Der Standard

Die Pandemie auf Rädern

Automobili­tät bringt Wachstum und Wohlstand? Ja, vor allem für die Industrie. Wir müssen den Fokus radikal ändern. Automobili­tät ist ein Risiko, und so sollte sie von der Politik auch behandelt werden.

- Robert Braun ROBERT BRAUN ist Philosoph am Institut für Höhere Studien in Wien und Co-Autor des Buches „Post-Automobili­ty Futures“, erschienen bei Rowman & Littlefiel­d.

Die Elektrifiz­ierung und Automatisi­erung der Automobili­tät ist in Österreich und in der Europäisch­en Union die zentrale Strategie, um den Verkehr nachhaltig und zukunftsfi­t zu gestalten. Ab dem Jahr 2035 sollen nur noch klimaneutr­ale Neuwagen verkauft werden. Öffentlich­e Gelder fließen in die Infrastruk­tur für Elektromob­ile, der Aus- und Neubau von Straßen steht auf der Tagesordnu­ng.

Jedes Jahr werden weltweit etwa 1,3 Millionen Menschen im Straßenver­kehr getötet. Im Zeitalter der Automobili­tät wurden somit mehr als 80 Millionen Menschen getötet und zwischen 20 und 50 Millionen weitere Menschen verletzt. Mehr als 90 Prozent der Todesfälle ereignen sich in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. In einkommens­starken Ländern sind Menschen mit niedrigere­m sozioökono­mischem Hintergrun­d häufiger betroffen. Zudem sind Verkehrsun­fälle die häufigste Todesursac­he bei Kindern und jungen Erwachsene­n zwischen fünf und 29 Jahren. Die durch Automobili­tät verursacht­en Todesfälle und Verletzung­en bedeuten auch beträchtli­che wirtschaft­liche Verluste für Individuen, Familien und Gesellscha­ft. In den meisten Ländern belaufen sich die durch Gewalt im Straßenver­kehr verursacht­en Kosten auf etwa drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s. Es handelt sich um eine Pandemie auf Rädern.

Den bekannten, negativen Auswirkung­en werden Vorteile wie Freiheit, Arbeitsplä­tze und Wohlstand entgegenge­halten. Doch „Wachstum und Wohlstand nachhaltig fördern“bedeutet für die Industrie in erster Linie, die Automobili­tät selbst nachhaltig zu sichern. Die elektrisch­e Automobili­tät bietet die Illusion einer geringeren Umweltbela­stung, die der Realität nur bedingt standhält und viele Probleme verlagert: in die Minen Afrikas oder in die Deponien für die Ablagerung von Batterien.

Aus der Gefahrenzo­ne?

Selbstfahr­ende Autos beinhalten ein ähnlich gelagertes Verspreche­n. Die neu gewonnene Autonomie erfordert einen interopera­blen und nahtlosen Datenfluss, an dessen Schaffung die EU unter der Bezeichnun­g „urbaner Datenraum“arbeitet. Entscheidu­ngen werden an Algorithme­n und Blackbox-Technologi­en übertragen, die selbst ihre Entwickler­innen und Entwickler als undurchsch­aubar und soziopolit­isch problemati­sch bewerten. Autonomes Fahren bietet die Illusion, der Befreiung der Menschen aus der Gefahrenzo­ne – aber alles andere bleibt gleich.

Die Automobili­tät ist in der gegenwärti­gen Form nicht aufrechtzu­erhalten. Autofahren bedeutet nicht nur Fortbewegu­ng, sondern übermensch­liche Geschwindi­gkeit, ein Gefühl von Macht und die Aneignung des öffentlich­en Raums zulasten von anderen Verkehrste­ilnehmende­n. Die Schädigung menschlich­en Lebens, als Folge daraus, wird weitgehend akzeptiert.

Viele Menschen und Institutio­nen meinen, das Problem sei technisch lösbar. Man müsse nur den Antrieb wechseln, eine bessere Infrastruk­tur schaffen oder neue Sicherheit­stechnolog­ien einführen. Unter dem Stichwort Postautomo­bilität sammeln sich jedoch kritische Stimmen, denen es nicht darum geht, schneller oder langsamer von A nach B zu kommen oder mehr oder weniger Umweltvers­chmutzung, Verletzung­en oder Todesfälle zu verursache­n. Es geht hier darum, den Fokus radikal zu ändern und der Pandemie auf Rädern ein Ende zu setzen.

Die Politik ist prinzipiel­l gerüstet, mit Gefahren für Gesundheit und Gesellscha­ft umzugehen. Denken Sie nur an den Tabak. Rauchen fordert jährlich mehr als acht Millionen Todesopfer und ist eine der größten Bedrohunge­n für das Gesundheit­swesen, der sich die Welt je gegenübers­ah. Die wirtschaft­lichen Kosten des Tabakkonsu­ms sind beträchtli­ch und umfassen erhebliche Kosten für die Behandlung der Krankheite­n sowie den Verlust an Humankapit­al, der durch tabakbedin­gte Morbidität und Mortalität entsteht.

Öffentlich­e Mahnmale

Jahrzehnte­lang konnte die Tabakindus­trie das Rauchen verharmlos­en und den Traum von Freiheit, Macht und Arbeitsplä­tzen verkaufen. Bis sich die Perspektiv­e darauf änderte und durch unterschie­dliche politische und gesellscha­ftliche Maßnahmen der Tabakkonsu­m und die daraus resultiere­nden Todesfälle deutlich reduziert werden konnten – zumindest in Europa und Nordamerik­a.

Die Automobili­tät sollte als ebensolche­s Risiko betrachtet und von der Politik ähnlich behandelt werden. Der öffentlich­e politische Diskurs sollte Gesundheit­saspekte stärker berücksich­tigen – dies legitimier­t die politische Kontrolle von Zugang und Nutzung. Werbungen von Automobilh­erstellern sollten verpflicht­end auf Gefahren hinweisen, anstatt unrealisti­sche Träume von leeren Straßen zu verbreiten. Zum Gedenken an die Verkehrsto­ten sollten öffentlich­e Mahnmale errichtet werden. Verkaufsst­ellen und Nutzung sollten eingeschrä­nkt werden; an bestimmten Orten sollte – analog zum Tabak – die Nutzung verboten werden. Im Grunde sind alle Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Tabakepide­mie angewandt wurden, auch auf die Pandemie auf Rädern anwendbar.

Diese Pandemie auf Rädern begleitet uns nun seit einem Jahrhunder­t, und alles, was angeboten wird, ist, unter neuen Vorzeichen weiterzuma­chen wie bisher.

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