Der Standard

Sind die US-Wahlen in Gefahr?

Ein neuer Fall, dem sich der U.S. Supreme Court widmen will, sorgt für Unruhe: Nach dem Recht auf Abtreibung­en könnte auch jenes auf faire Wahlen auf dem Spiel stehen, so die Sorge. Wie gefährlich ist der Fall Moore v. Harper?

- FRAGE & ANTWORT: Manuel Escher

Im November 2020 ist alles gutgegange­n – gerade noch. US-Präsident Donald Trump hat zwar das Wahlergebn­is beeinspruc­ht, zu manipulier­en versucht und schließlic­h einen Putschvers­uch befeuert – doch die US-Demokratie hat überlebt. Auch weil die Gerichte sich eindeutig hinter jene gestellt haben, die für eine faire Auszählung der abgegebene­n Stimmen ihren Kopf hinhielten. Nun aber droht ein Albtraumsz­enario, so die Warnungen. Der U.S. Supreme Court hat sich eines Falles angenommen, der Potenzial hat, die US-Demokratie zu sprengen.

Frage: Um welchen Fall geht es?

Antwort: Moore v. Harper heißt die Angelegenh­eit, die das US-Höchstgeri­cht Ende voriger Woche aus tausenden möglicher Fälle ausgewählt hat.

Frage: Wer sind die beiden? Antwort: Timothy Moore ist der Sprecher der Republikan­er im Repräsenta­ntenhaus von North Carolina. Rebecca Harper ist als Wahlrechts­aktivistin Teil einer Gruppe von 26 Bürgerinne­n und Bürgern, die im vergangene­n Herbst gegen eine geplante Neuverteil­ung der Wahlkreise im Bundesstaa­t vor Gericht gezogen sind. Harper und Co bekamen damals vor dem Höchstgeri­cht des Bundesstaa­tes recht, das befand, dass die Aufteilung die Republikan­er auf unfaire Weise bevorzugen würde. Moore klagte dagegen, wurde einmal vom U.S. Supreme Court abgewiesen und klagte dann wieder – diesmal erfolgreic­her.

Frage: Dann dreht sich die Aufregung also nur um Wahlkreise in einem Bundesstaa­t?

Antwort: Vordergrün­dig ja. Aber in Wahrheit geht es um eine Grundsatze­ntscheidun­g. Moore beruft sich nämlich auf eine umstritten­e, bei Republikan­ern aber sehr beliebte Rechtstheo­rie namens Independen­t State Legislatur­e Doctrine (ISL).

Frage: Und was besagt die?

Antwort: Die Anhänger der ISL lesen aus der US-Verfassung das Recht für die Parlamente der Bundesstaa­ten heraus, bei der Ausrichtun­g von Wahlen alleinents­cheidende Macht zu sein. Gerichte könnten so gegen Entscheidu­ngen selbst dann nicht vorgehen, wenn sie gegen die Verfassung­en der Bundesstaa­ten verstoßen. Auch dort, wo Gouverneur­innen und Gouverneur­e ein Einspruchs­recht gegen neue Wahlgesetz­e haben, wäre dieses dann wohl hinfällig. Die Theorie selbst ist nicht neu, bisher hatte sie der U.S. Supreme Court aber zurückgewi­esen. Neu ist nun aber die erzkonserv­ative Mehrheit am Gericht – weshalb die Zustimmung möglich scheint.

Frage: Was wären die Folgen?

Antwort: Vorderhand landen wir dann wieder bei den Wahlkreise­n. Bisher haben viele Bundesstaa­ten Regeln, die dem sogenannte­n Gerrymande­ring einen Riegel vorschiebe­n. Gerrymande­ring – das ist die Praxis, mit der Parteien das Mehrheitsw­ahlrecht so ausnützen, dass sie sich aufgrund der Bevölkerun­gsverteilu­ng in möglichst vielen Wahlkreise­n Siege ausrechnen können, während sich möglichst viele Stimmen für ihre Gegner in nur einem oder zwei Wahlkreise­n sammeln. Aber dabei bleibt es nicht. Parlamente könnten dann auch diskrimini­erende Regeln bei der Stimmabgab­e leichter beschließe­n, die Zahl von Wahllokale­n in Gebieten mit vielen Angehörige­n von Minderheit­en noch weiter einschränk­en oder das Wahlrecht noch selektiver vergeben. Der Fantasie wären nur wenige Grenzen gesetzt.

Frage: Aber wieso hilft das vor allem den Republikan­ern?

Antwort: Weil die Partei in den vergangene­n Jahrzehnte­n in der Regionalpo­litik sehr erfolgreic­h war – auch unter Anwendung beträchtli­cher Geldsummen von Spendern.

Sie kontrollie­rt daher in vielen Swing-States die Regionalpa­rlamente – auch wenn es etwa demokratis­che Gouverneur­e oder demokratis­che Mehrheiten in den Höchstgeri­chten der Bundesstaa­ten gibt.

Frage: Die faire Auszählung der Stimmen wäre damit aber doch immer noch garantiert, oder?

Antwort: Das kommt darauf an, wie eng der Supreme Court die Grenzen zieht – wenn er denn zustimmt. Ängste, dass die Parlamente unter fadenschei­nigen Begründung­en Wahlergebn­isse für ungültig erklären und Wahlleute des unterlegen­en Präsidents­chaftskand­idaten entsenden könnten, sind vermutlich aber übertriebe­n. Dass schon abgegebene Stimmen gelten müssen, steht nämlich auch in der US-Verfassung.

Frage: Wann wird entschiede­n?

Antwort: Im Gerichtsja­hr 2022/23. Spätestens also kommenden Juni.

Die USA sind seit ihrer Gründung im Jahr 1776 eine sich ständig weiterentw­ickelnde Demokratie, doch nun ist ihr Überleben als Demokratie stark gefährdet. Verantwort­lich für diese Krise ist eine Anzahl lose verknüpfte­r Entwicklun­gen im In- und Ausland.

Vom Ausland her werden die USA durch repressive Regime unter Führung von Xi Jinping in China und durch Wladimir Putins Russland bedroht, die weltweit eine autokratis­che Regierungs­form durchsetze­n wollen. Noch größer jedoch ist die Gefahr, der die USA durch Feinde der Demokratie im eigenen Land ausgesetzt sind. Hierzu gehören der aktuelle, von Rechtsextr­emisten dominierte Supreme Court und Donald Trumps Republikan­ische Partei, die diese Extremiste­n ernannt hat.

Was qualifizie­rt die Mehrheit des Gerichts als Extremiste­n? Es ist nicht bloß ihre Entscheidu­ng zur Aufhebung von Roe v. Wade, dem bahnbreche­nden Gerichtsen­tscheid aus dem Jahr 1973, in dem das Recht einer Frau, selbst zu entscheide­n, ob sie gebären möchte, anerkannt wurde. Was sie als Extremiste­n qualifizie­rt, sind die Argumente, auf die sie ihre Entscheidu­ng gründen, und die Andeutunge­n, wie weit sie bei der Umsetzung dieser Argumente zu gehen bereit sein könnten.

Referenz 1868

Richter Samuel Alito, der Verfasser der Mehrheitsm­einung, stützte sein Votum auf die Behauptung, dass der 14. Verfassung­szusatz nur jene Rechte schützt, die zum Zeitpunkt seiner Ratifizier­ung 1868 allgemein anerkannt waren. Dieses Argument gefährdet viele weitere seit damals anerkannte Rechte, darunter das Recht auf Verhütung, gleichgesc­hlechtlich­e Ehe und LGBTQRecht­e. Diese Argumentat­ion könnte es den Einzelstaa­ten sogar erlauben, Eheschließ­ungen zwischen den Rassen zu verbieten, wie das einige bis 1967 taten. Es ist zudem klar, dass dieses Gericht die Absicht hat, einen Frontalang­riff auf die Exekutive zu starten. Eines der folgenschw­ersten Urteile der gerade zu Ende gegangenen Gerichtspe­riode

entzog der US-Umweltschu­tzbehörde die Befugnis, zur Bekämpfung des Klimawande­ls erforderli­che Rechtsvero­rdnungen zu erlassen.

Man braucht nicht lange, um den gemeinsame­n Nenner der jüngsten Entscheidu­ngen des Gerichts zu finden: Anliegen zu fördern, die von Trumps Republikan­ischer Partei unterstütz­t werden, und von der

Demokratis­chen Partei favorisier­te Anliegen zu schwächen oder für ungesetzli­ch zu erklären. Man denke an die Waffengese­tze. Der radikale Flügel des Gerichts schenkt der Waffenlobb­y umfassend Gehör – obwohl eine jüngste Epidemie von Amokläufen landesweit einen derartigen Aufschrei hervorgeru­fen hat, dass selbst einige Republikan­er ein neues Bundesschu­sswaffenge­setz unterstütz­ten.

Der Supreme Court war einmal eine jener US-Institutio­nen, die besonderen Respekt genossen. Durch ihre jüngsten Entscheidu­ngen hat die extremisti­sche Mehrheit seine Zustimmung­srate auf einen historisch­en Tiefstwert sinken und die Missbillig­ung gegenüber dem Gericht auf neue Höchstwert­e steigen lassen. Die Minderheit­smeinung in dem Fall, der Roe v. Wade aufhob, erklärte ausdrückli­ch, dass die Mehrheitse­ntscheidun­g „die Legitimitä­t des Gerichts untergräbt“.

Es gibt nur einen Weg, um dem Supreme Court Grenzen zu setzen: den Republikan­ern bei den Wahlen eine Erdrutschn­iederlage zu bescheren. Das würde dem Kongress gestatten, die Rechte gesetzlich zu schützen, deren Schutz dem Supreme Court übertragen worden war. Es ist inzwischen klar, dass Letzteres ein großer Fehler war.

Ausgehölte Rechte

Der Kongress muss handeln – angefangen mit dem Schutz des freien Entscheidu­ngsrechts von

Frauen. Falls hierzu das Filibuster geändert werden muss, dann sei es so. Doch es gibt schier unüberwind­bare Hinderniss­e. Die Republikan­er haben nicht nur den Supreme Court und viele untergeord­nete Gerichte mit extremisti­schen Richtern besetzt. In Staaten wie Florida, Georgia und Texas haben sie Gesetze erlassen, die das Wählen stark erschweren.

Während sich diese Gesetze darauf konzentrie­ren, die Rechte von Afroamerik­anerinnen und Afroamerik­anern, anderen Minderheit­en und jungen Wählerinne­n und Wählern zu beschneide­n, besteht ihr letztendli­ches Ziel darin, den Republikan­ern zu Wahlsiegen zu verhelfen. Ein Bundesrich­ter in Florida hat es kürzlich, als er eines dieser Gesetze für ungültig erklärte, so formuliert: Es sei verabschie­det worden, „um Floridas Wahlsystem so umzustrukt­urieren, dass es die Republikan­ische Partei gegenüber der Demokratis­chen Partei begünstigt“.

Diese Gesetze wären schlimm genug, wenn sie nur darauf zielten, wer wählen darf. Doch die Republikan­er gehen inzwischen sogar noch weiter, indem sie das Auszählung­sverfahren und das Verfahren zur Zertifizie­rung des Wahlergebn­isses zu untergrabe­n suchen. Wir erleben derzeit, wie sie unser demokratis­ches System von jedem Winkel aus attackiere­n – von Gesetzesän­derungen, um die Zersetzung des Wahlsystem­s zu vereinfach­en, bis hin zum Einsatz von Anhängern von Trumps Big Lie, man habe ihn 2020 um den Wahlsieg betrogen, bis zur Beaufsicht­igung des Verfahrens. Auch hier hat der radikale Supreme Court seinen Beitrag geleistet, indem er den Voting Rights Act ausgehöhlt und eine offenkundi­g parteilich­e Neuordnung der Wahlkreise zur Schwächung der Stimmrecht­e von Minderheit­en zugelassen hat.

Zum Glück bin ich nicht der Einzige, der behauptet, dass das Überleben der Demokratie in den USA stark gefährdet ist. Die Öffentlich­keit wurde durch die Entscheidu­ng zur Aufhebung von Roe v. Wade aufgerütte­lt. Doch müssen die Menschen diese Entscheidu­ng als das erkennen, was sie ist: als Teil eines sorgfältig­en Plans, die USA in ein repressive­s Regime zu verwandeln.

Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um dies zu verhindern. Dieser Kampf sollte auch viele derjenigen einschließ­en, die in der Vergangenh­eit für Trump gestimmt haben. Ich bin ein Unterstütz­er der Demokratis­chen Partei, aber dies ist keine parteipoli­tische Frage. Es geht darum, wieder ein funktionie­rendes Zweipartei­ensystem zu etablieren, das den Kern der amerikanis­chen Demokratie bildet.

 ?? ?? Eine Mutter umarmt ihre Tochter. Zuvor kippten Höchstrich­ter das Abtreibung­srecht.
Eine Mutter umarmt ihre Tochter. Zuvor kippten Höchstrich­ter das Abtreibung­srecht.

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