Hitzige Anziehungen und Abstoßungen
Der Roman „Der letzte Sommer in der Stadt“von Giancarlo Calligarich wurde 1973 in Italien zum Erfolg und erscheint jetzt erstmals auf Deutsch.
Leo Gazzara wohnt in Rom. Gekommen ist er aus Mailand, oft wäre er gerne woanders, aber er bleibt. Es ist ein gutes Jahrzehnt nach La dolce vita, eine Zeit der Resignation, der bleiernen Jahre in Italien, des Endes der politischen Träume. Es sind die Jahre, in denen ehemals kommunistische Journalisten beim Fernsehen landen und verarmte Adelige ihre Haltung zu bewahren suchen, während ihnen die Möbel weggetragen werden.
In diese Zeit, in diese Stadt gerät der Ich-Erzähler Leo. Durch seine Augen erleben wir, wo er sich und wo es ihn herumtreibt. Kühl, lapidar, aus der Distanz beobachtet er seinen Alltag. Da ein Film, der ihn nicht interessiert, dort ein Bekannter, den er anpumpen kann, ein Drink aus Langeweile, noch einer, ein Job, den er bald verliert. Und eine Party, die sein Leben vielleicht verändert.
Nervös und wunderschön
Auf dieser Zusammenkunft mehr oder weniger reicher Müßiggänger lernt er Arianna kennen. „Abwesend, fremd und irgendwie nervös“scheint sie ihm, und wunderschön. Zwischen ihnen entspinnt sich eine Beziehung, so extravagant wie anstrengend. Beide bräuchten sie Hilfe, die ihren ziellosen, beschädigten Existenzen eine Richtung geben könnte. Stattdessen spielen sie Spiele von Annäherung und Abstoßung, wie sie es aus ihren bisherigen Leben gekannt haben, und sie kommen aus ihnen nicht heraus. Sie sind Gefangene in ihren Geschichten und in der Hitze Roms.
Es ist Der letzte Sommer in der Stadt: Giancarlo Calligarich, auch in Mailand aufgewachsen (mit Triestiner Wurzeln, wie der Familienname nahelegt) und Anfang der Siebzigerjahre wohnhaft in Rom wie Leo und ähnlich jung, hat sich in die Welt eines Drifters hineingeschrieben, vielleicht aus eigener Erfahrung, wir wissen es nicht, es ist auch nicht wichtig.
Leo jedenfalls fühlt sich „von einem unüberwindlichen Gefühl der Nutzlosigkeit getrieben“. In seinen Versuchen, doch von Nutzen zu sein, wenigstens in der Beziehung zu Arianna, sehen wir, wie er sich selbst im Weg steht. Er sieht es auch. Er spürt, wie sein Versuch, in Mailand seinen Eltern wieder näherzukommen, an alten Wunden und an unüberwindlicher Sprachlosigkeit scheitert.
In dem Roman, der 1973 in Italien zum Erfolg wurde, dann fast in Vergessenheit geriet und nun erstmals auf Deutsch und in mehreren anderen Sprachen erscheint, breitet Calligarich das Innenleben eines Menschen vor uns aus, der zu klug ist, als dass er seinen eigenen Illusionen glauben könnte. Er hat auch keine mehr, wie er das Drehbuch seines einzigen, verstorbenen Freundes verfilmen lassen will. Bevor es zu einer Seifenoper wird, schmeißt er die Idee lieber hin und betrinkt sich.
Ein besonderer Rausch
Die Alternative aber zu dem Leben in einer Stadt, die, wie es gleich zu Beginn heißt, „einen besonderen Rausch“in sich birgt, „der die Erinnerungen verbrennt“– die Alternative ist das Meer. Es ist physisch präsent, ein Sehnsuchtsort, ein Fluchtpunkt für Leo nicht weit von Rom. An der Meeresküste wendet sich die Liebesbeziehung zu Arianna. Es ist auch durchgehende Metapher im Roman, von einem vorangestellten Zitat – für den Psychoanalytiker Sándor Ferenczi ist die Eintrocknung der Meere die erste große Menschheitskatastrophe – bis zu einer häufigen Formulierung in der Erzählung: Die Menschen
gehen nicht einfach woanders hin, sie „setzen die Segel“– aber es ist nicht klar, wohin der Wind sie treibt.
Freunde von Leo haben es mit einem Arbeitsvertrag weit übers Meer nach Mexiko geschafft. Aber sie haben die Segel dann in die Gegenrichtung gesetzt, ohne dass sich viel verändert hätte. (Wie Leo so etwas kühl konstatiert, wie er überhaupt abgeklärt und ironisch über sich und andere nachdenkt, das hat die Übersetzerin souverän übertragen; und „una zucchina“hat sie ganz richtig ins falsche „eine Zucchini“eingedeutscht; das passt).
Zum Meer fährt Leo noch einmal, dort kommt der Roman zu einem plötzlichen, aber, wenn man die Zeichen gelesen hat, nicht wirklich überraschenden Schluss. Nur so viel sei verraten: Die Erzählkonstruktion erinnert an Billy Wilders Sunset Boulevard. Und die vita ist nicht dolce.
höhe des Appenin bei Torrita – den adriatischen Teil der Straße ignoriert er souverän –, akademisch. Zu selten blitzt der essayistische Erzähler auf, der entlang dieser via romana elegant Beobachtungen festhält. Via romana mit „römische Straße“zu übersetzen, ist in diesem Fall falsch. Denn tatsächlich gemeint mit dieser Wendung ist eine Straße, die nach Rom führt. Am Ende sind der Anspruch, aus der Via Salaria ein Sinnund Fundbild der Historie zu machen, und die Realität der Ortungen und daraus gemünzten Erkenntnis-Derivate nicht deckungsgleich.
Der Weg des Helden
Ein ganz anderer Fall ist Der Weg des Helden. Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna, das jüngste Italien-Buch des seit mehr als 40 Jahren in der Lombardei lebenden Engländers Tim Parks. Romancier, Literaturkritiker, Übersetzer und Hochschuldozent, zuletzt Professor für literarisches Übersetzen in Mailand, folgte er 2019 Garibaldi. Der 170 Jahre zuvor vier Wochen lang mit einigen Tausend Getreuen und seiner schwangeren Frau Anita von Rom nach Ravenna floh, verfolgt von Österreichern und Franzosen, wobei Anita starb.
Raffiniert schneidet Parks seine vierwöchige, 3000 Kilometer lange Wanderung mit Partnerin gegen die dramatischen Ereignisse nach dem Scheitern der ausgerufenen „Repubblica Romana“. Wenn auch Garibaldi psychologisch etwas weichzeichnend, weil bewundernd skizziert ist, so liest man doch ein wirklich aufschlussreiches Porträt der Verhältnisse in den tiefländlichen Teilen des Stiefellands.
Man liest von Isolation, Vernachlässigung, Apathie und Zerrissenheit, die im scharfen
Kontrast zu Garibaldis energetischem Kampf für ein geeintes Italien stehen.
Dem Kölner Musikjournalisten und Musiker Eric Pfeil muss man diese Idee neiden:
Italien in 100 canzone schildern. Seine Liste endet in Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien mit „Voce“(2021) von Madame und beginnt mit „Aida“
(1976) von Rino Gaetano. Über jedes Lied sinniert Pfeil mal mehr, mal weniger elanvoll originell, in einer Vignette, drei bis vier Seiten kurz. Die
Auswahl aus 60 Jahren reicht von Vinicio Capossela bis zu
Pop wie Rafs „Self Control“, von Fabrizio De André über Adriano Celentano zu, wohl unvermeidlich, „Volare“, zu Lucio Dalla, zu Richi e Poveri. Ein erlesenes Buch zum Singen.
Wer das Medium wechseln will und das Land, der kann die „Seele“der französischen Kapitale, so der Anspruch der in Paris lebenden Christine Siebert, in Buchform entdecken. Und im Buch Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastischen Spaziergängen erforschen. Allein schon numerisch – Paris zählt so viele Kinofilmsäle wie keine andere Stadt in West- und Mitteleuropa. Jeden Tag werden dort an die 200 Film- und Fernsehproduktionen gedreht.
Paris und das Kino. Das war von Anbeginn an, seit den allerersten Pariser Vorführungen dieser bahn- und oft auch herzbrechenden Innovation durch die frères Lumière am 28. Dezember 1895, eine enorme und erwiderte Liebesbeziehung. Kaum ein Paris-Film, in dem man nicht die Stadtarchitektur wiedererkennt, seit Georges Méliès und der nouvelle vague zu Cédric Klapisch, Julie Delpy und Jacques Audiard. Siebert behandelt diverse Arrondissements wie auch NichtOrte wie die Métro oder den Friedhof Père-Lachaise. Anekdoten trüffeln den Text, der Lust auf die Filme macht. Und auf Paris. Und auf eine Reise dorthin. Und von dort weiter, immer weiter.