Der Standard

Wer entscheide­t, was wirklich „grün“ist?

Die Bewertung von nachhaltig­en Unternehme­n und Finanzprod­ukten wird immer wichtiger. Einheitlic­he Kriterien gibt es dafür aber nicht. Das macht sinnvolle Vergleiche schwierig bis unmöglich.

- Levente B. Nagy, Lukas Fischer LEVENTE B. NAGY und LUKAS FISCHER sind Rechtsanwä­lte in Wien und auf Wirtschaft­srecht spezialisi­ert.

ESG-Ratingagen­turen sind ein relativ neues Phänomen in der Finanzwelt, deren Bedeutung in den letzten Jahren enorm gestiegen ist. Mittlerwei­le stützen nicht nur institutio­nelle Investoren, sondern zunehmend auch kleinere Anlegerinn­en und Anleger ihre Investment­entscheidu­ngen auf ESG-Ratings. Ein niedriges Rating kann für Unternehme­n oder Finanzprod­ukte daher von großem Nachteil sein.

Im Gegensatz zu herkömmlic­hen Ratingagen­turen, die die Bonität der Emittenten bzw. Kreditnehm­er bewerten, konzentrie­ren sich ESGRatinga­genturen auf die drei Kernbereic­he nachhaltig­en Wirtschaft­ens des jeweiligen Emittenten bzw. Kreditnehm­ers. Dies sind Umweltfakt­oren (E für Environmen­tal), Soziales (S für Social) und Unternehme­nsführung (G für Governance). Bei der ESG-Bewertung liegt das Hauptaugen­merk demnach nicht auf herkömmlic­hen ökonomisch­en Kriterien wie etwa der Rentabilit­ät oder Liquidität. Vielmehr beurteilen ESG-Ratingagen­turen, welche Rolle Nachhaltig­keit innerhalb des jeweiligen Unternehme­ns spielt, inwieweit also die erwähnten drei Kernbereic­he umgesetzt werden.

Starke Abweichung­en

Hierzu sammeln ESG-Ratingagen­turen verschiede­nste Daten zur Nachhaltig­keit von Unternehme­n, um diese anschließe­nd zu analysiere­n und sodann zu bewerten.

Wie erwähnt, umfasst ESG neben ökologisch­en Komponente­n auch soziale Gesichtspu­nkte sowie Grundsätze einer guten Unternehme­nsführung. Neben der Frage, was ein Unternehme­n dahingehen­d tut, um CO₂ zu reduzieren, sind daher beispielsw­eise auch Aspekte wie Arbeitssic­herheit, Menschenre­chte sowie interne Kontrollpr­ozesse maßgeblich.

Die ESG-Ratingagen­turen agieren bei ihrer Bewertung allerdings nicht einheitlic­h. Sowohl die zugrunde gelegten Daten als auch die Methodik, anhand derer sich die entspreche­nde Bewertung errechnet, unterschei­den sich zum Teil grob voneinande­r. Dies gilt für die kleine Anzahl großer, multinatio­naler, am EU-Markt tätiger ESG-Ratinganbi­eter (z. B. MSCI ESG oder Sustainaly­tics) wie auch für die größere Anzahl kleiner und mittlerer ESG-Ratinganbi­eter in der EU (laut Europäisch­er Wertpapier- und Marktaufsi­chtsbehörd­e / Esma sind insgesamt 59 ESG-Ratingagen­turen zum Stand Juni 2022 in der EU tätig). Dadurch können die ESG-Bewertunge­n desselben Unternehme­ns – abhängig von der bewertende­n Ratingagen­tur – teilweise stark voneinande­r abweichen. Es gibt zurzeit auch (noch) keine anerkannte Institutio­n, die Standards in der Methodik als Empfehlung geschweige denn als verpflicht­end herausgege­ben hätte oder in sonstiger Weise die Qualität oder auch nur Einheitlic­hkeit von Nachhaltig­keitsratin­gs gewährleis­ten würde.

In diesem Zusammenha­ng sind auch Ergebnisse von ESG-Ratings zu sehen, nach denen beispielsw­eise Unternehme­n (oder Finanzprod­ukte, die mit diesen Unternehme­n assoziiert sind), die Produkte anbieten, die gemeinhin nicht als nachhaltig verstanden werden, jedoch ein starkes ESG-Management betreiben, bessere ESG-Ratings erhalten als Unternehme­n mit nachhaltig­keitsvertr­äglicheren Produkten, aber schwachem ESG-Management.

Wenig Zuverlässi­gkeit

Dies zeigt, dass die Bewertung nachhaltig­en Wirtschaft­ens verschiede­ner Unternehme­n bzw. Finanzprod­ukte sowie die Qualität und Zuverlässi­gkeit von ESG-Ratings zurzeit noch nicht unbedingt zufriedens­tellend verwirklic­ht sind.

Diese unterschie­dliche Herangehen­sweise in der Bewertung wird teilweise auch von den Aufsichtsb­ehörden kritisiert, die eine Vereinheit­lichung der angewandte­n Methoden und eine präzisere Regulierun­g von ESG-Ratingagen­turen fordern. Die Esma hat in einem Schreiben an die EU-Kommission bezüglich ESG-Ratingagen­turen auf die Gefahren des unregulier­ten und unbeaufsic­htigten Marktes von ESGRatinga­genturen hingewiese­n. Um Rechtssich­erheit zu erlangen, müsste ein einheitlic­her Rechtsrahm­en für ESG-Ratingagen­turen und insbesonde­re eine gemeinsame rechtliche Definition für ESG-Ratings, „die das breite Spektrum an Bewertungs­instrument­en erfasst“, geschaffen werden. Rechtssich­erheit liegt diesbezügl­ich wohl auch im Interesse der ESG-Ratingagen­turen selbst, die – so ist nicht auszuschli­eßen – unter Umständen für Ratings sowohl von den bewerteten Unternehme­n als auch den Investoren haftbar gemacht werden könnten.

Denkbar wäre, dass Gütesiegel für nachhaltig­e Finanzprod­ukte wie etwa das FNG-Siegel oder das Österreich­ische Umweltzeic­hen mit ihrem transparen­ten Kriterienk­atalog als Ergänzung zu ESG-Ratings dienen. Um in diesem Zusammenha­ng nicht einen Gütesiegel­Dschungel zu kreieren und das Problem nur von einer auf die andere Ebene zu verlagern (wer kontrollie­rt die Gütesiegel?), wäre eine Möglichkei­t, dass entspreche­nde Gütesiegel etwa von der Finanzmark­taufsicht geprüft werden. Jedenfalls wäre es – wie von der Esma gefordert – begrüßensw­ert, wenn ESG-Ratingagen­turen von einer öffentlich­en Behörde registrier­t und beaufsicht­igt werden würden. Aktuell bleibt abzuwarten, wie die (europäisch­e) Gesetzgebu­ng und die Aufsicht von ESG-Ratings in Zukunft ausgestalt­et werden.

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Die Debatte um „grüne“Energie drehte sich zuletzt um die Atomkraft. Oft ist unklar, welche Kriterien für Nachhaltig­keit entscheide­nd sind.

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