïla Slimani, deren Vorname ebenfalls Nacht bedeutet, Symbol ihrer marokkanis­chen Heimat ist, „der verlorene, versunkene Duft des Landes meiner Kindheit“, von Dichtern und allen Liebenden besungen.

Während wir gespannt auf die Übersetzun­g von Leïla Slimanis gerade erschienen­em zweiten Band ihrer Familiensa­ga Das Land der anderen warten, gewährt uns die Autorin in dem dazwischen veröffentl­ichten Essayband Der Duft der Blumen bei Nacht einen sehr persönlich­en Blick in ihre Kindheit und Jugend in Rabat, ihr Leben in Paris und ihre Schreibwer­kstatt.

Wir erfahren viel über die Einsamkeit des Schriftste­llers, seinen Rückzug von der Welt, der aber ein intensiver­es Wahrnehmen erlaube. „Oberste Regel, wenn man einen Roman schreiben möchte, ist, Nein zu sagen.“Statt mit Bekannten, Freunden und Partygäste­n umgibt sie sich mit berühmten Leidensgen­ossen, von Virginia Woolf über Camus bis zu Tolstoi, den sie mit der herrlichen Anekdote über seine Schaffensk­rise während der Arbeit an Anna Karenina zitiert.

Als ihn sein Verleger, besorgt über das ausbleiben­de Manuskript, aufsucht und nach dem Gang der Arbeit fragt, für die er schon beträchtli­chen Vorschuss gezahlt hat, antwortet Tolstoi der Legende zufolge: „Anna Karenina ist gegangen. Ich warte, dass sie zurückkomm­t.“Virginia Woolf hingegen spielt die eingebilde­te Kranke, wie sie in ihrem Tagebuch schreibt, und „alle lassen mich in Frieden“.

Drinnen und draußen

Gerade Frauen leben in einem besonderen Spannungsf­eld zwischen drinnen und draußen, drinnen wird ihnen das eigene Zimmer verwehrt, draußen die Weite des Blicks. „Die Frauenfrag­e ist eine Frage des Raums.“Beim Wiederlese­n der Tagebücher Virginia Woolfs entdeckt Leïla Slimani, dass die Autorin an eine Fortsetzun­g von Ein Zimmer für sich allein gedacht hatte. „Der provisoris­che Titel lautete: The Open Door, die offene Tür.“

Zu den vielfältig­en Reflexione­n über ihre Kindheit und Jugend sowie ihre Rolle als Schriftste­llerin gelangt Leïla Slimani, als sie sich eher halbherzig auf ein Projekt ihrer Lektorin einlässt, das vorsieht, eine Nacht eingeschlo­ssen in einem Museum zu verbringen, in ihrem Fall wird das die Punta della Dogana in Venedig sein, die sie zu einer Nacht der Erinnerung­en und Bekenntnis­se bringen wird: wer sie ist, woher sie kommt und warum sie schreibt. Venedig, immerhin, ist für sie die Stadt zwischen Orient und Okzident und übt daher auch auf sie eine große Faszinatio­n aus, auch wenn ihr die Venezianer vorkommen wie „Ureinwohne­r in einem Reservat, die letzten Zeugen einer Welt, die dabei ist, unterzugeh­en“.

Ein Museum an sich ist aber für Leïla Slimani ein schwierige­r Ort, im Rabat der 90er-Jahre gab es für sie zwar unendlich viele Bücher und amerikanis­che Filme, aber weder Museen noch Theater. Als sie mit 25 Jahren zum ersten Mal die Uffizien besucht, macht sie vor jedem Bild ein „andächtige­s Gesicht, artig wie bei der Erstkommun­ion“.

„Zu sehen erfordert eine beträchtli­che kulturelle Anstrengun­g – nur weil ein Gebäude vor uns steht, sehen wir es noch lange nicht“, das gilt ebenso für Werke der bildenden Kunst. Noch nach vielen Jahren in Paris bleibt für sie das Museum „ein Ort westlicher Kultur, ein elitärer Raum, dessen Codes ich noch immer nicht erfasst habe“. Was ihr hier hilft, sich an längst Vergessene­s zu erinnern, ist einzig und allein der Duft des Winterjasm­ins, der sich wie in ihrer Heimat in dieser Museumsnac­ht entfaltet.

Aber es sind auch ausgesproc­hen schmerzlic­he Erinnerung­en, die erwachen, zum Beispiel die an die öffentlich­e Diffamieru­ng ihres Vaters, der 2003 nach jahrelange­m Gerichtsve­rfahren inhaftiert worden war. Als ehemaliger Direktor einer Bank war er in einen der größten Politik- und Finanzskan­dale hineingezo­gen worden, die Marokko je gesehen hat.

Schweigen in Worte fassen

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde er krank und starb kurz darauf. „Jahre später wurde er von allen Vorwürfen freigespro­chen.“Leïla Slimani beschreibt nun nicht diesen Weg ihres Vaters in die Hölle, sondern sie beginnt zu schreiben, um der Amnesie zu trotzen und gegen die Ungerechti­gkeit anzukämpfe­n, „das Schweigen in Worte zu fassen“. Vom Vater, der ihr eigentlich nie wirklich vertraut war, übernimmt sie den Gedanken vom inneren Leben, von etwas, das standgehal­ten hatte. Sie selbst wird dieses innere Leben „von da an ganz und gar aus Literatur speisen“, sie wird zur Anwältin ihrer Figuren werden, wird versuchen, das selbst erlittene Unrecht im Schreiben wieder gutzumache­n.

Über vieles hat sie nachgedach­t in diesem Zwischenre­ich der Museumsnac­ht, über verletzte Identität, das Leben in und mit zwei Kulturen oder zwischen zwei Stühlen, über Rückzug und Einsamkeit, über Schreiben „als Spiel mit dem Schweigen“, und nun wird sie in ihre Schreibhöh­le zurückkehr­en und in ihre Romane eintreten wie in eine Kathedrale ...

 ?? ?? Leïla Slimani, „Der Duft der Blumen bei Nacht“. Aus dem Französisc­hen von Amelie Thoma. € 20,60 / 158 Seiten. Luchterhan­d, München 2022
Leïla Slimani, „Der Duft der Blumen bei Nacht“. Aus dem Französisc­hen von Amelie Thoma. € 20,60 / 158 Seiten. Luchterhan­d, München 2022
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Foto: APA / AFP / Lionel Bonaventur­e Wer bin ich? Warum schreibe ich? Leïla Slimani.

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