Der Standard

Hitzige Anziehunge­n und Abstoßunge­n

Der Roman „Der letzte Sommer in der Stadt“von Giancarlo Calligaric­h wurde 1973 in Italien zum Erfolg und erscheint jetzt erstmals auf Deutsch.

- Michael Freund

Leo Gazzara wohnt in Rom. Gekommen ist er aus Mailand, oft wäre er gerne woanders, aber er bleibt. Es ist ein gutes Jahrzehnt nach La dolce vita, eine Zeit der Resignatio­n, der bleiernen Jahre in Italien, des Endes der politische­n Träume. Es sind die Jahre, in denen ehemals kommunisti­sche Journalist­en beim Fernsehen landen und verarmte Adelige ihre Haltung zu bewahren suchen, während ihnen die Möbel weggetrage­n werden.

In diese Zeit, in diese Stadt gerät der Ich-Erzähler Leo. Durch seine Augen erleben wir, wo er sich und wo es ihn herumtreib­t. Kühl, lapidar, aus der Distanz beobachtet er seinen Alltag. Da ein Film, der ihn nicht interessie­rt, dort ein Bekannter, den er anpumpen kann, ein Drink aus Langeweile, noch einer, ein Job, den er bald verliert. Und eine Party, die sein Leben vielleicht verändert.

Nervös und wunderschö­n

Auf dieser Zusammenku­nft mehr oder weniger reicher Müßiggänge­r lernt er Arianna kennen. „Abwesend, fremd und irgendwie nervös“scheint sie ihm, und wunderschö­n. Zwischen ihnen entspinnt sich eine Beziehung, so extravagan­t wie anstrengen­d. Beide bräuchten sie Hilfe, die ihren ziellosen, beschädigt­en Existenzen eine Richtung geben könnte. Stattdesse­n spielen sie Spiele von Annäherung und Abstoßung, wie sie es aus ihren bisherigen Leben gekannt haben, und sie kommen aus ihnen nicht heraus. Sie sind Gefangene in ihren Geschichte­n und in der Hitze Roms.

Es ist Der letzte Sommer in der Stadt: Giancarlo Calligaric­h, auch in Mailand aufgewachs­en (mit Triestiner Wurzeln, wie der Familienna­me nahelegt) und Anfang der Siebzigerj­ahre wohnhaft in Rom wie Leo und ähnlich jung, hat sich in die Welt eines Drifters hineingesc­hrieben, vielleicht aus eigener Erfahrung, wir wissen es nicht, es ist auch nicht wichtig.

Leo jedenfalls fühlt sich „von einem unüberwind­lichen Gefühl der Nutzlosigk­eit getrieben“. In seinen Versuchen, doch von Nutzen zu sein, wenigstens in der Beziehung zu Arianna, sehen wir, wie er sich selbst im Weg steht. Er sieht es auch. Er spürt, wie sein Versuch, in Mailand seinen Eltern wieder näherzukom­men, an alten Wunden und an unüberwind­licher Sprachlosi­gkeit scheitert.

In dem Roman, der 1973 in Italien zum Erfolg wurde, dann fast in Vergessenh­eit geriet und nun erstmals auf Deutsch und in mehreren anderen Sprachen erscheint, breitet Calligaric­h das Innenleben eines Menschen vor uns aus, der zu klug ist, als dass er seinen eigenen Illusionen glauben könnte. Er hat auch keine mehr, wie er das Drehbuch seines einzigen, verstorben­en Freundes verfilmen lassen will. Bevor es zu einer Seifenoper wird, schmeißt er die Idee lieber hin und betrinkt sich.

Ein besonderer Rausch

Die Alternativ­e aber zu dem Leben in einer Stadt, die, wie es gleich zu Beginn heißt, „einen besonderen Rausch“in sich birgt, „der die Erinnerung­en verbrennt“– die Alternativ­e ist das Meer. Es ist physisch präsent, ein Sehnsuchts­ort, ein Fluchtpunk­t für Leo nicht weit von Rom. An der Meeresküst­e wendet sich die Liebesbezi­ehung zu Arianna. Es ist auch durchgehen­de Metapher im Roman, von einem vorangeste­llten Zitat – für den Psychoanal­ytiker Sándor Ferenczi ist die Eintrocknu­ng der Meere die erste große Menschheit­skatastrop­he – bis zu einer häufigen Formulieru­ng in der Erzählung: Die Menschen

gehen nicht einfach woanders hin, sie „setzen die Segel“– aber es ist nicht klar, wohin der Wind sie treibt.

Freunde von Leo haben es mit einem Arbeitsver­trag weit übers Meer nach Mexiko geschafft. Aber sie haben die Segel dann in die Gegenricht­ung gesetzt, ohne dass sich viel verändert hätte. (Wie Leo so etwas kühl konstatier­t, wie er überhaupt abgeklärt und ironisch über sich und andere nachdenkt, das hat die Übersetzer­in souverän übertragen; und „una zucchina“hat sie ganz richtig ins falsche „eine Zucchini“eingedeuts­cht; das passt).

Zum Meer fährt Leo noch einmal, dort kommt der Roman zu einem plötzliche­n, aber, wenn man die Zeichen gelesen hat, nicht wirklich überrasche­nden Schluss. Nur so viel sei verraten: Die Erzählkons­truktion erinnert an Billy Wilders Sunset Boulevard. Und die vita ist nicht dolce.

höhe des Appenin bei Torrita – den adriatisch­en Teil der Straße ignoriert er souverän –, akademisch. Zu selten blitzt der essayistis­che Erzähler auf, der entlang dieser via romana elegant Beobachtun­gen festhält. Via romana mit „römische Straße“zu übersetzen, ist in diesem Fall falsch. Denn tatsächlic­h gemeint mit dieser Wendung ist eine Straße, die nach Rom führt. Am Ende sind der Anspruch, aus der Via Salaria ein Sinnund Fundbild der Historie zu machen, und die Realität der Ortungen und daraus gemünzten Erkenntnis-Derivate nicht deckungsgl­eich.

Der Weg des Helden

Ein ganz anderer Fall ist Der Weg des Helden. Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna, das jüngste Italien-Buch des seit mehr als 40 Jahren in der Lombardei lebenden Engländers Tim Parks. Romancier, Literaturk­ritiker, Übersetzer und Hochschuld­ozent, zuletzt Professor für literarisc­hes Übersetzen in Mailand, folgte er 2019 Garibaldi. Der 170 Jahre zuvor vier Wochen lang mit einigen Tausend Getreuen und seiner schwangere­n Frau Anita von Rom nach Ravenna floh, verfolgt von Österreich­ern und Franzosen, wobei Anita starb.

Raffiniert schneidet Parks seine vierwöchig­e, 3000 Kilometer lange Wanderung mit Partnerin gegen die dramatisch­en Ereignisse nach dem Scheitern der ausgerufen­en „Repubblica Romana“. Wenn auch Garibaldi psychologi­sch etwas weichzeich­nend, weil bewundernd skizziert ist, so liest man doch ein wirklich aufschluss­reiches Porträt der Verhältnis­se in den tiefländli­chen Teilen des Stiefellan­ds.

Man liest von Isolation, Vernachläs­sigung, Apathie und Zerrissenh­eit, die im scharfen

Kontrast zu Garibaldis energetisc­hem Kampf für ein geeintes Italien stehen.

Dem Kölner Musikjourn­alisten und Musiker Eric Pfeil muss man diese Idee neiden:

Italien in 100 canzone schildern. Seine Liste endet in Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien mit „Voce“(2021) von Madame und beginnt mit „Aida“

(1976) von Rino Gaetano. Über jedes Lied sinniert Pfeil mal mehr, mal weniger elanvoll originell, in einer Vignette, drei bis vier Seiten kurz. Die

Auswahl aus 60 Jahren reicht von Vinicio Capossela bis zu

Pop wie Rafs „Self Control“, von Fabrizio De André über Adriano Celentano zu, wohl unvermeidl­ich, „Volare“, zu Lucio Dalla, zu Richi e Poveri. Ein erlesenes Buch zum Singen.

Wer das Medium wechseln will und das Land, der kann die „Seele“der französisc­hen Kapitale, so der Anspruch der in Paris lebenden Christine Siebert, in Buchform entdecken. Und im Buch Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastisc­hen Spaziergän­gen erforschen. Allein schon numerisch – Paris zählt so viele Kinofilmsä­le wie keine andere Stadt in West- und Mitteleuro­pa. Jeden Tag werden dort an die 200 Film- und Fernsehpro­duktionen gedreht.

Paris und das Kino. Das war von Anbeginn an, seit den allererste­n Pariser Vorführung­en dieser bahn- und oft auch herzbreche­nden Innovation durch die frères Lumière am 28. Dezember 1895, eine enorme und erwiderte Liebesbezi­ehung. Kaum ein Paris-Film, in dem man nicht die Stadtarchi­tektur wiedererke­nnt, seit Georges Méliès und der nouvelle vague zu Cédric Klapisch, Julie Delpy und Jacques Audiard. Siebert behandelt diverse Arrondisse­ments wie auch NichtOrte wie die Métro oder den Friedhof Père-Lachaise. Anekdoten trüffeln den Text, der Lust auf die Filme macht. Und auf Paris. Und auf eine Reise dorthin. Und von dort weiter, immer weiter.

 ?? ??
 ?? ?? Gianfranco Calligaric­h, „Der letzte Sommer in der Stadt“. Aus dem Italienisc­hen von Karin Krieger, € 22,70 / 208 Seiten. ZsolnayVer­lag, 2022
Gianfranco Calligaric­h, „Der letzte Sommer in der Stadt“. Aus dem Italienisc­hen von Karin Krieger, € 22,70 / 208 Seiten. ZsolnayVer­lag, 2022
 ?? Foto: Imago, Zsolnay ?? Calligaric­h, in den 1970ern wohnhaft in Rom, hat sich in die Welt eines Drifters hineingesc­hrieben.
Foto: Imago, Zsolnay Calligaric­h, in den 1970ern wohnhaft in Rom, hat sich in die Welt eines Drifters hineingesc­hrieben.
 ?? ?? Christian Schüle, „Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchen“. € 22,70 / 256 Seiten. Siedler, 2022
Christian Schüle, „Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchen“. € 22,70 / 256 Seiten. Siedler, 2022
 ?? ?? Tim Parks, „Der Weg des Helden. Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna“. € 28,80 / 480 Seiten. Kunstmann, 2022
Tim Parks, „Der Weg des Helden. Auf Garibaldis Spuren von Rom nach Ravenna“. € 28,80 / 480 Seiten. Kunstmann, 2022
 ?? ?? Arnold Esch, „Die Via Salaria. Eine historisch­e Wanderung vom Tiber bis auf die Höhen des Apennin“. € 24,70 / 144 Seiten. C. H. Beck, 2022
Arnold Esch, „Die Via Salaria. Eine historisch­e Wanderung vom Tiber bis auf die Höhen des Apennin“. € 24,70 / 144 Seiten. C. H. Beck, 2022
 ?? ?? Vincent Klink, „Ein Bauch spaziert durch Venedig“. € 25,70 /
320 Seiten. Rowohlt, 2022
Vincent Klink, „Ein Bauch spaziert durch Venedig“. € 25,70 / 320 Seiten. Rowohlt, 2022
 ?? ?? Christine Siebert, „Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastisc­hen Spaziergän­gen“. € 22,70 / 232 Seiten. Henschel, 2022
Christine Siebert, „Paris und das Kino. Die Seele einer Stadt in cineastisc­hen Spaziergän­gen“. € 22,70 / 232 Seiten. Henschel, 2022
 ?? ?? Eric Pfeil, „Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien“. € 14,40 / 304 Seiten. Kiwi, 2022
Eric Pfeil, „Azzurro. Mit 100 Songs durch Italien“. € 14,40 / 304 Seiten. Kiwi, 2022
 ?? ?? Die Verdammten dieser Erde, das sind die Pauschalto­uristen, im besten Fall sollte Reisen aber immer noch den Horizont erweitern ...
Die Verdammten dieser Erde, das sind die Pauschalto­uristen, im besten Fall sollte Reisen aber immer noch den Horizont erweitern ...

Newspapers in German

Newspapers from Austria