„Geschlechter sind keine Schubladen“Biologische Definition mit offenen Grenzen
Was ist männlich und was ist weiblich? Auf diese doch recht ausufernde Frage gibt es in der Biologie eine recht einfache Antwort: Den Unterschied macht die Größe der Geschlechtszellen, also Ei- und Samenzellen. „Die Basisdefinition von männlichem und weiblichem Geschlecht in der Biologie ist, dass das männliche Geschlecht jenes mit den kleinen Geschlechtszellen ist und das weibliche jenes mit den großen“, sagt Elisabeth Oberzaucher, Verhaltensbiologin an der Universität Wien. „In der Biologie ist man sich daher sehr einig, was männlich ist und was weiblich.“
Vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Debatten zu Mehrgeschlechtlichkeit kommt nun auch dem biologischen Verständnis der Geschlechter vermehrt öffentliche Aufmerksamkeit zu. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass das Thema auch aus biologischer Perspektive Raum für Debatten öffnet. Historisch dominiert in der biologischen Forschung zwar das Modell der Zweigeschlechtlichkeit. Jedoch gab es bereits vor einem Jahrhundert Überlegungen zu Transsexualität und einem fließenden Übergang zwischen den Geschlechtern – lange bevor dies ein gesellschaftliches Aufregerthema wurde.
Für den Menschen gibt es neben der Größe der Geschlechtszellen ein anderes Kriterium, das bei der Unterscheidung der Geschlechter noch stärker zum Tragen kommt: das 23. Chromosomenpaar. Frauen tragen an dieser Stelle in der Regel ein XX, Männer hingegen XY. „Die Geschlechter auf rein genetische Ebene runterzubrechen ist zwar ein sehr einfacher Ansatz, kommt dem Ganzen aber auch nicht nahe“, sagt Oberzaucher.
Denn generell lassen sich die Geschlechter in der Biologie nicht „starr nach Schubladen“einteilen, wie die Verhaltensbiologin betont. Bekanntermaßen gibt es Eigenschaften, die zwischen Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt sind. Der Fachbegriff dafür lautet Sexualdimorphismus. „Das heißt aber nicht, dass diese Eigenschaften Frauen vollkommen fehlen und bei Männern immer gleich stark ausgeprägt sind. Es gibt in der Regel Überlappungsbereiche, wo Frauen quasi männlichere Ausprägungen haben und manche Männer weiblichere Ausprägungen haben als manche Frauen“, sagt Oberzaucher. Ein Beispiel für einen Sexualdimorphismus ist die Körpergröße: Typischerweise sind Männer im Durchschnitt etwas größer als Frauen. Umgekehrt gilt aber: Wenn man die Größe einer Person kennt, lässt sich dadurch keineswegs auf das Geschlecht schließen.
„Wenn wir in einer Population einen Sexualdimorphismus nachweisen können, erlaubt uns das auf keinen Fall, einen Rückschluss auf ein Individuum zu treffen“, sagt Oberzaucher. „Es gibt weder bei den kulturell geformten Eigenschaften noch bei den biologisch geformten Eigenschaften dieses eine Merkmal, das eine absolute Trennschärfe zwischen männlich und weiblich hat.“
In der Biologie gibt es also konkrete Definitionen zum weiblichen und männlichen Geschlecht, und es gibt korrelierende Eigenschaften für die beiden Geschlechter. Doch diese Binarität ist – wie Oberzaucher es ausdrückt – „eine Annäherung, die die tatsächliche Differenziertheit auf keinen Fall abbilden kann“. Statt getrennten Schubladen bringt Oberzaucher das Bild von „unterschiedlichen Ausprägungen entlang einer Achse“ins Spiel.
Problematische Praktiken
Historisch hatte die Wissenschaft lange Zeit einen blinden Fleck gegenüber Intersex-Personen, die biologisch weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zu 100 Prozent zuzuordnen sind. Diese Ignoranz zog problematische medizinische Praktiken nach sich: etwa dass Neugeborene, die nicht klar einem Geschlecht zugeordnet werden konnten, Operationen unterzogen wurden – oftmals mit verheerenden persönlichen Folgen für die Betroffenen.
Eine gewichtige Stimme, die die Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit ins Wanken brachte, war die US-amerikanische Biowissenschafterin Anne FaustoSterling, Professorin Emerita für Biologie und Gender Studies an der renommierten Brown University in Providence, Rhode Island. Bereits in den frühen 1990er-Jahren machte Fausto-Sterling den – wie sie selbst einmal feststellte, „provokanten“– Vorschlag, dass es nicht nur zwei, sondern fünf Geschlechter gebe. Die Arbeit The Five Sexes war ein Meilenstein in der Geschlechterforschung und führt bis heute zu hitzigen Diskussionen.