Reiseliteratur oder das große Versprechen der Freiheit
Die Welt sehen, die Fremde beschwärmen, die Welt genießen. Neue Bücher übers Reisen, über Italien auf den Spuren der Römer, über 100 Songs aus Italien und über mehr als 100 Filme aus, in, über Paris.
Reisen erweitert den Horizont. Wirklich? Reisen bringt den Humanismus in den Menschen zum Leuchten. Tatsächlich? Reisen verbindet und überwindet Missgunst und Vorurteile? Reisen stiftet Freundschaften und Frieden zwischen den Völkern. Bitte wo, bitte wann? Sonnige Badeorte, eine heitere, elegant gewandete Mitmenschenschar, kulinarische Höhepunkte, perfekter Service – all das dürfte nur in durch pharmakologische Produkte ausgelösten Tagträumen von Reisebüroangestellten zu finden sein. Stattdessen: diabolische Degustationen, infernalische Unterbringungen, subterrane Enttäuschungen.
Die Verdammten dieser Erde, das sind Pauschaltouristen in Taxis in Kairo, in nachlässig gewarteten Reisebussen auf türkischen Gebirgspässen, in lecken Booten im indonesischen Inselreich. Oder, wie der nordamerikanische Satiriker P. J. O’Rourke einmal bemerkte: „Wer den Krieg für gefährlich hält, kennt den Verkehr in Beirut noch nicht. Es ist eine Millionenstadt mit drei Ampeln, und alle drei sind außer Betrieb.“Gefeit war der Spötter auf Reisen auch gegen die einmalige Schönheit eines Landstrichs oder einer Stadt. „Bihaae“, resümierte O’Rourke beintrocken eine Impression aus Bosnien, „könnte auch in Österreich, in Bayern oder in der Toskana liegen, oder in dem neuen französischen Euro-Disneyland. Nur die Moschee wirkte deplatziert – und die Artillerieschäden.“
Instagram-Existenzen
Worum geht es beim Reisen? Um das Versprechen der Freiheit. Es ging um Aussichten auf Sehnen jenseits von grauer Routine, fadem Alltag, gleichtönigem Trott. Ferien, die Vokabel verheißt Farbe, Rhythmus, Abenteuer, Erfüllung. Wieder. Und wieder. Und immer noch. Allerdings: Urlaubswünsche machen egozentrisch. Alle, die reisen, wollen authentischer, echter, romantischer als alle anderen das Fremde, das millionenfach reproduziert ist, wahrnehmen, fühlen, besser fotografieren als alle anderen.
Möbius-Paradox aller Instagram-Existenzen. Legen sie doch ihrerseits dem zu Tode Reproduzierten noch den Handyfoto-Sargdeckel drauf. Sie wollen schwärmen. Zu diesen Schwärmern gehört auch der deutsche Journalist Christian Schüle. Reisen ist ihm alles. Es ist ihm Denkerweiterung, Herzerweiterung. Schüle ist weit weltherumgekommen. Was er in seinem Buch Vom Glück, unterwegs zu sein. Warum wir das Reisen lieben und brauchen häufig als Anekdote einflicht, ob nun ein Dominospiel um drei Uhr morgens in Kairo, Verlorensein im kolumbianischen Urwald oder eine gefährliche Lkw-Fahrt im vereisten Alaska. Schüle gesteht an einer Kernstelle: „Abenteuer gelingen ja am besten dort, wo man sich in doppelter Hinsicht verlieren kann: wo der kleine Mensch im großen Menschen verloren gehen und sich diesem Raum im Geiste dennoch zugleich entheben kann.“Ihm geht es um dieses Extraquantum Kontrollverlust.
Schwärmen engt Kritik ein. Das zeigt der intellektuell überschaubare Gehalt dieses Bekenntnissatzes. Wer sich einmal im Senegal Denguefieber holte, in Indien an Shigellose, Ruhr, erkrankte, wem Surströmming von schwedischen Gastgebern vorgesetzt wurde, dem wird die von Schüle in geschmeidigem Magazindeutsch geschilderte „Erkenntnis von der Harmonie im Chaos“befremdlich bis naiv erscheinen. Schüle plädiert repetitiv für den Ordnungsverlust im Reisen und durch Reisen. Ohne dabei zu erklären, ob solch eine Überforderung positiv ist oder nicht doch negativ. Und was dabei der psychologische „Mehrwert“sein soll.
Ein Bauch auf Reisen
Abenteuer sind dem exzellenten und wohlbeleibten Stuttgarter Koch Vincent Klink eher fremd. Dafür isst er umso lieber. In seinem neuesten Buch Ein Bauch spaziert durch Venedig entführt er, der „Bauch“, der durch Paris sich bereits schlemmte und durch Wien, nach Venedig. Mehrere Kurzreisen 2020 und 2021 liefern die gastronomischen Grundlagen. Er reist und isst sich durchs Veneto mit Abzweig ins Engadin und nach Südtirol und dann natürlich durch die Lagunenstadt. Plus Torcello. Als Enthusiast der belle arti beschreibt er auch Kunst und Architektur, wobei die überraschenden Einsichten sich eher im niedrigprozentigen Bereich bewegen. Dafür entschädigen Humor, Selbstironie und feine Diner-, Service- und Hotelschilderungen. Unangestrengt wie anregend liest sich das, ja, leicht. Im Gegensatz zu den oft niederziehenden vielgängigen Mittagsmenüs, die Klink sich einverleibt.
Von Venedig in die Sabina. Der Mittelalterhistoriker Arnold Esch lebte fast 40 Jahre in Rom,
in den Jahren 1988 bis 2001 stand er dem Deutschen Historischen Institut vor. 1991 veröffentlichte er über die Via Salaria, eine antike Salzhandelsstraße, einen wissenschaftlichen Aufsatz. Damals war er die fast versunkene römische Straße mit dem Blick eines archäologischen Althistorikers entlanggewandert. Nun wiederholte er dies im Buch Die Via Salaria. Eine historische Wanderung vom Tiber bis auf die Höhen des Apennin. Es stellt sich die Frage ein: Wieso? Und warum hat der Verlag C.H. Beck daraus ein Buch gemacht? Zieht man die 51 Abbildungen ab und die Karten und beäugt man die großzügige Gestaltung, so handelt es sich recht eigentlich um ein überschaubar kurzes Nicht-Buch.
Esch traktiert die Via Salaria, die Strecke vom Tal des Tibers bei Montemaggiore bis zur Pass