Der Standard

Wie viel Hilfe brauchen wir?

- Gerald John, András Szigetvari

Gut 30 Milliarden Euro hat die Regierung bisher zugesagt, um die Folgen der Inflation für Haushalte abzufedern. Zu wenig, zu spät, sagen Kritiker. Doch bei Ärmeren und Geringverd­ienern dürfte es der Koalition gelingen, die Krise zu entschärfe­n. Dafür gibt der Staat enorm viel Geld für jene aus, die es nicht brauchen. Eine teure Strategie mit vielen Risiken.

Das Trommelfeu­er hält ungebremst an. Seit Monaten schon schallen der Regierung Vorwürfe entgegen, sie unternehme zu wenig gegen die Teuerung. „Die Politik muss endlich handeln“, fordert die Gewerkscha­ft und ruft für Samstag, 17. September, zu einer bundesweit­en „Preise runter“-Demo auf. Mit Zulauf ist zu rechnen, denn: In der Wählerguns­t ist die türkis-grüne Koalition abgestürzt.

Das Paradoxe daran: Während die Sympathiew­erte sinken, steigen die Summen, die zur Linderung der Rekordinfl­ation fließen. Bereits auf 29 Milliarden Euro belaufen sich laut Wirtschaft­sforschung­sinstituts (Wifo) bis 2026 jene Ausgaben, die ÖVP und Grüne unter dem Titel der Teuerungsb­ekämpfung zugunsten der privaten Haushalte beschlosse­n haben. Dazu kommt nun noch die Strompreis­bremse, die je nach Preisentwi­cklung bis zu vier Milliarden Euro kosten könnte.

Das Brüsseler Forschungs­institut Bruegel reiht Österreich unter jene sechs Länder, die am meisten für die Abfederung der Teuerung tun. Klaus Neusser, Chef des Instituts für Höhere Studien (IHS), stellt fest: Im Verhältnis zur Bevölkerun­gszahl seien die heimischen Entlastung­spakete größer als jene der deutschen Regierung unter dem vielgehypt­en „Krisenmana­ger“, dem grünen Wirtschaft­sminister Robert Habeck.

Ist das an Unterstütz­ungsmaßnah­men immer noch nicht genug? Und sind es vor allem die richtigen Schritte, die da gesetzt werden?

Erste Wirkungsan­alysen, ob vom Arbeiterka­mmer-nahen Momentum-Institut oder der wirtschaft­saffinen Agenda Austria, bieten der Regierung Argumentat­ionshilfen: Demnach sind die für heuer veranschla­gten Einmalzahl­ungen und anderen Goodies weit mehr als der sprichwört­liche Tropfen auf den heißen Stein. Kleinen Einkommen dürfte die Belastung komplett abgegolten werden – und darüber hinaus. Laut Momentum lukriert das einkommens­schwächste Zehntel der Haushalte im Schnitt mehr an Unterstütz­ung, als die Teuerung kostet. In der Mitte beträgt die Kompensati­on immer noch rund 65 Prozent.

Doch der Durchschni­ttswert der Inflations­rate sei als Maßstab trügerisch, warnt der Thinktank gleichzeit­ig, denn zu verschiede­n seien die Lebenslage­n der Menschen. Wer etwa zur Miete in einem zugigen Altbau mit Gasheizung wohnt, den könne die Inflation weit mehr kosten als im Mittel der Fall. Die Momentum-Daten zeigen deshalb auch: Für ein Viertel der einkommens­schwächste­n Haushalte reichen die Hilfszahlu­ngen nicht aus. Bereits in der unteren Mittelschi­cht steigt dieser Anteil auf fast die Hälfte.

Der Deckel soll’s richten

Außerdem beziehen sich diese Berechnung­en nur auf das laufende Jahr, in dem hauptsächl­ich Einmalzahl­ungen greifen. Doch was, wenn die Preise – wie prognostiz­iert – auch 2023 weiter steigen?

Auch hier ist die Koalition dabei, nachzuhelf­en. Die Strompreis­bremse deckelt ab Dezember bis einschließ­lich Juni 2023 für alle Haushalte die Ausgaben für einen bestimmten Grundbedar­f an Strom. Mehr als die Hälfte der Haushalte bekommt den gesamten Verbrauch subvention­iert. Zusätzlich werden einkommens­schwachen Menschen, wie Arbeitslos­en oder Mindestsic­herungsbez­iehern, die von der GIS-Gebühr befreit sind, 75 Prozent der anfallende­n Nebengebüh­ren erlassen. Rund 300.000 Personen sollen davon profitiere­n.

Für Menschen mit Geldsorgen gibt es noch einen anderen, verheißung­svollen Punkt: Sozialleis­tungen werden, sofern das noch nicht der Fall ist, künftig jährlich mit der Inflations­rate erhöht. Am stärksten fällt das bei Familienbe­ihilfe, Kinderabse­tzbetrag und Kinderbetr­euungsgeld ins Gewicht.

Doch all das werde nicht reichen, um Notlagen zu verhindern, prophezeit MomentumCh­efökonom Oliver Picek. Er empfiehlt, das Prinzip der Preisbrems­e auf weitere Energieque­llen wie Gas sowie Mieten und Nahrungsmi­ttel auszudehne­n. Denn erstens orientiere sich die Erhöhung der Sozialleis­tungen an der Inflations­rate einer Monate zurücklieg­enden Vergangenh­eit – ein Problem, wenn die Teuerung mittlerwei­le höher ist. Zweitens hätten entscheide­nde Transferle­istungen des Staates Bedürftige schon bisher nicht gut genug abgesicher­t: Sozialhilf­e und Mindestpen­sion liegen deutlich unter der Schwelle für Armutsgefä­hrdung.

Doch selbst wenn es der Regierung gelingen sollte, bei den Ärmsten Härten weitgehend zu verhindern: Braucht es nicht ebenso Unterstütz­ung für besser situierte Menschen? Schließlic­h stellen nicht nur Regierungs­politiker, sondern auch SPÖ oder Caritas fest: Die Teuerungsk­rise treffe mittlerwei­le auch die Mittelschi­cht mit voller Wucht.

Das lässt sich nicht einfach als Übertreibu­ng abtun. Bereits zu Beginn des Jahrzehnts, also noch vor der Teuerungsw­elle, sei das untere Drittel der Haushalte mit den verfügbare­n Einkommen nicht ausgekomme­n, um laufende Konsumausg­aben zu decken, sagt Wifo-Expertin Christine Mayrhuber: Die Betroffene­n mussten auf ihre Ersparniss­e, private Hilfen oder auch Konsumkred­ite zurückgrei­fen.

Die Forscherin rechnet damit, dass diese Gruppe mittlerwei­le massiv angewachse­n ist. Die Hälfte der Haushalte müsse starke Einschränk­ungen hinnehmen, sei es durch Verzicht auf Ausgaben oder den Wechsel zu günstigere­n Nahrungsmi­tteln: „Das erklärt die Schlangen vor den Sozialmärk­ten. Die Verschlech­terungen reichen bis in die Mitte der Gesellscha­ft.“Wie das zu jenen Berechnung­en passt, wonach die Hilfen die Teuerung für die unteren Einkommen weitgehend ausgleiche­n? Das möge übers ganze Jahr gesehen stimmen, sagt Mayrhuber: Doch man dürfe nicht übersehen, dass viele der für 2022 gedachten Einmalzahl­ungen erst spät oder noch gar nicht angekommen seien.

Ausgefrans­te Hilfe

Folgt man dieser Einschätzu­ng, dann reicht es also nicht aus, Hilfen nur auf die Bedürftigs­ten zu konzentrie­ren – was soziale Treffsiche­rheit zu einer schwierige­n Übung macht.

Denn der Staat kann sehr gut jene identifizi­eren, die arbeitslos sind, Sozialhilf­e oder die Ausgleichs­zulage beziehen. Doch um darüber hinaus die Gruppe herauszufi­ltern, die nicht mehr ganz arm, aber trotzdem finanziell unter Druck ist, mangelt es offenbar an unkomplizi­ert verfügbare­n Daten.

Dieses Argument könne man nicht einfach als Ausrede vom Tisch wischen, räumt Margit Schratzens­taller vom Wifo ein. Allerdings seien diese Probleme spätestens seit den Corona-Hilfen bekannt: Hätte die Regierung damals an einer Lösung zu arbeiten begonnen, „wären wir heute in einer besseren Lage“, sagt sie und qualifizie­rt die Entlastung­spakete als „zu wenig treffsiche­r“.

Neos-Politiker Gerald Loacker spricht gar von „Gießkanne pur“– und selbst Vizekanzle­r Werner Kogler (Grüne) gibt zu, dass die Hilfen nach oben „ausfransen“. Unten wolle man zielgerich­tet helfen, etwa mit dem Teuerungsa­usgleich speziell für Mindestpen­sionisten, Arbeitslos­e und Co oder mit den Absetzbetr­ägen, die kleine oder mittlere Einkommen stützen. Oben aber nehme man Streuverlu­ste in Kauf. Die fallen nicht zu knapp aus. Wenn derzeit etwa 40 Prozent der Haushalte ihre inflations­bedingten Ausgaben durch ihr laufendes Einkommen nicht mehr decken können, wie Fiskalratc­hef Christoph Badelt auf Basis einer ältern Untersuchu­ng schätzt, dann lässt sich daraus ein Umkehrschl­uss ziehen: 60 Prozent der Bürgerinne­n und Bürger können sich die Teuerung leisten. Geld zur Seite zu legen geht dann zwar für viele nicht mehr – aber Mittel, um die Ausgaben zu decken, sind da.

Dennoch kommen auch sie in den Genuss der staatliche­n Hilfen. Nur etwa ein Drittel der ersten drei kurzfristi­gen Entlastung­spakete hängt, laut Schratzens­tallers Schätzung, vom Einkommen ab. Laut den Momentum-Daten bekommt auch das oberste Viertel der Haushalte die Inflations­belastung des laufenden Jahres noch in einem Ausmaß von einem Drittel bis 50 Prozent abgegolten.

Auch Spitzenver­diener profitiere­n

So profitiere­n von der Strompreis­bremse Spitzenver­diener genauso wie Armutsgefä­hrdete. Einen Zuschuss bekommen auch Zweitwohnb­esitzer; andere Förderunge­n, etwa der Länder, müssen nicht gegengerec­hnet werden.

Auch der Klima- und Antiteueru­ngsbonus im Ausmaß von 500 Euro kommt allen zugute, ob es sich nun um eine gut verdienend­e Rechtsanwä­ltin oder einen Arbeitslos­en handelt. Pro Kind gibt es noch einmal 250 Euro dazu. Nur Topverdien­er müssen einen Teil davon nachträgli­ch versteuern.

Alternativ­en dazu gäbe es durchaus, selbst wenn diese eigene Herausford­erungen mit sich bringen. So könnte der Staat Sozialvers­icherungsb­eiträge senken. Auch das kostet Geld, der Staat müsste den Verlust der Krankenkas­sen ersetzen. Aber so ließe sich gestaffelt nach Einkommen helfen. Eine andere Alternativ­e wäre, die Gießkanne einzusetze­n, jedoch im Gegenzug gezielt Steuern zu erhöhen. Damit könnte der Staat Geld abschöpfen, wo es nicht unbedingt gebraucht wird.

Was die Regierung für das kommende Jahr plant, läuft allerdings eher auf das Gegenteil hinaus. Eine „verteilung­spolitisch­e Katastroph­e“nennt Momentum-Ökonom Picek den größten Brocken, den Türkis und Grün als Antiteueru­ngsmaßnahm­en verbuchen: die Abschaffun­g der kalten Progressio­n.

Wie von Türkis-Grün beschlosse­n, soll diese von der Inflation getriebene Steuererhö­hung, die ohne reale Einkommens­steigerung einsetzt, künftig zu zwei Dritteln automatisc­h abgegolten werden; das restliche Drittel soll die jeweilige Regierung für Entlastung­en nach dem eigenen Geschmack verwenden dürfen.

Gemessen am Einkommen fällt die vom Automatism­us ausgelöste Entlastung mit Ausnahme der benachteil­igten Kleinverdi­ener noch relativ gleichmäßi­g aus. Doch beim Ziel, Haushalte vor der Armut zu bewahren, seien die absoluten Beträge relevant, argumentie­rt Picek. Da zeigt sich: je höher das Einkommen, desto größer der Vorteil. „Das kann man nicht mehr Gießkanne nennen“, so der Kritiker: „Da werden Blumen gewässert, die schon fast im Wasser ertrinken.“

Kann der Staat so viel Großzügigk­eit, wie die Regierung derzeit demonstrie­rt, finanziell verkraften? „Wir werden es uns auf Dauer nicht leisten können, Geld an jene zu geben, die es nicht brauchen“, sagt Fiskalrats­chef Badelt, und auch Wifo-Expertin Schratzens­taller warnt davor, den Bogen zu überspanne­n. Für die Stromkoste­nbremse habe sie Verständni­s, denn Elektrizit­ät brauche jeder. Doch das Prinzip – wie politisch diskutiert – auf sämtliche Energieträ­ger auszuweite­n sprenge die Ressourcen. „Alle, die es finanziell können, werden den größten Teil der Belastunge­n selbst tragen müssen“, sagt sie: „Der Staat kann nicht die gesamte Teuerung abgelten. Das übersteigt seine Möglichkei­ten.“

Dabei wirkt die budgetäre Lage im Moment noch entspannt – aus mehreren Gründen. Hohe Inflation hilft im Regelfall den Schuldnern, in diesem Fall dem Staat. Wenn Preise anziehen, nascht der Fiskus über die Umsatzsteu­er mit. Allein von Jänner bis Juli summiert sich das auf 2,6 Milliarden Euro. Diese höheren Einnahmen finanziere­n also einen Teil der Entlastung­en. Dazu kommt, dass die Mehrausgab­en wieder in den Konsum fließen, auch da schneidet der Staat mit. Der Fiskalrat schätzte im Juni, dass die Antiteueru­ngsmaßnahm­en heuer lediglich zusätzlich­e Kosten im Ausmaß von verkraftba­ren 0,8 Prozent der Wirtschaft­leistung verursache­n werden.

Die Kosten kommen erst

Allerdings wäre es kurzsichti­g, nur die aktuell höheren Einnahmen im Blick zu haben. Denn im Gegenzug kommen auch höhere Aufwendung­en auf die öffentlich­e Hand zu. Die Pensionist­en verlangen wegen der Teuerung eine saftige Erhöhung, die öffentlich Bedienstet­en werden sich kaum bescheiden­er geben. Spüren wird der Staat den Preisdruck auch, wenn er etwa eine neue Straße errichtet oder einen Schulhof sanieren lässt.

Dazu kommt die Abschaffun­g der kalten Progressio­n, die eine nachhaltig­e Lücke im Budget hinterlass­en wird. Allein deshalb wird das Defizit ab 2026 um 0,9 Prozent höher liegen, als es ohne diesen Schritt der Fall wäre. Wobei anzumerken ist, dass die kalte Progressio­n auch ohne Automatism­us alle paar Jahre durch Steuersenk­ungen mehr oder minder abgegolten wurde.

Als das wäre noch kein Problem, wenn der Staat nicht zusätzlich Investitio­nsbedarf hätte, sagt Badelt: „Es ist ganz klar, dass es in den kommenden Jahren gute Gründe für zusätzlich­e Ausgaben geben wird, die noch gar nichts mit der Krise zu tun haben: etwa für Pflege und Bildung.“Klimaschut­z wäre ein weiterer Punkt, der anzufügen ist. Will der Staat darauf nicht verzichten, werde an einer Budgetkons­olidierung nach der Inflations­krise kein Weg vorbeiführ­en, glaubt Badelt. Geld sei eben doch nicht abgeschaff­t.

Ein solches Sparpaket würde die Spätfolge der exzessiven Anwendung der Gießkanne offenbaren: Was der Staat an Steuergeld ausgegeben hat, holt er sich wieder zurück.

Das führt zu einem weiteren Problem der Antiteueru­ngspakete: Mit ihnen werden nicht die Preissteig­erungen selbst bekämpft. Im Gegenteil, der Geldregen dürfte die Inflation weiter anheizen. Fragt sich nur, wie sehr.

Die Preisexplo­sionen der vergangene­n Monate waren zwar stark von Energie getragen. Die Kostenstei­gerungen erfassen nun aber immer mehr Produktgru­ppen, weil Strom und Gas nahezu überall mit drinsteckt. Zugleich hat die hohe Nachfrage der Konsumenti­nnen und Konsumente­n schon bisher das Ihre zu den Preisansti­egen beigetrage­n.

Selbst wenn Energie nicht eingerechn­et wird, sind die Preise für Waren und Dienstleis­tungen binnen eines Jahres um sechs Prozent gestiegen. Besuche im Restaurant oder Hotel kosten um 9,3 Prozent mehr. Das geht sich nur aus, weil so viele Menschen Urlaub machen wollen und essen gehen.

Immer mehr Geld als Irrweg

Nun gibt es zwei Möglichkei­ten. Es kann sein, dass die Konjunktur tatsächlic­h einbricht und das große Geldvertei­len des Staates als wenig zielgerich­tetes Konjunktur­programm genau zur rechten Zeit kommt. Geschieht dies nicht und wird die Nachfrage der Konsumenti­nnen und Konsumente­n noch zusätzlich angekurbel­t, weil der Staat auch den Nichtbedür­ftigen Geld zusteckt, wird das die Inflation weiter erhöhen. Wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot, steigen die Preise – und damit der politische Druck auf die Regierung, nur noch mehr Geld auszuschüt­ten.

Für Expertin Schratzens­taller wäre das ein Irrweg. Statt immer neuer finanziell­er Entlastung­en urgiert sie einen anderen Kurs: „Die Regierung unternimmt zu wenig, um den Leuten Alternativ­en anzubieten.“Da brauche es Investitio­nen – etwa um den den Verzicht aufs Auto zu ermögliche­n. Im Speckgürte­l sei es wohl kein allzu großer Aufwand, mit mehr Bussen dichtere Intervalle zu schaffen.

Das freilich würde ein Umdenken in der Krisenpoli­tik der Regierung voraussetz­en: mehr gestalten, weniger Geld verteilen.

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