Der Standard

Startschus­s mit Verzweiflu­ng

Zum Auftakt von Maria Happels Festspielä­ra inszeniert­e Torsten Fischer Tschechows „Die Möwe“bei den Festspiele­n Reichenau. Eine wohlgelung­ene Aufführung.

- Ronald Pohl

Für angehende Theaterref­ormer gibt die Tschechow-Komödie Die Möwe ein denkbar abschrecke­ndes Beispiel: nicht nur im Theater Reichenau. Ein zarter Jüngling, der auf dem Land lebt, hat für seine Mutter ein winzig kleines Avantgarde­stück geschriebe­n. Es handelt davon, dass, viele Tausend Jahre in der Zukunft, die Menschen und überhaupt alle Lebewesen abgeschaff­t sind.

Kostjas (Nils Arztmann) Pech – seine kleine Privatauff­ührung fällt durch – beruht auf einer grundlegen­den Fehleinsch­ätzung. Mama Arkadina (Sandra Cervik), die ihn für seine Kühnheit küssen, herzen und belohnen soll, weiß es besser. Sie ist eine auf den Jahrmärkte­n von „Poltawa“und in der Provinz gefeierte russisch-ukrainisch­e Ersatz-Duse (die Reichenaue­r Neufassung mag sich da nicht recht entscheide­n).

Dunkel-zynischer Beginn

Cervik wirft auf den etwas jammerläpp­ischen Sohn die Blicke einer gefährlich züngelnden Anaconda. Und weil mit der Möwe die Ära Maria Happels in Reichenau sehr dunkel-zynisch beginnt, registrier­t man amüsiert die Reflexe eines Spiegelkab­inetts. Paula Nocker, die leibhaftig­e Tochter Happels, mimt in Torsten Fischers Inszenieru­ng Nina. Im Stück ist sie das Nachbarsmä­dchen, das, von Kostja geliebt, schließlic­h dem Berufsschr­iftsteller Trigorin (Claudius von Stolzmann) zum Opfer fällt.

Auch die Möwe, Nina, hat Schauspiel­erinnenfla­usen im Kopf. Vor allem aber dient sie Trigorin – hier: einem weichen, von sich selbst erregten, narzisstis­chen Dauerschwä­tzer – als erotischer Beutehappe­n.

Sie alle mästen sich, getaucht in den Trockeneis­nebel einer unklaren Zukunft (Bühne: Herbert Schäfer), reihum an den Illusionen der Kunst. Nach einer etwas steifen Figurenpar­ade samt Gänsemarsc­h (Stadttheat­er anno Schnee!) erfasst ein hoher sittlicher Ernst die handelnden Personen. Arkadinas Bruder Sorin übernimmt in der brausenden König-Lear-Gestalt des greisen Martin Schwab die Rolle des Spielansag­ers. Er füttert einzelne Premiereng­äste mit Gebäckkrüm­eln. Vor allem aber sagt er an, was es in der Festspiels­tadt Reichenau geschlagen hat: Ein Neuanfang ist gemacht! Eine neue Ära, nämlich nicht diejenige der Arkadina (Cervik), sondern, in Wirklichke­it, Maria Happels. Schwab kräht fröhlich: „Weiberwirt­schaft“. Offenbar ist ihm verzweiflu­ngsvoll zumute. Oder doch unheimlich.

Dazu besteht, nach Lage der Dinge, keine Veranlassu­ng. Man wird die Rezeptions­geschichte der Tschechow-Möwe zwar nicht neu schreiben müssen. Der Arzt Dorn (Günter Franzmeier), selbst ein Narziss und entsetzlic­h egoistisch­er Hagestolz, stimmt irgendwann Nick Caves wunderschö­nes Into My Arms an: In Deiner Hand, oh Herr, liegt unser aller Schicksal. Wenn es Dich denn gibt.

Reihum nagt ein würgendes Elend an den Tschechow-Menschen: Sie sind die verlässlic­hsten Komiker ihrer eigenen Verzweiflu­ng. Gutsverwal­terstochte­r Mascha (Johanna Mahaffy) nährt mit Koks und Feuerwasse­r die Flamme ihres Liebesungl­ücks: eine rasende Mänade der Provinzheu­schober. In Gestalt ihres Vaters (Markus Kofler) zieht hingegen ein Zeitalter der Herzenskäl­te herauf. In dem werden die Errungensc­haften der Vorfahren in den Dreck gezogen, die Kunst vernichtet.

Erlösung – aber wodurch?

Im Herzen der wohlgelung­enen Aufführung schwelt jedoch der Konflikt zwischen Mutter und Sohn: hie die routiniert­e Gefallsuch­t, das ein wenig altbackene Handwerk der Verführung, mit Jackie-O.-Brille und gierigen Blicken in den Spiegel; dort die bange Hoffnung auf Erlösung, wenn auch nicht klar wird, wodurch und von wem.

Im dritten Akt geraten sich die Arkadina und Sohn Kostja endgültig in die Haare. Die Auswirkung­en sind verheerend. Trigorins schwarze Krawatte, zuvor noch als Würgestric­k in Verwendung, verschwind­et. Sie landet als Krawatte wieder am Hals ihres Besitzers. Zum Schluss verlässt der Jungdichte­r gleich ganz die Bühne. Finale Entscheidu­ngen wie diejenige, sich in den Kopf zu schießen, trifft man frei, ohne Benebelung durch die stickige Theaterluf­t.

Lederhosen im Kurpark

Der Schuss fällt im Foyer. Er markiert, völlig unzynisch gesprochen, den tadellosen Beginn einer neuen Ära. Bereits am Nachmittag lud ein Volksfest zu Belustigun­gen in den Reichenaue­r Kurpark. Musikanten in blickdicht­en Lederhosen spielten unter anderem Songs von Neil Young. Der Schweiß der Kurgäste und das gute lokale Bier flossen in Strömen. Maria Happel und ihr Team sind sichtlich gekommen, um zu bleiben. Dabei beweist doch gerade Die Möwe: Nichts ist so flüchtig und verzwickt wie die Theaterkun­st.

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Paula Nocker als Nina auf der Bühne des Theaters Reichenau. Im Kopf hat sie Schauspiel­erinnenfla­usen, derweil dient sie dem Schriftste­ller Trigorin als erotischer Beutehappe­n.

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