Der Standard

„Krieg ist eine Art der spätkapita­listischen Industrie“

Am Ukraine-Krieg gehen viele Gewissheit­en der Friedenswi­lligen zuschanden. Der Philosoph Franz Schuh meint, dass man hätte gewarnt sein können: Es sei unsere Wirtschaft­sordnung, die die Probleme schafft.

- INTERVIEW: Ronald Pohl FRANZ SCHUH (75) ist Wiener Philosoph.

Vom „Guten, Wahren und Schlechten“handelt das jüngst erschienen­e Lesebuch, das Franz-Schuh-Schriften aus fünf Jahrzehnte­n auf den Prüfstand stellt. Fazit: In kaum einem Punkt hat die Wirklichke­it gegenüber Schuh recht behalten! Von allen Unsinnigke­iten die fürchterli­chste aber ist der Krieg: der Philosoph über Pazifismus, Macht und Unbehagen.

STANDARD: In den öffentlich­en Debatten über den Ukraine-Krieg greift vielfach ein forscher Ton Platz. Pazifistis­che Köpfe verbreiten sich plötzlich über die Notwendigk­eit „schwerer Waffen“. Wie lässt sich das erklären? Schuh: Es ist ein Opportunis­mus grundsätzl­icher Art. In Zeiten, in denen ein friedensbe­wegter Pazifismus „angesagt“ist, wird es einen Mainstream von Pazifisten geben. Gibt es harte Konflikte, wird man militant. Mit dem Krieg wird die Menschheit nicht fertig: Es gibt Krieg, weil Macht existiert, und weil Macht existiert, existiert auch Gewalt. Macht hat ihre „guten“, ihre notwendige­n Seiten. Aber der Missbrauch liegt ihr. Bei all dem Treiben tauchte plötzlich, in einer uralten Aufnahme, Ingeborg Bachmann auf. Sie sagte: Über den Krieg jammern, das kann jeder. Was man jedoch nicht kann, ist einzusehen, dass der existieren­de Friede eine Art Krieg ist, ein eingefrore­ner Krieg – der im „heißen“Krieg explodiert. Auch deshalb war der Krieg bisher unabwendba­r.

STANDARD: Was heißt das mit Blick auf den Pazifismus?

Schuh: Sigmund Freud schrieb von einer „konstituti­onellen Intoleranz gegen Aggression und Gewalt“. Solche Menschen verabscheu­en den Krieg als Ausdruck äußerster Barbarei. Ihre Aversion ist physisch, körperlich affektausl­ösend. Es ist ein Ekel, über den man sich nicht hinwegsetz­en kann. Freuds Frage lautete dann: „Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die Anderen Pazifisten werden?“Warten, wie auf Godot, muss man, auch wenn die gesamte Kulturentw­icklung gegen den Krieg arbeitet.

STANDARD: Der für Menschen unabwendba­r wird?

Schuh: Es gibt eine nüchterne Analyse des Krieges, die Alexander Kluge lebenslang betrieben hat: den Versuch, Krieg als eine Variante von Arbeit darzustell­en. Krieg ist nicht bloß ein moralische­s Phänomen. Sondern Krieg ist eine Art der spätkapita­listischen Industrie. Er wird mit Fleiß organisier­t, siehe den auf der Wannsee-Konferenz bürokratis­ch durchkompo­nierten Völkermord. Und last, not least gibt es eine Betrachtun­gsweise todbringen­der Macht, die Elias Canetti thematisie­rte, „die archaische Macht“.

STANDARD: Die Grausamkei­t frühkultur­eller Exzesse?

Schuh: Es gibt Verhaltens­weisen, die psychologi­sch nicht aufklärbar sind. Man kann Aggression­en und Regression­en und auch den Hass erklären. Darüber hinaus existieren tiefe Bindungen, die den Tod und die Ausübung von Macht betreffen und die der beruhigend­en Aufklärung nicht zugänglich sind: das Bild vom Machthaber, der als einzig Überlebend­er auf dem Leichenber­g steht.

STANDARD: Der Machthaber erhöht sich durch die Leichen der anderen? Schuh: Das wäre zu psychologi­sch. Es ist nicht der Narzissmus, nichts Subjektive­s, sondern eine Perversion des Überlebens­triebs, der weniger aus einer Wahl als aus den Ritualen der Macht resultiert. Wladimir Putin hoch zu Ross – dergleiche­n findet sich bei Canetti gut beschriebe­n: Das Pferd ermöglicht die unmittelba­re Weiterleit­ung des Befehls. Der Befehl führt über den Körper direkt in den Tierkörper hinein. Diese Linearität der Machtausüb­ung über den Körper hat etwas Erfüllende­s, etwas Verschmelz­endes. Zwischen Macht und Liebe würde man gerne absolut unterschei­den können. Aber in der Zeitung steht, dass jemand aus Liebe seine ExFrau, sein Kind und die Freundin der Frau (weil sie ja schuld an der Zerstörung seiner Familie ist) umgebracht hat.

STANDARD: Aus lauter Liebe.

Schuh: Es gibt bei Gefühlsauf­wallungen, die zu Mörderisch­em führen, einen Wackelkont­akt, eine Koinzidenz der Gegensätze. Das versucht man, dialektisc­h zu beschreibe­n. Aber es bleibt unkontroll­ierbar für diejenigen, die sich am Wackelkont­akt entzünden. Angst weckt oft Mordlust, entsetzlic­h ist auch, dass man die Mordlust durch den Krieg „nationalis­ieren“kann. Das zeigt sich anhand der Schriften Fichtes: Es besteht zwischen der Subjektivi­erung und der Nationalis­ierung ein Zusammenha­ng. Die Nation wird als

eine Art zu verteidige­ndes „Ich“gesehen.

STANDARD: Der Idealist Fichte sprach die „deutsche Nation“direkt an.

Schuh: Verständli­ch, weil die napoleonis­chen Angriffe auf das gute deutsche Wesen einen Schock erzeugt hatten. Einen solchen Schock arbeitet man ab. Die Nationalis­ierung solcher Gewalttate­n exponiert das Ich gegenüber den „anderen“. Wieweit für eine vom Alltag terrorisie­rte Bevölkerun­g solche Überlegung­en heute einen Sinn haben, weiß ich nicht. Immanuel Kant sagte, wir werden entweder ewig Frieden haben, oder wir werden ewigen Frieden à la Friedhof haben. Es müssen Prinzipien gelten, damit der Friede wenigstens die nächsten 14 Tage hält. Eines dieser Prinzipien ist seit der Aufklärung spruchreif: Man überfällt kein anderes Land.

STANDARD: Was tun mit voraufklär­erisch Handelnden?

Schuh: Wenn es passiert – und es erscheint unabwendba­r, dass es passierte –, so war es nur nicht von

vornherein durchschau­t worden. Interessen sind verschiede­n. Kooperatio­n basiert auf einer Ideologie, die auf Globalisie­rung setzt. Globalisie­ren, „Wohlstand schaffen“, alles das. Dass es die „Nähen“sind, die die Gefahren bergen, während einen die Ferne retten könnte, das hätte man wissen können.

STANDARD: Wir haben viel zu global gedacht?

Schuh: Nennen wir es primitiv: „Kapitalism­us“. Diese Form der Produktion, die aus einem Immer-mehr von Produktion besteht, führt auch geografisc­h zu einer Erweiterun­g. Damit immer mehr produziert wird, musst du Zusammenhä­nge produziere­n, die nicht auf der Hand liegen. Solche Zusammenhä­nge schaffen politisch-moralische Probleme. Nämlich die, dass man im Umgang mit Diktatoren nicht so tun kann, als wollte man mit ihnen nichts zu tun haben. Sondern man guckt und schaut, was man bei ihnen heraushole­n kann. Der Diktator ist plötzlich da, nach einer kriegsvorb­ereitenden Friedensze­it, und er will alles. Er will alles zurück. Dadurch bringt er, wie die dümmliche Phrase lautet, „die Weltordnun­g durcheinan­der“.

STANDARD: Aber er sucht keinen Ausgleich der Interessen.

„Manche Formen der Machtausüb­ung sind der Aufklärung nicht zugänglich.“

Schuh: Solche Leute wie unser ehemaliger Wirtschaft­skammer-Präsident und seine Entourage sind bereit, politisch-moralisch zu sagen: „Das ist uns im Grunde wurscht.“Und der Diktator, wenn er einigermaß­en bei Sinnen ist, ist ein Zyniker und verhöhnt sein geschäftem­achendes Gegenüber mit dem Diktum: „Guter Diktator! Guter Diktator!“Der Gute macht aus der Idiotie des Vertrauens, das ihm entgegenge­bracht wird, ein Kasperlthe­ater. Über der Notwendigk­eit, „Handel zu treiben“, wurde die Entwicklun­g hin zum Krieg gern übersehen.

STANDARD: Fehlte es an Hinweisen?

„Die Ungarn konnten Putin besser kalkuliere­n: Viktor Orbán, der Putin fürs Sensible!“

Schuh: Warnungen gibt es immer. Die Ungarn konnten Putins Verhalten besser kalkuliere­n, weil sie es an Viktor Orbán ablesen konnten: Orbán, der Putin fürs Sensible! Es ist ein Phänomen, dass viele Menschen ein „Unbehagen an der Moderne“stets verspürt haben. Dieser soziologis­che Terminus beschreibt, dass die modernen Lebensrege­ln Menschen aushöhlen und ihnen den Gedanken nehmen, dass sie durch die Moderne unendliche Vorteile haben. Menschenme­ngen, die sich zum Beispiel von der Impfration­alität bedroht fühlen, sind nicht einfach belehrbar. Sie fühlen sich wie im Tanz auf dem Vulkan, dessen Feuerkraft nicht kontrollie­rbar ist. Und der, wie wir von Ingeborg Bachmann wissen, dann ausbricht.

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Franz Schuh konstatier­t ein generelles „Unbehagen an der Moderne“: Die Menschen würden vom Fortschrit­t ausgehöhlt.

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