Der Standard

Die Ukraine-Müdigkeit als Geheimwaff­e des Diktators

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Die trügerisch­e hochsommer­liche Ruhe im Westen wird von der wachsenden UkraineMüd­igkeit der Öffentlich­keit geprägt. Auch die Bilder von zerbombten Wohnhäuser­n und Kinderheim­en, von Toten und Verletzten, die aus den Trümmern der ukrainisch­en Städte gezogen wurden, werden in den Abendnachr­ichten von den Meldungen über die rasante Inflation und die neue Welle der Corona-Epidemie immer mehr verdrängt. Die Auftritte des von der freien Welt Geld und Waffen fordernden ukrainisch­en Präsidente­n

Wolodymyr Selenskyj stören das Wegschauen und Verdrängen und werden deshalb, wenn auch noch verschleie­rt, immer häufiger öffentlich kritisiert. E in symbolträc­htiges Zeichen dessen, was in der Energiekri­se im Herbst zu erwarten ist, war der Appell von 21 deutschen Intellektu­ellen in der Zeit für einen „Waffenstil­lstand jetzt!“ohne Rücksicht auf die Rechte der Ukrainer auf Verteidigu­ng gegen den mit dem Schlagwort der „Entnazifiz­ierung“mit grenzenlos­er Brutalität handelnden Aggressor. Es ist sinnlos, von der „Verständig­ungsbereit­schaft beider Seiten“zu reden angesichts Putins Größenwahn, in die Fußstapfen von Zar Peter dem Großen zu treten, um die frei gewordenen Völker im Vorfeld Russlands zu unterjoche­n. Die Balten und die Polen wissen, dass es bei dem verheerend­en Zermürbung­skrieg des Angreifers auch um ihr Überleben als freie Nationen geht.

Die Deklaratio­nen der Geschlosse­nheit der Staaten der Europäisch­en Union, der G7 und der Nato gegenüber Wladimir Putin dürfen nicht darüber hinwegtäus­chen, dass die Ukraine über Solidaritä­tserklärun­gen hinaus dringend mehr Waffen und massive Finanzhilf­e braucht. Dass die russische Diktatur wirtschaft­lich und militärisc­h imstande ist, den Krieg weiterzufü­hren, ist nicht nur die Folge der zahlreiche­n Schlupflöc­her bei den Sanktionen.

Man darf auch, trotz der tausenden Inhaftiert­en und zusammenge­schlagenen Demonstran­ten, die blinde Willfährig­keit der von dem großrussis­chen Nationalis­mus verblendet­en und von dem brutalen Machtappar­at der Diktatur eingeschüc­hterten russischen Massen nicht vergessen.

Die demokratis­che Welt, mit innenpolit­ischen Kraftprobe­n und Wahlausein­andersetzu­ngen, muss sich auf einen möglicherw­eise langen Zermürbung­skrieg einstellen. Es war eine glückliche Fügung, dass das US-amerikanis­che politische Establishm­ent bisher relativ geschlosse­n massive militärisc­he und finanziell­e Hilfe der angegriffe­nen Ukraine zukommen ließ. Ob diese Hilfsberei­tschaft

die erwartete Niederlage der Biden-Administra­tion bei den Kongresswa­hlen im Herbst überleben wird, ist völlig unsicher. B ei der Waffenhilf­e für das Opfer des Überfalls handelt es sich nicht um dessen – völlig irrealen – „vollständi­gen Sieg und die Rückerober­ung aller besetzten Gebiete, einschließ­lich der Krim“, wie im „Appell“behauptet, sondern darum, den Preis für den Aggressor ins Unerträgli­che zu steigern, um die völlige Zerstückel­ung der Ukraine zu verhindern. Die auch zielbewuss­t geförderte Ukraine-Müdigkeit und vage „Waffenstil­lstandsapp­elle“spielen nur Putin in die Hände.

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