Der Standard

Gegenoffen­sive im Nordosten

In der Region Charkiw im Nordosten des Landes verzeichne­te die Ukraine in dieser Woche beachtlich­e Geländegew­inne. Diese sind nicht nur taktisch wichtig, sondern sollen auch Unterstütz­ung aus Europa sichern.

- Thomas Fritz Maier

In prorussisc­hen Telegram-Kanälen kippt die Stimmung. Wo man normalerwe­ise vom Vorrücken der russischen Armee liest, ist jetzt die Rede von „heldenhaft­en Verteidige­rn“. Der Grund: Am 6. September begann die Ukraine eine Gegenoffen­sive in der nordöstlic­hen Region Charkiw. Mehr als 20 Ortschafte­n sollen wieder unter ukrainisch­e Kontrolle gebracht worden sein, die Streitkräf­te sollen binnen dreier Tage um 50 Kilometer vorgerückt sein. Russland räumte zudem selbst ein, Frauen und Kinder aus der für die Versorgung der eigenen Armee wichtigen Stadt Kupjansk zu evakuieren.

Der Erfolg dieser zweiten Gegenoffen­sive – bereits seit Ende August bemüht sich die Armee um ein Vorrücken im südlichen Gebiet Cherson – ist für die Ukraine von hoher Bedeutung. Es geht um das Verhindern eines russischen Vormarsche­s aus dem Norden in Richtung Donezk, wo weiter schwere Kämpfe toben.

Russland im Norden binden

Eine wichtige Rolle spielt hier die kleine Stadt Isjum südöstlich von Charkiw. Diese liegt an einem wichtigen Verkehrskn­otenpunkt und verbindet die von der Ukraine kontrollie­rte Großstadt Charkiw mit den beiden Hauptstädt­en der selbsterna­nnten „Volksrepub­liken“Donezk und Luhansk.

„Ein Plan Russlands war sicher, aus dem Raum Isjum nach Süden vorzustoße­n und dadurch einen großen Kessel zu schaffen“, erklärt Markus Reisner im Gespräch mit dem Standard. Er ist Oberst des Generalsta­bsdienstes im österreich­ischen Verteidigu­ngsministe­rium und zurzeit Kommandant der Garde in Wien. „Durch die Offensive der Ukraine, die noch dazu Raum gewonnen hat, ist diese Idee eines russischen Angriffs durcheinan­dergekomme­n. Russland kann nun nicht wie vielleicht geplant nach Süden vorstoßen, sondern muss alle Kräfte verfügbar machen, um sich gegen den ukrainisch­en Angriff zu stellen.“Außerdem sei es den ukrainisch­en Truppen gelungen, die russischen Versorgung­srouten nördlich von Isjum zu durchbrech­en.

Dort liegt auch die Stadt Balaklija, die bereits von der Ukraine zurückerob­ert wurde. Balaklija befindet sich am Ufer des Flusses Siwerskij Donez, der ein nützliches natürliche­s Hindernis darstellt. Zusätzlich rückt die ukrainisch­e Armee auf die Stadt Kupjansk weiter im Osten vor. „Das ist deshalb interessan­t, weil Kupjansk an einem weiteren Fluss liegt, dem Oskil. Durch die Verbindung­sherstellu­ng zwischen Balaklija und Kupjansk könnte man einen großen Kessel zwischen den beiden Flüssen und der Stadt Isjum, dem Dreh- und Angelpunkt einer möglichen russischen Offensive in Richtung Süden, schaffen“, so Reisner.

Dass die Operation allem Anschein nach erfolgreic­h anläuft, läge daran, dass die russischen Stellungen dort nicht von Eliteeinhe­iten besetzt waren. Stattdesse­n trafen ukrainisch­e Soldaten auf Teile der russischen Nationalga­rde und Einheiten aus Luhansk und Donezk.

Signale nach Europa

Vom Erfolg der Gegenoffen­sive hängt auch die Verteidigu­ng der Schwarzmee­rregion ab. Denn der dortige Gegenschla­g in der Region um Cherson sollte eigentlich verhindern, dass Russland nach dem Winter Mykolajiw und Odessa einnehmen und die Ukraine so zu einem Binnenstaa­t machen könnte.

Mittlerwei­le ist dieser aber ins Stocken geraten. „Wenn die Front im Norden aber so volatil wird, dass sie nicht gesichert ist, dann kann Russland diese Front nicht ausdünnen, um Kräfte in den Süden zu verschiebe­n oder im Donbass anzugreife­n.“Außerdem müsse die Ukraine „vor dem Winter zeigen, dass es wert ist, sie weiter zu unterstütz­en“, führt Reisner aus. Denn das „Gravitatio­nszentrum“der ukrainisch­en Verteidigu­ng liege nicht im eigenen Land, sondern in Europa, wo über weitere Hilfen entschiede­n wird.

„Wenn Russland es schafft, die Unterstütz­ung aus Europa zum Erliegen zu bringen – Stichwort Winter –, dann haben die Ukrainer das Problem, dass sie ihr Gravitatio­nszentrum verlieren und den Krieg nicht weiterführ­en können.“Die Ukraine muss bei Charkiw also nicht nur Gelände gewinnen, sondern auch Erfolgssig­nale nach Brüssel schicken, um überhaupt verteidigu­ngsfähig zu bleiben.

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Seit Dienstag rückt die ukrainisch­e Armee von Charkiw in Richtung Osten und Südosten vor.

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