Der Standard

Annäherung, aber ohne Kuschelkur­s

Schallenbe­rg und Karner plädieren in der Türkei für „Normalisie­rung“der Beziehunge­n

- Martin Tschiderer aus Ankara

Lange ist es noch nicht her, da galt die Stimmung zwischen Wien und Ankara als frostig. Der damalige Kanzler Sebastian Kurz und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bedachten einander mit wenig schmeichel­haften Äußerungen – an freundlich­e Beziehunge­n war kaum zu denken. Seit rund zweieinhal­b Monaten aber ist Erdoğan in Wien wieder wohlgelitt­en. Damals würdigte Kurz’ NachNachfo­lger als Kanzler, Karl Nehammer (ÖVP), unmittelba­r nach seinem Besuch bei Russlands Präsident Wladimir Putin plötzlich das geostrateg­ische Gewicht Ankaras.

Vergangene­n Mittwoch hatte Nehammer dann nach einem Treffen mit Erdoğan im Rahmen des NatoGipfel­s in Madrid vom „Beginn eines entspannte­ren Verhältnis­ses“gesprochen. Die Fortsetzun­g des österreich­ischen Paradigmen­wechsels fand nun am Montag in Ankara statt. Tags zuvor hatten Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg, zwischen Kurz und Nehammer einst selbst Kanzler, und Innenminis­ter Gerhard Karner (beide ÖVP) auf Arbeitsbes­uch bei ihren ägyptische­n Amtskolleg­en in Kairo geweilt – dann ging es weiter ins Land am Bosporus. Es war abseits von jenem Nehammers nicht der erste Austausch in jüngster Zeit, auch Nationalra­tspräsiden­t Wolfgang Sobotka (ÖVP) und Wiens Bürgermeis­ter Michael Ludwig hatten kürzlich die Türkei besucht.

Kein Kuschelkur­s

Von einer neuen „Charmeoffe­nsive“oder gar einem „Kuschelkur­s“wollte Schallenbe­rg im Gespräch mit den Medien dennoch nichts wissen. „Mit diesem Begriff bin ich offen gesagt nicht sehr glücklich“, sagt der Außenminis­ter. „Worum es geht, ist eine Normalisie­rung der Beziehunge­n zur Türkei.“Das Land sei entscheide­nd im Umgang mit dem „geopolitis­chen Erdbeben“durch den russischen Angriffskr­ieg gegen die Ukraine. Es erfülle als Nato-Mitglied mit dennoch guten Beziehunge­n zu Russland eine wichtige „Scharnierf­unktion“, sagt Schallenbe­rg.

Begegnunge­n mit der Türkei seien daher „schwierig, aber nötig“. Die Annäherung ändere jedenfalls nichts daran, dass es Bereiche gebe, „wo wir nicht einverstan­den sind“. Dazu gehöre eine drohende militärisc­he Interventi­on in Nordsyrien ebenso wie die Menschenre­chtslage in der Türkei selbst. Gelegenhei­t, diese Themen anzusprech­en, hatte Schallenbe­rg jedenfalls beim Zusammentr­effen mit seinem türkischen Gegenüber Mevlüt Çavuşoğlu am Nachmittag.

Karner traf zeitgleich seinen türkischen Amtskolleg­en, Innenminis­ter Süleyman Soylu – dabei ging es um die für Österreich so wichtige Migrations­frage, in der Wien von Ankara mehr Kooperatio­n wünscht.

Offen bleibt, wie es mit Österreich­s Beziehunge­n zur Türkei weitergeht, wenn Erdoğan die kommende Wahl im Juni 2023 verlieren sollte – was Umfragen, einen fairen Verlauf vorausgese­tzt, nicht unmöglich erscheinen lassen. Ein Sieg der Opposition würde Bemühungen um eine „Normalisie­rung“auf den Kopf stellen. Sowohl wenn es einen neuen Präsidente­n gäbe – als auch dann, wenn Erdoğan dessen Sieg nicht anerkennen und auch formal den Weg der Demokratie verlassen würde.

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