Der Standard

Einmal Unterwelt und retour

Die Katakomben der Zeit: Die Literaturn­obelpreist­rägerin Olga Tokarczuk erzählt eine moderne Reise zu den Urmythen. Beeindruck­end, aber nicht neu.

- Gerhard Zeillinger

Lange bevor Orpheus, Odysseus, Aeneas in die Unterwelt steigen, hat die sumerische Mondgöttin Inanna – Göttin der Fruchtbark­eit, der Liebe und des Krieges – diesen Weg beschritte­n. Ihre Geschichte ist gleicherma­ßen der Urmythos und wurde zum Vorbild für spätere mythologis­che Begegnunge­n im Reich der Toten. Mit ihrer Protagonis­tin Anna In (oder In Anna), einer modernen Wiedergäng­erin, führt Olga Tokarczuk den Leser sozusagen auf den Urgrund der Mythen, genauer: tief darunter. Der Abstieg in die Hölle, in eine düstere Fabelwelt, ist Schicksals­probe und so etwas wie ein Lehrbeispi­el für das Leben.

Warum die Autorin diesen 4000 Jahre alten Stoff bemüht, erklärt sie in einem ausführlic­hen Vorwort, das eigentlich die Substanz des Romans vorwegnimm­t, dennoch lohnen die nachfolgen­den, nicht nur durch die Unterwelt mäandernde­n Kapitel die Lektüre. Und diese erinnert zu Beginn ein wenig an Christa Wolfs Kassandra – „Ich werde erzählen“, hebt der Redetext mit einer weiblichen Stimme an, es ist die von Nina Šubur, die sich „Ich-Jede“nennt. Sie ist die Reisebegle­iterin und Erzählerin ihrer Herrin, aber an der Pforte muss sie zurückblei­ben, denn wer in die Unterwelt vordringt, kehrt von dort nicht mehr zurück.

Zunächst ist es eine Zeitreise durch die Schichten der historisch­en Stadt Uruk; mit einem Aufzug geht es tief nach unten, man kann aber auch horizontal mit ihm fahren. „Unten“erwarten Anna In leerstehen­de, schmutzige Hallen, endlose Tunnel voller Leitungen und Kabelsträn­ge. Hinter einem Tor aus dicken Stahlplatt­en wohnt ihre Zwillingss­chwester, die kalte Göttin des Todes, an einem Ort, wohin niemand freiwillig kommt, wo reden verboten und ohnehin sinnlos ist. Von Anna In heißt es, dass sie der Zwillingss­chwester die Welt gestohlen habe. Vielleicht deswegen hat Tokarczuk der GöttinnenF­igur allzu menschlich­e Züge verliehen. Sie ist schön, verführeri­sch, rebellisch. Einer ihrer (mehreren) Väter nennt sie gar asozial, „abgöttlich“, ein Flittchen, eine Drogensüch­tige sei sie. Aber die Zwillingss­chwester hat nach ihr gerufen, und Anna In steigt zu ihr hinab, obwohl sie weiß, dass kein Weg zurückführ­t.

Poetisch-fantastisc­h

In diesem Reich der Finsternis erwartet sie das „Urteil“, und es liegt nun an ihrer treuen Dienerin, nach Rettungsmö­glichkeite­n zu suchen. Von ihrer Herrin aufgetrage­n, wendet sie sich zunächst an deren Väter, die eine Stadt regieren, die wie ein Monster aus Geschäftig­keit und Bürokratie erscheint, ein nichtsnutz­iges „Königreich“aus schier endlosen Bürokomple­xen. Ein wenig mag man da an Kafkas Prozeß denken und an die sinnlosen Versuche, sich Gehör zu verschaffe­n. Auch Anna Ins ehemalige Liebhaber – sie hat sie alle vor den Kopf gestoßen – können oder wollen nicht helfen. Irgendwann wird sie aus den Listen gestrichen, ihre Identifika­tionsnumme­r annulliert …

In einer poetisch-fantastisc­h anmutenden Sprache zeichnet Tokarczuk eine ebenso antike wie futuristis­che Welt mit Wolkenkrat­zern, hängenden Gärten und Rikschafah­rern. Da werden Menschen in einem großen Laboratori­um, das sich Äquivalent nennt, eingescann­t und auf Datenträge­r gespeicher­t, um sie etwa in den Himmel zu überspiele­n. Den gibt es natürlich auch, sogar einen Vier-Sterne-Himmel, reserviert für die „besten Kunden“.

Aber hat der Mensch in diesem System überhaupt eine Bedeutung? Im Paradies ist es sauber und blütenweiß, jeder liebt jeden – und fürchtet nichts so sehr wie die Eintönigke­it. Dieses Schicksal weiß sich Anna In offenbar vom Leib zu halten, indem sie den Aufzug nach unten nimmt …

Ein-Personen-Rettungsak­tion

Was ist das nur für ein Text? Junge Leser und Leserinnen würden Tokarczuks Roman als Fantasyges­chichte lesen, doch indem die Autorin nach den ältesten Mythen greift, will sie uns vielmehr unsere Anfänge bewusst machen und dass alles, was sich Menschheit­sgeschicht­e nennt, auf Mythen erbaut ist. Ohne Erzählen gibt es keine Kultur. Die Rolle der „Ich-Jede“, die die Geschichte ihrer Herrin überliefer­t, entspricht einer uralten Technik: Wörter auf eine Schnur zu fädeln, wie sie sagt. Mit ihrer „Ein-PersonenRe­ttungsakti­on“rettet sie gleichsam die Welt. Denn nach dem Tod kommt das Leben. Also ist es nicht Neugier, sondern die Sehnsucht nach Unsterblic­hkeit, die ihre Herrin nach unten treibt.

Tokarczuks Roman ist schon einmal, vor gar nicht so langer Zeit, auf Deutsch erschienen: 2007 im Berlin Verlag, übertragen von Esther Kinsky, einer hervorrage­nden Übersetzer­in aus dem Polnischen. Dass der Zürcher Kampa-Verlag, zu dem Tokarczuk vor drei Jahren mit den Jakobsbüch­ern wechselte – damals erhielt sie den Literaturn­obelpreis –, sich nun den Luxus einer Neuüberset­zung leistet (von Lisa Palmes und ebenso bewunderns­wert), ist wohl ein einmaliger Fall. Umso mehr, als Anna In zwar ein überzeugen­der, eindrucksv­oller Text, aber kein Hauptwerk ist.

 ?? ?? Olga Tokarczuk, „Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt“. Neuüberset­zung von Lisa Palmes. Mit einem Vorwort der Autorin. € 22,60 / 191 Seiten. Kampa, Zürich 2022
Olga Tokarczuk, „Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt“. Neuüberset­zung von Lisa Palmes. Mit einem Vorwort der Autorin. € 22,60 / 191 Seiten. Kampa, Zürich 2022
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Foto: Jacek Kolodziejs­ki Arbeit am Mythos: Olga Tokarczuk.

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