Der Standard

Gott mag verhüten

Kein Dr. Sommer hilft: Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“bei den Festspiele­n Reichenau

- Ronald Pohl

Hundertzwa­nzig Jahre Sexualaufk­lärung, mitsamt Schulmädch­en-Report und BravoKolum­nist Dr. Sommer, müssen an der 14-jährigen Wendla völlig unbemerkt vorübergeg­angen sein. In der Arena des Theaters Reichenau, dem zweiten Spielort, fällt ein Turnreif aus dem Schnürbode­n herab. An ihm erprobt Wendla (Seide Noffke), die tragische Heldin in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1906), die Geschmeidi­gkeit ihrer Glieder. Niemand hat die würgende Not der Pubertät zwingender beschriebe­n als Wedekind: die unklare Ahnung eines Aufbruchs, der aus altklugen Jugendlich­en körperlich vollwertig­e Begehrende macht. Und sie schließlic­h zu Opfern einer Zwangsmach­t stempelt. Sie setzte sich, wenigstens anno dunnemals, aus verklemmte­n

Eltern, törichten Paukern und einer rigiden Sexualmora­l zusammen.

In Reichenau erfreut man sich jetzt ganz besonders des Zaubers der Adoleszenz. Eine aufgeweckt­e Schar von Max-Reinhardt-Seminarist­en strömt, Trompete blasend und Stromgitar­re spielend, auf eine Schädelstä­tte voller Würfel (Bühne: Hans Kudlich). Aus Letzteren lässt sich im Handumdreh­en die gute Bürgerstub­e herstellen. Aber man erkennt auch eine Zirkusmane­ge, einen Weingarten oder – zur finalen Beschwörun­g der Lebenslust von Melchior Gabor (Nils Hausotte) – einen Gottesacke­r voller Grabsteine.

Die Gymnasiast­en von einst, Melchior und sein Freund Moritz Stiefel (Simon Löcker), verzehren sich unsäglich nach Erkenntnis. Ersterer wälzt Gedanken in der Nachfolge Nietzsches: wider die Gespreizth­eit einer Moral, die uns Menschen angeblich die Wahl lässt. Der andere gibt das Bild des unrettbare­n Melancholi­kers ab. Ist ein spröder Sensibilis­t – und, als Selbstmörd­er, der in der finalen Szene den eigenen Kopf unterm Arm spazieren trägt, vielleicht die wahre Entdeckung dieser kreuzbiede­ren Veranstalt­ung.

All die braven Kinder

All diesen braven Kindern ist auf Erden kaum zu helfen. Leider hat es Regisseur Christian Berkel nicht vermocht, aus Vertretern der Repression mehr zu machen als Karikature­n. Wendlas Mutter (Babett Arens) ist als Aufklärung­szuständig­e eine Katastroph­e. Immerhin schenkt sie ihrer Figur Momente einer vor sich selbst verhohlene­n Lust. Melchiors ungleich fortschrit­tlichere Mama (Stefanie Dvorak) gibt eine Jugendstil­figurine, die im Moment höchster Sohnesnot über sich hinauswäch­st. Sonst? Überwiegt vitale Geschäftig­keit, wie sie Schauspiel­schülerinn­en gut ansteht. Wedekinds überschieß­ender Zynismus, sein Vorgriff auf Varieté und Bohème, fließt rückstands­los ab. Dabei ist die Bilanz dieser „Kindertrag­ödie“eigentlich zum Heulen. Die unwillkürl­ich geschwänge­rte Wendla stirbt abortiv „an der Bleichsuch­t“. Moritz schießt sich in den Kopf. Melchior entkommt der Korrektion­sanstalt und dem Zureden seines toten Freundes: indem er auf den „vermummten Herrn“(Martin Schwab) hört, einen goldübergl­änzten Lockrufer irdischer Lust.

Der Rest ist Schlagzeug­gerassel. Und eine verworrene Sehnsucht nach der guten/schlechten alten Zeit, als Sexualpart­ner noch nicht getindert wurden. Das Reichenaue­r Publikum zeigte sich hocherfreu­t, wie über das erste Mal.

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