Mit dem Mord an Abe geht auch eine politische Ära zu Ende
Ex-Soldat erschoss den einflussreichen Politiker aus rätselhaften Motiven bei Wahlkampfauftritt
Tokio – Der frühere japanische Ministerpräsident Shinzo Abe ist einem Attentat zum Opfer gefallen. Bei einer Wahlkampfrede auf einer Straßenkreuzung in der alten Kaiserstadt Nara feuerte ein Mann aus wenigen Metern Entfernung zwei Schüsse aus einer selbstgebauten, doppelläufigen Waffe auf den 67Jährigen ab. Abe erlitt Schusswunden am Hals und der linken Brust.
Auf dem Weg ins Krankenhaus war Abe noch bei Bewusstsein, dann kam es zu einem Herzstillstand. Fünfeinhalb Stunden nach dem Anschlag gaben die Ärzte in der Uniklinik Nara die Wiederbelebung auf.
Der Angreifer, den Sicherheitskräfte überwältigen, war ein 41-Jähriger aus Nara. Der Mann hatte von 2002 bis 2005 als Berufssoldat bei der Marine der Selbstverteidigungsstreitkräfte gedient. Dort hatte er eine Ausbildung in Waffenbau und Schießen erhalten. Noch am Tatort erklärte er laut dem Sender NHK, er sei unzufrieden mit dem Verhalten von Abe gewesen und habe beschlossen, ihn zu töten.
Sein „Groll“richtete sich laut Ermittlern nicht gegen Abes politische Ansichten, sondern weil dieser mit einer „religiösen Gruppe“verbunden war. Die Aussage des Täters könnte sich auf die koreanische Vereinigungskirche, auch als MoonSekte bekannt, beziehen, zu der Abe sich indirekt bekannt haben soll.
Die Nation reagierte geschockt: Der Besitz von Schusswaffen ist in Japan so stark eingeschränkt, dass die wenigen Anschläge in diesem Jahrhundert fast immer mit einem Messer ausgeführt wurden.
Mythos infrage gestellt
Im vergangenen Jahr gab es nur zehn Vorfälle mit Schusswaffen, an denen fast immer Mitglieder des organisierten Verbrechens beteiligt waren. Mit dem Anschlag wurde der Mythos von einem sicheren Land infrage gestellt.
Aber viele Japaner spüren auch einen großen Verlust. Abe war zwar nie sonderlich populär, aber er dominierte die Außen- und Innenpolitik der vergangenen Jahre wie kein anderer und war allgegenwärtig. Die expansive Wirtschaftspolitik „Abenomics“, die auch seine Nachfolger Yoshihide Suga und Fumio Kishida verfolgen, trägt seinen Namen. Daher beendeten die Schüsse von Nara auch eine Ära in Japan.
Seinen Rücktritt vor knapp zwei Jahren begründete Abe mit seiner schlechten Gesundheit. Aber vor allem wollte er sich Korruptionsskandalen entziehen, die damals überkochten. Seitdem entwickelte sich Abe zur grauen Eminenz hinter den Kulissen. Er kontrollierte die größte Faktion von Abgeordneten der Liberaldemokratischen Partei (LDP), die Japan seit 1955 fast immer regiert.
Premier Kishida verdankt Abe den Vorsitz dieser LDP. Zu dessen Ärger verhinderte Abe jedoch, dass sein Erbe kritisiert und korrigiert wird. Zuletzt sorgte er für Kontroversen, als er sich für die Verdoppelung des Verteidigungsetats einsetzte und eine Stationierung von USAtomwaffen ins Spiel brachte. (maf)