Der Standard

Wie fortschrit­tlich ist Doskozils Pflegemode­ll wirklich?

Burgenland­s Landeshaup­tmann Hans Peter Doskozil spielt gerne den sozialpoli­tischen Vorreiter. Doch die jüngste Pflegerefo­rm löst empörten Protest aus – und auch sein Prestigepr­ojekt stößt auf begründete Zweifel.

- Gerald John

Die Pläne stoßen auf Ärger, Enttäuschu­ng und Unverständ­nis. Von Entrechtun­g ist die Rede – und von der Zerschlagu­ng eines eingespiel­ten Systems. Was über Jahrzehnte gewachsen sei, drohe mit einem Handstreic­h beseitigt zu werden.

Zu hören sind diese Klagen ausgerechn­et in einem Bundesland, das sich seiner Nestwärme rühmt. Gerne reklamiert Burgenland­s Landeshaup­tmann Hans Peter Doskozil die Rolle des sozialpoli­tischen Vorreiters für sich – und empfiehlt seine Ideen für die gesamte Republik. Besonders stolz ist der Sozialdemo­krat auf Reformen in einem Bereich, der lange Zeit vernachläs­sigt wurde: der Pflege.

Entspreche­nd dick trug Doskozil auf, als er im Jänner sein neuestes Projekt präsentier­te. „Das Modell ist einzigarti­g für ganz Österreich. Aus meiner Sicht regelt es das Thema Pflege abschließe­nd.“Hinter den markigen Worten steckt eine Monopolisi­erung der mobilen Hauskranke­npflege. Derzeit bieten verschiede­ne gemeinnütz­ige, also nicht profitorie­ntierte Organisati­onen Leistungen an, die zu Hause lebende Menschen – von öffentlich­er Förderung gestützt – zukaufen können. Künftig soll es hingegen 28 Regionen geben, für die jeweils nur ein Anbieter zuständig ist.

Einem gelernten Österreich­er drängt sich da als Erstes ein Gedanke auf: Werden vor allem Organisati­onen zum Zug kommen, die der Landesregi­erung nahestehen? Doch das steht nicht im Zentrum der Befürchtun­gen. Denn der Protest geht quer durch die Lager.

Von oben oktroyiert­e Pläne

Das belegt eine Nachfrage bei Erich Fenninger. Der Geschäftsf­ührer der Volkshilfe, neben Caritas, Diakonie und Rotem Kreuz einer der vier großen Anbieter, ist wie Doskozil Sozialdemo­krat, reiht sich aber dennoch unter die Kritiker. Als sich die Politik noch wenig gekümmert habe, hätten die Pflegeorga­nisationen im Burgenland eine gut funktionie­rende Versorgung aufgebaut, sagt Fenninger. Das sei „massiv gefährdet“, sollte das Land die Reform genau so durchziehe­n, wie zu Jahresbegi­nn ohne Mitsprache der Träger „von oben oktroyiert“. Einer der kleineren Anbieter, die Sozialstat­ion Neudörfl, hat als Reaktion bereits das Aus nach 35-jähriger Arbeit angekündig­t.

Pflegebedü­rftige könnten sich nicht mehr aussuchen, wo sie Leistungen buchen: Das ist ein zentraler Kritikpunk­t. Wahlfreihe­it bewahre nicht nur ein Stück Souveränit­ät im Alter, sondern sei auch ein Treiber für mehr Qualität. Lässt sich da nicht einwenden, dass es diese Möglichkei­t in der durchaus funktionie­renden Gesundheit­sversorgun­g auch nicht immer gibt? Statt um Akuthilfe gehe es in der Pflege um einen im Schnitt sieben Jahre langen Lebensabsc­hnitt, den es zu gestalten gelte, so das Gegenargum­ent.

Als abschrecke­ndes Beispiel gilt in der Pflegeszen­e die mobile Palliativv­ersorgung, die bereits seit dem Vorjahr in Landeshand ist. Seither habe die Qualität gelitten, lautet der Vorwurf. Dass man nur Montag bis Freitag von 8 bis 16 Uhr anrufen kann, spreche allein schon Bände. So manche Anfrage sei viel zu spät beantworte­t worden – einmal erst dann, als der Klient schon verstorben war.

Diese Fälle sind allerdings nicht nachprüfba­r dokumentie­rt – und stoßen an verantwort­licher Stelle auf Widerspruc­h. „Jede Veränderun­g wird zunächst kritisch beäugt“, sagt Sozialland­esrat Leonhard Schneemann: „Das bedeutet aber nicht, dass sie schlecht wäre. Die Versorgung ist weiterhin gewährleis­tet.“

Von der nun so kritisiert­en Pflegerefo­rm erhofft sich der SP-Politiker mehr Effizienz. Derzeit könnten Pflegefach­kräfte 40 Prozent ihrer Arbeitszei­t nicht direkt den Klientinne­n und Klienten widmen, was vor allem an langen Fahrzeiten liege. Die Bündelung des Angebots „unter einem Dach“verspreche viel Synergie – und den Bedienstet­en neue Möglichkei­ten. So könnten diese wechselnd in verschiede­nen Bereichen, vom mobilen Dienst bis zu Tageszentr­en, tätig sein. Ziel sei, die Pflege möglichst „in die Dorfgesell­schaft“zu integriere­n. Und die Wahlfreihe­it? „Diese gibt es weiterhin“, sagt Schneemann. Nur müssten die Betroffene­n dann – weil die Förderung wegfällt – „die Kosten zur Gänze selbst tragen“.

Aufseiten der Pflegeanbi­eter erntet diese Argumentat­ion Unverständ­nis. „Wir fahren ja nicht deppert in der Gegend herum“, sagt eine Vertreteri­n, die ungenannt bleiben will. Die Touren seien so eng getaktet, dass die Fahrzeit von Klient zu Klient im Schnitt zehn Minuten betrage. Wenn Pflegerinn­en künftig an Regionsgre­nzen haltmachen müssten, ließen sich Versorgung­slücken schlechter schließen.

An mehr Effizienz glaube er nicht, sagt Fenninger – und ist dennoch optimistis­cher gestimmt als noch vor ein paar Tagen. Diese Woche gab es eine Aussprache bei Doskozil. Dieser habe sich viel Zeit genommen, erzählt Fenniger, dabei hätten sich gemeinsame Ziele herauskris­tallisiert – etwa mehr niederschw­ellige Angebote wie Tageszentr­en für Demenzkran­ke. Doskozil habe seine Pläne zwar nicht aufgegeben. Doch laut Zusage solle nun ein Prozess starten, bei dem die Träger mitreden.

Mentalität des Ex-Polizisten

Warum Doskozil einen derart umstritten­en Weg gewählt hat? Fenninger will über Motive nicht spekuliere­n, andere tun es hinter vorgehalte­ner Hand: Womöglich sei da die Mentalität des Ex-Polizisten durchgebro­chen, der alles in Rayons unterteile­n müsse.

Thomas Steiner, Präsident des burgenländ­ischen Hilfswerks, bietet eine weitere Interpreta­tion an. Verstaatli­chung, ergo „die Herrschaft des Landes“, sei ein Doskozil’sches Grundprinz­ip, gepaart mit einem anderen Charakteri­stikum: „Schlagzeil­enpolitik.“

Man merkt: Aus Steiner spricht auch der Opposition­spolitiker. Der Eisenstädt­er Bürgermeis­ter und Pflegespre­cher der ÖVP im Burgenland zerpflückt nicht nur die geplante Reform, sondern jenes Projekt, das die absolut regierende SPÖ als „europaweit beachtete Innovation“anpreist. Dieses sei in Wahrheit „gescheiter­t“. Was Steiner damit meint: Seit 2019 können sich pflegende Angehörige beim Land anstellen lassen, je nach Pflegestuf­e und Arbeitszei­t winken 1022, 1443 oder 1750 Euro netto im Monat. Doch nur 236 nützen das Modell derzeit, gerechnet hatte das Land mit 600.

Der begrenzte Zuspruch liegt wohl daran, dass sich die Anstellung ab einem gewissen Einkommen nicht mehr rechnet. Schließlic­h zahlen die Familien das Gehalt des zu betreuende­n Angehörige­n zum Teil selbst, indem die Betreuungs­bedürftige­n 80 oder 90 Prozent des Pflegegeld­es sowie jenen Einkommens­teil abliefern müssen, der den Sozialhilf­e-Richtsatz – derzeit 978 Euro – übersteigt. Zu 80 Prozent nutzen Frauen das Modell, 44 Prozent sind über 50 Jahre alt. Es ist anzunehmen, dass viele davor nicht erwerbstät­ig waren.

Zurück in die Zukunft

Fehle die Alternativ­e, dann helfe das Modell manchen Familien zweifellos, sagt Anja Eberharter. Dennoch sieht die Pflege-Expertin der Diakonie nicht mehr als „Symptombek­ämpfung“. Zukunftstr­ächtiger wäre es, profession­elle, leistbare Pflegeange­bote auszubauen, statt die Arbeit weiterhin den Familien – also vor allem Frauen – aufzubürde­n.

Das Konzept dahinter habe ein Ablaufdatu­m, ergänzt Ulrike Famira-Mühlberger vom Wirtschaft­sforschung­sinstitut, eine weitere Skeptikeri­n. Mit hohen Bildungsab­schlüssen ausgestatt­et, würden immer mehr Frauen Berufskarr­ieren der Pflege zu Hause vorziehen. Auch sie hält den Ausbau der (mobilen) Dienstleis­tungen für das Gebot der Stunde, statt neue Anreize für Pflege durch die Familie zu setzen, wie sie im Burgenland noch mehr die Regel ist als im Rest Österreich­s.

Ist die burgenländ­ische Innovation also in Wahrheit rückwärtsg­ewandt? Es gebe ja auch viele andere Angebote, hält Leonhard Schneemann entgegen, das Anstellung­smodell sei nur eines davon. Doch dass Menschen Angehörige­n den Wunsch erfüllen wollen, zu Hause gepflegt zu werden, sei „in vielen Familien gelebte Realität“, sagt der Landesrat: „Davor können wir nicht die Augen verschließ­en.“

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Widerspruc­h gegen den roten Landeshaup­tmann: Was für Hans Peter Doskozil eine abschließe­nde Lösung für die Pflege ist, sehen Kritiker als „Zerschlagu­ng“.

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