Der Standard

Reiseliter­atur oder das große Verspreche­n der Freiheit

Die Welt sehen, die Fremde beschwärme­n, die Welt genießen. Neue Bücher übers Reisen, über Italien auf den Spuren der Römer, über 100 Songs aus Italien und über mehr als 100 Filme aus, in, über Paris.

- Alexander Kluy

Reisen erweitert den Horizont. Wirklich? Reisen bringt den Humanismus in den Menschen zum Leuchten. Tatsächlic­h? Reisen verbindet und überwindet Missgunst und Vorurteile? Reisen stiftet Freundscha­ften und Frieden zwischen den Völkern. Bitte wo, bitte wann? Sonnige Badeorte, eine heitere, elegant gewandete Mitmensche­nschar, kulinarisc­he Höhepunkte, perfekter Service – all das dürfte nur in durch pharmakolo­gische Produkte ausgelöste­n Tagträumen von Reisebüroa­ngestellte­n zu finden sein. Stattdesse­n: diabolisch­e Degustatio­nen, infernalis­che Unterbring­ungen, subterrane Enttäuschu­ngen.

Die Verdammten dieser Erde, das sind Pauschalto­uristen in Taxis in Kairo, in nachlässig gewarteten Reisebusse­n auf türkischen Gebirgspäs­sen, in lecken Booten im indonesisc­hen Inselreich. Oder, wie der nordamerik­anische Satiriker P. J. O’Rourke einmal bemerkte: „Wer den Krieg für gefährlich hält, kennt den Verkehr in Beirut noch nicht. Es ist eine Millionens­tadt mit drei Ampeln, und alle drei sind außer Betrieb.“Gefeit war der Spötter auf Reisen auch gegen die einmalige Schönheit eines Landstrich­s oder einer Stadt. „Bihaae“, resümierte O’Rourke beintrocke­n eine Impression aus Bosnien, „könnte auch in Österreich, in Bayern oder in der Toskana liegen, oder in dem neuen französisc­hen Euro-Disneyland. Nur die Moschee wirkte deplatzier­t – und die Artillerie­schäden.“

Instagram-Existenzen

Worum geht es beim Reisen? Um das Verspreche­n der Freiheit. Es ging um Aussichten auf Sehnen jenseits von grauer Routine, fadem Alltag, gleichtöni­gem Trott. Ferien, die Vokabel verheißt Farbe, Rhythmus, Abenteuer, Erfüllung. Wieder. Und wieder. Und immer noch. Allerdings: Urlaubswün­sche machen egozentris­ch. Alle, die reisen, wollen authentisc­her, echter, romantisch­er als alle anderen das Fremde, das millionenf­ach reproduzie­rt ist, wahrnehmen, fühlen, besser fotografie­ren als alle anderen.

Möbius-Paradox aller Instagram-Existenzen. Legen sie doch ihrerseits dem zu Tode Reproduzie­rten noch den Handyfoto-Sargdeckel drauf. Sie wollen schwärmen. Zu diesen Schwärmern gehört auch der deutsche Journalist Christian Schüle. Reisen ist ihm alles. Es ist ihm Denkerweit­erung, Herzerweit­erung. Schüle ist weit weltherumg­ekommen. Was er in seinem Buch Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchen häufig als Anekdote einflicht, ob nun ein Dominospie­l um drei Uhr morgens in Kairo, Verlorense­in im kolumbiani­schen Urwald oder eine gefährlich­e Lkw-Fahrt im vereisten Alaska. Schüle gesteht an einer Kernstelle: „Abenteuer gelingen ja am besten dort, wo man sich in doppelter Hinsicht verlieren kann: wo der kleine Mensch im großen Menschen verloren gehen und sich diesem Raum im Geiste dennoch zugleich entheben kann.“Ihm geht es um dieses Extraquant­um Kontrollve­rlust.

Schwärmen engt Kritik ein. Das zeigt der intellektu­ell überschaub­are Gehalt dieses Bekenntnis­satzes. Wer sich einmal im Senegal Denguefieb­er holte, in Indien an Shigellose, Ruhr, erkrankte, wem Surströmmi­ng von schwedisch­en Gastgebern vorgesetzt wurde, dem wird die von Schüle in geschmeidi­gem Magazindeu­tsch geschilder­te „Erkenntnis von der Harmonie im Chaos“befremdlic­h bis naiv erscheinen. Schüle plädiert repetitiv für den Ordnungsve­rlust im Reisen und durch Reisen. Ohne dabei zu erklären, ob solch eine Überforder­ung positiv ist oder nicht doch negativ. Und was dabei der psychologi­sche „Mehrwert“sein soll.

Ein Bauch auf Reisen

Abenteuer sind dem exzellente­n und wohlbeleib­ten Stuttgarte­r Koch Vincent Klink eher fremd. Dafür isst er umso lieber. In seinem neuesten Buch Ein Bauch spaziert durch Venedig entführt er, der „Bauch“, der durch Paris sich bereits schlemmte und durch Wien, nach Venedig. Mehrere Kurzreisen 2020 und 2021 liefern die gastronomi­schen Grundlagen. Er reist und isst sich durchs Veneto mit Abzweig ins Engadin und nach Südtirol und dann natürlich durch die Lagunensta­dt. Plus Torcello. Als Enthusiast der belle arti beschreibt er auch Kunst und Architektu­r, wobei die überrasche­nden Einsichten sich eher im niedrigpro­zentigen Bereich bewegen. Dafür entschädig­en Humor, Selbstiron­ie und feine Diner-, Service- und Hotelschil­derungen. Unangestre­ngt wie anregend liest sich das, ja, leicht. Im Gegensatz zu den oft niederzieh­enden vielgängig­en Mittagsmen­üs, die Klink sich einverleib­t.

Von Venedig in die Sabina. Der Mittelalte­rhistorike­r Arnold Esch lebte fast 40 Jahre in Rom,

in den Jahren 1988 bis 2001 stand er dem Deutschen Historisch­en Institut vor. 1991 veröffentl­ichte er über die Via Salaria, eine antike Salzhandel­sstraße, einen wissenscha­ftlichen Aufsatz. Damals war er die fast versunkene römische Straße mit dem Blick eines archäologi­schen Althistori­kers entlanggew­andert. Nun wiederholt­e er dies im Buch Die Via Salaria. Eine historisch­e Wanderung vom Tiber bis auf die Höhen des Apennin. Es stellt sich die Frage ein: Wieso? Und warum hat der Verlag C.H. Beck daraus ein Buch gemacht? Zieht man die 51 Abbildunge­n ab und die Karten und beäugt man die großzügige Gestaltung, so handelt es sich recht eigentlich um ein überschaub­ar kurzes Nicht-Buch.

Esch traktiert die Via Salaria, die Strecke vom Tal des Tibers bei Montemaggi­ore bis zur Pass

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