Ein virtuoser Rosentanz
Anne Teresa De Keersmaeker und Amandine Beyer feiern „Mystery Sonatas / for Rosa“.
Musik und Geometrie. Das sind prägende Parameter für die längst ikonisch gewordenen Arbeiten der Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrer 1983 gegründeten Kompanie Rosas. Schon 1982 versetzte ihr Frühwerk Fase, Four Movements to the Music of Steve Reich den Minimalismus des Komponisten in den dreidimensionalen Raum.
In Wien gastieren die Rosas seit 1994 fast jeden Sommer bei Impulstanz: zuletzt 2019 mit Die sechs Brandenburgischen Konzerte und 2020 mit Die Goldberg-Variationen, zwei Auseinandersetzungen mit dem Werk von Johann Sebastian Bach.
In ihrer neuen Arbeit Mystery Sonatas / for Rosa bezieht sich De
Keersmaeker auf die Mysterien- oder Rosenkranzsonaten des Barockkomponisten und Geigers Heinrich Ignaz Franz Biber.
Um 1676 entstanden und im 20. Jahrhundert wiederentdeckt, stellen die 16 Sonaten eine musikalische Übersetzung des Rosenkranzgebetes dar. Im Hinblick auf diese religiöse Praxis komponiert, spricht die Musik aber auch eine Einladung zum Tanz aus: Historische Formen wie Giguen, Allemanden und Couranten klingen an.
„Es gibt Werke, die die Grenzen dessen, was man auf einem Instrument machen kann, verschieben: Bachs Partiten, Liszts Études d’Exécution Transcendante und auch Bibers Mystery Sonatas“, formuliert De Keersmaeker hinsichtlich des hier notwendigen, hochvirtuosen Geiaufgeführte genspiels in der komplizierten Technik der Skordatur, einer von der Norm abweichenden Stimmung des Saiteninstruments.
So teilen sich die renommierte Violinistin Amandine Beyer und ihr Ensemble Gli Incogniti (musikalisch verantwortlich beispielsweise auch schon bei Die sechs Brandenburgischen Konzerte) die Bühne mit sechs Tänzerinnen und Tänzern.
Ein Biber der Mysterien
Die Rose, im Sinn einer geometrisch in den Raum gezeichneten Figur auch namensgebend für De Keersmaekers Kompanie, ist ein vieldeutiges Symbol: für Schönheit, aber sie hat Dornen, also auch für Widerstand.
So widmet die Choreografin ihre Anfang dieses Jahres in Brügge ur
Biber-Arbeit vier widerständigen Frauen: der Malerin Rosa Bonheur, der Politikerin Rosa Luxemburg, der Bürgerrechtlerin Rosa Parks und der Klimaaktivistin Rosa, die 15-jährig bei den Überschwemmungen in Belgien im Jahr 2021 ums Leben kam.
Aber mit der Rose hat es noch mehr auf sich. Das lateinische „sub rosa“, in wörtlicher Übersetzung „unter der Rose“, verweist auf Verschwiegenheit, auf etwas, das jedoch im Sinn von De Keersmaekers vier Jahrzehnte umfassendem und prägendem OEuvre vielleicht getanzt werden kann.
Der Rosenkranz ist – nicht zuletzt in Anbetracht der musikalischen Vorlage Bibers – das wahrscheinlich beste Symbol für die choreografische Sprache De Keersmaekers, dienen die Perlen einer Gebetskette doch dazu, den Überblick über die Wiederholungen von Phrasen nicht zu verlieren.
Und über Wiederholung und Abweichung, über Kreation, Transformation und Kombination funktionieren auch De Keersmaekers Choreografien. Blütenblattartig fächern sich Kreise in Spiralen auf und kartografieren die tanzenden Körper den Raum und die Musik über eine Fülle von Variationen.
De Keersmaeker legt es darauf an, den Überblick über die Wiederholung von Phrasen zu verlieren. Aber die Rechnung geht auf. Musik und Geometrie und Choreografie fallen bei Mystery Sonatas / for Rosa faszinierend in eins.