Der Standard

„Nur Ruhe!“mit Krieg, Inflation, Pandemie bei Nestroy-Spielen

- Andrea Heinz

Nach 50 Jahren gibt Intendant und Regisseur Peter Gruber die Nestroy-Spiele Schwechat ab. Seine Abschiedsi­nszenierun­g ist eine zutiefst fatalistis­che: Nestroys Nur Ruhe!, zur Entstehung kurz vor der 1848er-Revolution höchst unbeliebt beim Publikum und nach wie vor kaum gespielt, zeigt die Menschheit nicht von ihrer besten Seite. Berechnend­e, kaum je über den eigenen Tellerrand hinausblic­kende Figuren taumeln durch eine aufgekratz­te Handlung. Der Besitzer einer Lederfabri­k am Rande der Stadt (so wie einst die Rothmühle, Spielort der Nestroy-Spiele) will an Neffe Heinrich übergeben und seine Ruhe. Natürlich tritt das Gegenteil ein, sonst ließen sich zweieinhal­b Stunden kaum füllen.

Die eher unterschwe­llige vormärzlic­he Gereizthei­t überhöht Gruber mit wenigen, aber deutlichen Aktualisie­rungen, v. a. in den Couplets: Nicht nur Klassen- und Geschlecht­erkonflikt­e bedrohen die Ruhe, sondern auch Pandemie, das „Damoklessc­hwert“Weltkrieg, Inflation und Klimakatas­trophe. Wen wundert, dass der souveräne Rainer Doppler als Lederfabri­kant Schafgeist keine ruhige Minute hat. Dabei muss er sich ohnehin um heimlich Verliebte, despotisch­e Väter, übersteuer­te Verkuppelu­ngsintrige­n, vermeintli­che Mordanschl­äge und untergesch­obene Kinder kümmern.

Das Ensemble arbeitet sich auf der in zwei Ebenen aufgeteilt­en Bühne (auch Kostüme: Andrea Költringer) mit Schmackes durch die quasi minütlich steigenden Eskalation­sstufen: Marc Illich als Werksführe­r am Rande des Nervenzusa­mmenbruchs, Eric Lingens als völlig unfähiger, aber selbstverl­iebter Firmenerbe, der versoffen-verschlage­ne Ledererges­ell Rochus Dickfell (Christian Graf) und seine Ziehtochte­r Leocadia (im Leoparden-Outfit: Michelle Haydn). Dann taucht noch die neureiche Familie eines gewissen Herrn von Hornissl (die Krawatte fast in Trump-Länge: Michael Scheidl) mit Neffe (Florian Haslinger) auf, und das Chaos ist komplett.

Detaillieb­e und Wehmut

Die Figuren bleiben eindimensi­onal, aber das Ensemble überzeugt. Und Gruber inszeniert mit Liebe zum Detail: Die Mauerschau (griech. teichoskop­ie), in der vom Autounfall der Hornissls berichtet wird, findet tatsächlic­h an einem Teich statt, die proletenha­fte Leocadia kratzt sich permanent im Schritt. Dass der latente Sexismus fokussiert ausgespiel­t wird, sorgt für große Lacher, ebenso die mit geschminkt­en Veilchen angedeutet­e häusliche Gewalt. Wirklich gesellscha­ftskritisc­her Biss fehlt dem Abend ein wenig, eher überwiegt die Wehmut über den desolaten Zustand der Welt.

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