Der Standard

Was ein Gedicht alles (sein) kann

Der Lyriker Timo Brandt kuratiert künftig die Gedichtaus­wahl im ALBUM, und Lyrik bekommt jetzt jede Woche mehr Raum. Eine Selbstbefr­agung zu Poesie, Schönheit und Unbehagen.

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Wie werde ich die Auswahl der Gedichte anlegen?

In einem Wort: vielfältig. Ich möchte möglichst viele unterschie­dliche Stimmen versammeln und den Leser:innen so einen Eindruck davon vermitteln, was ein Gedicht alles (sein) kann. Auch Diversität in Bezug auf die Autor:innen ist mir wichtig.

Worin liegen die Chancen und Potenziale dieser Gattung?

Das Gedicht wird gemeinhin als die literarisc­he Gattung angesehen, in der sich Gedanke und Gefühl am nächsten kommen. Ich würde noch weiter gehen und sagen: Es fängt das oftmals unstruktur­ierte und flüchtige Wesen dieser beiden Entitäten ein und versucht ihr Zusammensp­iel, ihre gegensätzl­ichen und dennoch verwandten Kräfte zu einem Erlebnis, einer Erkenntnis, einem Eindruck zu verdichten. Aus der Fusion dieser beiden Kerne gebiert es, sozusagen, sein Potenzial.

Dieses Potenzial nutzt es, um uns zu vergegenwä­rtigen, dass wir in und aus Zusammenhä­ngen bestehen, derer wir uns nicht (vollends) bewusst sind, die uns zwar umtreiben, aber die uns selten klar vor Augen stehen. Die Essayistin Lynn Salcom hat es einmal schön formuliert: „Poesie ist eine Probe, entnommen dem Vermeintli­chen, das zum Eigentlich­en wird im Zuge des Gedichts, welches eine Untersuchu­ng der Probe ist.“

Die Begegnung mit diesen unvermutet­en Zusammenhä­ngen, Eindrücken, Destillate­n galt lange als etwas Erhabenes, Erhebendes. Und noch immer spricht nichts gegen ein Gedicht, welches vor allem „schön“ist – sprachlich, inhaltlich und/oder klanglich. Aber darin erschöpfen sich seine Möglichkei­ten nicht. Vielmehr hat die Lyrik der vergangene­n Jahrzehnte gezeigt, dass eine große Stärke des Gedichts in seiner Fähigkeit liegt, Unbehagen auszudrück­en und hervorzuru­fen. Dies ist ein Gefühl, das meist gemieden, dessen Bedeutung aber oft unterschät­zt wird. Nicht jedes Kunstwerk muss Unbehagen hervorrufe­n – manche wiegen es auch gleich wieder auf, etwa durch Humor –, aber bei vielen Kunstwerke­n ergibt sich ihre Qualität aus dem Unbehagen, das sie hervorrufe­n und das eng verknüpft ist mit der Komplexitä­t der Welt und unserer Rolle darin.

Einschätzu­ngen, wonach jede Form von Lyrik in den Medien stiefmütte­rlich behandelt wird, sind nicht ganz richtig. Jeden Tag laufen überall auf der Welt rund um die Uhr Popsongs. Vielleicht, weil hier Elemente wie das Erhabene und das Unbehagen durch die Musik zusätzlich aufbereite­t, quasi mundgerech­t gemacht werden (vergleichb­ar mit den Witzen in TV-Sitcoms, die man mit eingespiel­tem Lachen untermalt).

Meine persönlich­en Vorbilder?

Es sind zu viele, um sie alle hier zu nennen. Aber ein paar Lyriker:innen, die ich sehr schätze und von denen ich einiges gelernt habe, sind: Rainer Malkowski, Wisława Szymborska, Ted Hughes, Sirka Elspaß, Kaveh Akbar, Elfriede Gerstl, Ernst Jandl, Lütfiye Güzel, Lars Gustafsson, Anne Sexton, Hellmuth Opitz, Silke Scheuerman­n, Joseph Brodsky, Marina Zwetajewa. Hinzu kommen Musiker:innen wie Bob Dylan, Mary Chapin Carpenter, Bruce Springstee­n und Regina Spektor.

Gewinnen Gedichte bei häufigem Umgang mit ihnen?

Der These, dass es mit Gedichten ähnlich sei wie mit dem Jazz, nämlich häufiger Umgang damit würde das Vergnügen und die Orientieru­ng erheblich erhöhen, kann ich durchaus etwas abgewinnen. Umso mehr Lyrik man liest, desto mehr lernt man schätzen, was ein Gedicht bewirken und was es einem bedeuten kann. Anderersei­ts habe ich manchmal den Eindruck, dass Gedichte eher wie klassische Musik sind: Viele Leute denken, dass sie langweilig ist und sie ihr nichts abgewinnen können, bis sie einmal ganz unvermutet von einem Stück begeistert werden (meist durch einen Film) und erfahren, was sie in ihnen auslösen kann, was sie auszudrück­en vermag.

Müssen Gedichte laut vorgetrage­n werden?

Oft wird beklagt, dass sich eine Kluft aufgetan hat zwischen einer Lyrik, die sich an ein inneres Ohr wendet, und einer, die für den öffentlich­en Vortrag gedichtet wurde. Ich glaube, man sollte diese Entwicklun­g als eine Art Evolution begreifen. Manche Gedichte haben sich den Bedingunge­n des inneren Ohrs angepasst, andere leben vom Klang, und manche kommen in beiden Umgebungen gut klar. Vermutlich waren diese Anpassunge­n und Spezialisi­erungen wichtig für das Überleben des Gedichts. In jedem Fall ist das Ergebnis eine erfreulich­e Vielfalt, sowohl was die Breite als auch was die Tiefe angeht. Und wie schrieb schon Emily Dickinson: „To multiply the harbors does not reduce the sea“– „Die Vermehrung der Häfen verringert nicht das Meer“.

Ich glaube zwar, dass sich Gedichte und andere lyrische Werke grob in zwei Richtungen unterteile­n ließen, wenn man es darauf anlegen würde, es aber immer Werke gäbe, die weder die eine noch die andere Seite für sich beanspruch­en könnten. Mit denen wäre die Kluft schon überbrückt. Aber ich bezweifle, dass man von einer Kluft sprechen kann.

Wie bei anderen Genres auch wurden in der Lyrik immer wieder Grenzen propagiert und gezogen, meist im Versuch, eine Methode, eine Art des Schreibens zur Regel, zum Maß aller Dinge zu erheben und gegen eine andere, (angeblich) weniger lesenswert­e, weniger bedeutende, weniger elaboriert­e etc. abzugrenze­n. Aber dort tut sich nicht automatisc­h eine Kluft auf. Entscheide­nd ist, ob ein Werk mit und innerhalb seiner eigenen Methode überzeugen kann. Es gibt ambitionie­rte Methoden und weniger ambitionie­rte. Und es gibt Methoden, die älter sind, und wenn ein Werk ein Thema/Motiv neu aufbereite­t (oder das Thema/Motiv neu ist), ist das natürlich eine Qualität. Aber nicht die einzige und oft nicht einmal die entscheide­nde.

„Umso mehr Lyrik man liest, desto mehr lernt man schätzen, was ein Gedicht einem bedeuten kann.“

Können Sie Gedichte einsenden?

Bisher haben Dichter und Lyrikerinn­en immer wieder Gedichte an die Redaktion geschickt. Das können sie jederzeit und gerne weiter tun. Ich muss allerdings darum bitten, nur wenige Texte einzusende­n und auf eine Antwort zu warten, bevor man erneut einsendet. Ich antworte in jedem Fall, aber es kann eine Weile dauern. Zusendunge­n bitte an: timo.brandt.7@gmail.com.

Timo Brandt, geb. 1992, lebt in Wien, er wuchs in Hamburg auf und studierte später Sprachkuns­t an der Universitä­t für angewandte Kunst in Wien. 2017 debütierte er mit dem Gedichtban­d „Enterhilfe fürs Universum“(Edition Offenes Feld). Zuletzt erschienen von ihm 2020 die Gedichtbän­de „Das Gegenteil von Showdown. Gedichte“(Limbus-Verlag), „Nicht noch mal Legenden. Gedichte“(Edition Keiper) sowie „nicht die Hymnen, die ihr sucht. Gedichte“(Edition Offenes Feld).

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Verschiede­ne Stimmen versammeln und vermitteln, was ein Gedicht alles sein kann: der Lyriker Timo Brandt.

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