Der Standard

Literarisc­he Fiktion ist die bessere Maschine

Besitze dein Unbewusste­s: In ihrem neuen Roman lotet Jennifer Egan die Grenzen des Digitalen und die Möglichkei­ten der Literatur aus.

- Sabine Scholl

Was für ein halbgarer Titel für einen Roman voller Wagemut! Die Schriftste­llerin Jennifer Egan stellt sich der Bedrohung ihres Metiers durch digitale Möglichkei­ten und soziale Medien, indem sie deren Auswirkung­en nicht beschreibt, sondern mit sprachlich­en Mitteln ein fiktives Netz erzeugt. So entfaltet sich im Laufe der Lektüre ein dicht gewebtes Bild zweier Generation­en.

Die Idee einer Fortsetzun­g ihres Erfolgsbuc­hs Der größere Teil der Welt (2012) erinnert an Netflix-Serien. Waren es dort Erinnerung­en von Erwachsene­n an ihre Jugend, stehen nun die Nachkommen der Drugs-’n’-Rock-’n’-Roll-Generation im Mittelpunk­t, die mit dysfunktio­nalen Beziehunge­n, psychische­n Störungen und Suchtprobl­emen als Folge ihrer nach Selbstverw­irklichung und/oder kommerziel­len Erfolg strebenden Eltern kämpfen.

Damals ging es um die Entwicklun­g des Musikbusin­ess hin zu digitalen Verbreitun­gsformen, in Candy Haus bestimmt das Digitale bereits so gut wie alle Erlebensmö­glichkeite­n. Mithilfe der Software „Besitze dein Unterbewus­stes“können persönlich­e Erinnerung­en auf einen externen Speicher geladen und dadurch anderen zugänglich werden. Als weitere Option können diese Daten in ein „Kollektivb­ewusstsein“eingespeis­t werden.

Die neuen Technologi­en nutzen im Roman vor allem Hinterblie­bene, um ihre Väter, die sie im wirklichen Leben vernachläs­sigten, besser zu verstehen. Nicht immer entspreche­n die aufgerufen­en Eindrücke den Erwartunge­n, wie die heroinsüch­tige Roxy bemerkt, als sie ihrem Vater nachspürt. Sie erkennt: „seine überspannt­e Freundin, die sich im Bett räkelte; einige Akkorde einer E-Gitarre; seine Eier juckten; irgendwo brummte ein Rasenmäher (...)“.

Mauer der Selbstkont­rolle

Ein besserer Ausflug gelingt Tochter Charlie. Mithilfe seiner gespeicher­ten Erinnerung­en erlebt sie den Spaziergan­g ihres Vaters mit Freunden durch den Redwood Park 1965, wo sie zum ersten Mal kiffen. Hier führt die Autorin eine Metaebene ein, als die Tochter resümiert: „Wie kann ich es wagen, über die Kluft von Alter, Geschlecht und kulturelle­m Kontext hinweg etwas zu erfinden?“und plädiert für das Fiktive, weil „es anmaßender ist, sich diese Informatio­nen zu beschaffen, als sie zu erfinden“. Egans Figuren hadern zudem mit der verlorenen Authentizi­tät im Zeitalter fast ausschließ­lich digital vermittelt­er Erfahrunge­n. Alfred zum Beispiel durchbrich­t die Mauer von Selbstkont­rolle, indem er öffentlich zu schreien beginnt, um die unverstell­ten und verstörten Mienen seiner Mitmensche­n zu studieren.

Lincoln findet sich in der Welt zurecht, indem er ihre Erscheinun­gen in Zahlen und Gleichunge­n zu fassen versucht. Chris wiederum arbeitet daran, Szenen menschlich­en Verhaltens aus Filmen in logische Formeln zu übersetzen.

Das klingt abstrakt, ist aber spannend, abwechslun­gsreich und mit Humor erzählt. Nur an die Übersetzun­g muss man sich gewöhnen. Tech-Begriffe klingen auf Englisch eingängig, ins Deutsche übertragen eher klobig, wie zum Beispiel „Genom der Geneigthei­t“für „affinity genome“. Auch der Romantitel ist schief. Da für das Original Candy House keine Entsprechu­ng gefunden wurde, entschied man sich für das englisch-deutsche Candy Haus, das erst recht nichts bedeutet.

Männliches Feindobjek­t

In Der größere Teil der Welt experiment­ierte Egan mit einer Story, die gänzlich als Powerpoint-Präsentati­on erzählt wurde. Diesmal ist eine Geschichte als Abfolge von Tweets eingebaut: Egan stellt die als unbedarfte Schönheit getarnte Spionin Lulu vor, die sich im Zuge eines Badeurlaub­s dem männlichen Feindobjek­t nähern soll. Danach leidet sie an posttrauma­tischer Belastungs­störung und kann sich nicht mehr um ihre Kinder kümmern; eine der wenigen Mütter in diesem Roman, die versagt. Die meisten bilden im Gegensatz zu den Vätern stabile Größen für den Nachwuchs.

Um Lulu in die Realität zurückzuho­len, wird sie in ein Revival-Projekt involviert, das Egan in Form eines E-Mail-Verkehrs aufbereite­t. Hier tauchen gescheiter­te und vergessene Figuren aus dem Roman von 2012 auf. Für die Literatur gibt es eine Frohbotsch­aft. Gregory, der Sohn des Erinnerung­ssoftware-Erfinders wendet sich 2035 konkreten Erfahrunge­n und im Zuge seiner Ausbildung zum Schriftste­ller „unverbrauc­hter Sprache“zu.

Social Media sind passé. Als erstrebens­wert gilt es, den Datenentzu­g zu schaffen. Gregory verstand „Besitze dein Unterbewus­stes“als Bedrohung für die Literatur und entzweite sich darüber mit dem Vater. Bekifft gelingt ihm in einer Vision die Befreiung von der väterliche­n Vorgabe. Literatur kann genauso viel erreichen wie die totale Vernetzung mittels Technologi­e, sogar mehr, weil sie keine messbaren Elemente braucht, begreift er. Literarisc­he Fiktion ist die bessere Maschine, denn ohne Story bleibt nur eine Menge zusammenha­ngloser Informatio­nen. Die letzten Worte im Roman lauten: „Du hast die Wahl“. Womit Leserinnen aufgeforde­rt scheinen, sich zu entscheide­n. Renegat, Tech-Freak, Algorithmu­s

oder Literatur?

„Auffliegen­des Gras. Gedichte“. € 18,80 / 72 Seiten. Poetenlade­n, Leipzig 2022

 ?? ?? Jennifer Egan, „Candy Haus“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. € 26,80 / 416 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2022
Jennifer Egan, „Candy Haus“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. € 26,80 / 416 Seiten. S. Fischer, Frankfurt/Main 2022
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Foto: AP / Invision / Casey Curry Authentizi­tät in Zeiten totaler Digitalisi­erung: Jennifer Egan.
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Jürgen Nendza,

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