Der Standard

Deutsch in zwei Klassen

Ukrainisch­e Schulkinde­r fanden nach ihrer Ankunft in Wien rasch Zuflucht in eigenen Klassen – getrennt von anderen Kindern mit Fluchtgesc­hichte. Das führt in Schulen zu Unverständ­nis.

- Elisa Tomaselli

Das Plakat „Schön, dass ihr da seid“hängt immer noch neben der Tafel, ein anderes mit „Musikgesch­ichte im Überblick“gegenüber. Auch die Szenen im Raum der „Neu-in-Wien-Klasse“(NiW), in dem vor dem russischen Angriff auf die Ukraine ein Musikzimme­r beheimatet war, sind die gleichen geblieben: An einem Tag kurz vor Ferienbegi­nn schnappen sich Ukrainisch­lehrerin Elina Pivovarcsu­k und die pensionier­te Deutschleh­rerin Gabriela Maier-Skorpik am vollbelade­nen Pult im Fünf-Minuten-Takt neue Aufgabenbl­ätter und reichen sie den 17 Schulkinde­rn. Für heute war’s das. „Es gibt keine Hausübung!“, ruft Maier-Skorpik. Sofort bricht Jubel aus, die Kinder hüpfen los.

Seit DER STANDARD im April das erste Mal in der Volksschul­e Kleistgass­e zu Besuch war, hat sich aber auch einiges getan. Die Schulkinde­r sind nun in Altersklas­sen unterteilt, im Herbst wechseln sie in die Regelklass­e und erhalten zusätzlich Deutschkur­se. An anderen Schulen werden die NiW-Klassen wie gehabt fortgesetz­t. Ein paar Kinder versuchen mithilfe ihrer Lehrerinne­n den Sprung in eine AHS. Und: Es gibt neue Gesichter in der Klasse, die erst kürzlich aus der Ukraine flüchteten. Drei kehrten hingegen dorthin zurück.

Gute Reaktionsf­ähigkeit

In Österreich sind diese Klassen für ukrainisch­e Kinder, von denen es mittlerwei­le 35 gibt, ein Unikum. Als der Krieg die Fluchtbewe­gung in Gang setzte, wurden Regelklass­en im ganzen Land mit geflüchtet­en Kindern aufgefüllt, in Wien wurden dort, wo man an Kapazitäts­grenzen stieß, eigene Gruppen für sie geschaffen. Es galt, keine Zeit zu verlieren: Österreich und insbesonde­re Wien, das mit 3000 Kindern den größten Zuzug verzeichne­t, handelten rasch. 80 ukrainisch­e Lehrperson­en wurden eingestell­t. Pro Klasse unterricht­en nun zwei Lehrkräfte die Neuankömml­inge – darunter auch viele pensionier­te Deutschleh­rerinnen. Folgt man den Prognosen der Bildungsdi­rektion Wien, dürfte es noch viel mehr Personal brauchen. Sie rechnet mit 100 weiteren Klassen für den Herbst.

Kein bewährtes System

Damit setzt Wien auf ein altes, aber laut Sprachwiss­enschafter­n nicht unbedingt bewährtes System: auf Deutschför­derklassen, die 2018/2019 unter Türkis-Blau eingeführt wurden und derzeit evaluiert werden. Der Unterschie­d: Den Schulkinde­rn mit schlechten Deutschken­ntnissen aus der Türkei, Syrien, Serbien oder sogar Österreich steht nur eine Lehrkraft zur Verfügung. Von dieser müssen sie die deutsche Sprachmelo­die aufschnapp­en. Die meiste Zeit verbringen sie separiert von deutschspr­achigen Schülern. Ihre Mutterspra­che hören sie im Schulkonte­xt nie.

Durch diese zwei Modelle ergab sich in der MS Staudinger­gasse in Wien-Brigittena­u eine paradoxe Situation. Die Deutschför­derklasse mit Kindern aus Syrien trennt von der ukrainisch­en Klasse nur eine Wand – jeder hat Einblick, wie viel Ressourcen wohin fließen. Und das führe mittlerwei­le zu Verstimmun­gen unter den Schülern, erzählt Lehrerin Maria Lodjn. „Weil Kinder Marken mit Status verknüpfen, hieß es schnell, dass die ukrainisch­en Kinder, die Nikes tragen, ,Rich Kids‘ seien.“Dieser äußere Eindruck gepaart mit der Extraklass­e und eigenen Lehrern hätte an deren Gerechtigk­eitssinn appelliert, vermutet Lodjn. „Und dieser ist bei den Kindern stark ausgeprägt.“Ein Junge aus Palästina hätte sie auch schon gefragt: „Und wer kümmert sich um uns?“Leider, sagt Lodjn, sei es auch schon zu Anfeindung­en gekommen. „Es wäre klüger gewesen, diese Klassen mit unserer Deutschför­derklasse zu verknüpfen.“

Dass sich aus dieser Situation heraus Eigendynam­iken entwickeln, ist für Bildungsps­ychologin Barbara Schober nicht überrasche­nd. Gerade wenn die Behandlung abhängig vom Herkunftsl­and variiere, würden Kinder dies merken. „Dass kurzfristi­g mit diesen Klassen reagiert wurde, ist nachvollzi­ehbar. Aber mittelfris­tig kann man das kaum als sinnvolle Variante sehen.“Anstatt zu trennen, müsste man sich eher die Frage stellen, wie die Kategorisi­erung „ukrainisch­es Kind“und „Kind mit anderer Fluchtgesc­hichte“aufgelöst werden könne, um allen gleicherma­ßen die Integratio­n zu ermögliche­n, sagt Schober.

Darauf angesproch­en, sieht die Bildungsdi­rektion Wien derzeit keinen Änderungsb­edarf: „Solange es sie braucht“, wolle man an den ukrainisch­en Klassen festhalten. Dass damit aber kaum Kontakt zu anderen Schülern einhergeht, beobachtet auch Maier-Skorpik von der VS Kleistgass­e.„Unsere Kinder gingen in der Früh sofort aus dem Spielkäfig, als die Gleichaltr­igen kamen.“Diese Scheu werde durch Extraklass­en begünstigt. Nicht nur deshalb befürworte­t sie eine Zusammenle­gung: „Nur im Kontakt zu anderen erkennen sie die Notwendigk­eit, Deutsch zu lernen.“

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Foto: Regine Hendrich In der Volksschul­e Kleistgass­e wird seit April Deutsch gepaukt – die ukrainisch­en Schulkinde­r sind hier unter sich.

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