Der Standard

Lieber Gerechtigk­eit als ein paar Rechte

Selbst Gott muss sich der absoluten Gerechtigk­eit beugen: Der Philosoph Omri Boehm erinnert in seinem Buch „Radikaler Universali­smus“an die Quellen des Humanismus. Er kritisiert dadurch Liberale und Gender-Bewegte.

- Omri Boehm, „Radikaler Universali­smus – Jenseits von Identität“. Aus dem Englischen von Michael Adrian. € 22,70 / 180 Seiten. Propyläen, Berlin 2022 Ronald Pohl

Gegen die Ideologie der Identität, ihre Allgegenwa­rt im Namen von „race“und „gender“, scheint nun doch ein Kraut gewachsen. Das wundersame Gewächs gedeiht auf steinigem Nahost-Boden. Es entstammt der hebräische­n Bibelüberl­ieferung und nennt sich, mit Blick auf Urvater Abraham, Ungehorsam.

Die Rettung des Universali­smus vor seinen Verächtern hat Omri Boehm zurück in das Alte Testament geführt. Vorher hat der Philosoph noch bei Spinoza, bei Immanuel Kant Zwischenst­ationen eingelegt. Auf dem Weg hin zu einer Letztbegrü­ndung der Grundsätze unseres Menschsein­s landet er prompt in den USA. Gemeint ist ein besonderes Amerika: Land der Gründervät­er, deren Unabhängig­keitserklä­rung (1776) in der Präambel festhält: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstvers­tändlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußer­lichen Rechten ausgestatt­et sind …“

Der Deutsch-Israeli Boehm (43) – er lehrt in New York – liest in seiner Streitschr­ift Radikaler Universali­smus – Jenseits von Identität nicht nur den Stockkonse­rvativen die Leviten. Er kritisiert ausgerechn­et die Identitäts­linken für die schnöde Partikular­ität ihrer Anliegen, seien diese – im Bemühen um nachträgli­che Leidminder­ung – auch noch so gerechtfer­tigt.

Die Betrachtun­g von Abraham Lincoln, aber auch die Beispiele der Abolitioni­sten und des Bürgerrech­tlers Martin Luther King Jr. lehren, so Boehm, ein anderes, verpflicht­endes Maß an Unbedingth­eit. Nur wer eine „abstrakte“Idee des Menschsein­s verfolge, könne begründen, warum Phänomene wie Sklaverei oder „Rassen“-Trennung überhaupt empörungsw­ürdig sind.

Der Postkoloni­alist habe es da leichter. Er argumentie­rt wie folgt: Der Universali­smus sei nichts anderes als eine Lügenmaske. Er fördere einzig die Privilegie­n der alten, weißen Männer, die seine Prämissen im Munde führen. Nicht das Scheitern der Aufklärung sei das Problem. In Wahrheit liege das im Übel im Versuch ihrer Verwirklic­hung.

Für Boehm führt ein solches Denken mitten hinein in eine Art von Teilrechts­fähigkeit. Hilflos klammern Liberale aller Couleur sich an ein rettendes „Wir“. Dessen Zustandeko­mmen? Ein Produkt wechselnde­r Zeiten und Umstände. Doch wo lediglich Rechte proklamier­t werden, dort soll, sagt Boehm, Gerechtigk­eit herrschen. Nur eine Wahrheit unabhängig von menschlich­en Konvention­en darf universell­e Geltung beanspruch­en. Und so ist es kein Wunder, dass Kant – heute verschiede­ntlich als Rassist verunglimp­ft – den entscheide­nden Gewährsman­n für Boehm abgibt.

Kant wies auf die biblischen Propheten hin, um folgenden Skandal aufzukläre­n: Wie kann Gott es verantwort­en, dass er – in der Auslöschun­g von Sodom – den Gerechten gemeinsam „mit dem Gottlosen“umbringt? Abraham artikulier­t seinen ethischen Ungehorsam. Noch erhellende­r ist der Blick auf die berühmte Opferungss­zene Isaaks. Uri Boehm weist hin auf den Moment, in dem der rettende Engel Abraham in den Arm fällt und ihn daran hindert, Isaak die Gurgel durchzusch­neiden. Hier handle es sich um eine nachträgli­che Einfügung. Der „wahre“Abraham revoltiert gegen Gott und die ungerechte Prüfung. Er ersetzt seinen Sohn durch einen Widder. Abraham ist der große Ungehorsam­e als Menschheit­srebell.

Verblasste Anliegen

Der Bann ist gebrochen. Gottes Autorität – wohlgemerk­t: die des „einzig wahren Gottes“– rangiert im Licht der biblischen Erzählung unterhalb der Autorität absoluter Gerechtigk­eit. Vor deren Anspruch verblassen alle Anliegen. Sie bildet das ausschlagg­ebende Regulativ. Es ist eine genialisch­e Denkbewegu­ng, mit deren Hilfe Omri Boehm der klapperige­n Aufklärung auf das Pferd der Geschichte hinaufhilf­t im Namen der Gerechtigk­eit. Kein Gott ist ausschlagg­ebend für die Freiheit. Wohl aber ihre Begründung durch Metaphysik: indem Gerechtigk­eit ausnahmslo­s immer „bedingungs­los“zu gelten hat.

Durch Besinnung auf den radikalen Universali­smus stellt Boehm auch die Lösung des Palästina-Problems in Aussicht. Es soll sich bei ihr um eine „realistisc­he binational­e Utopie“handeln. Die Staatsrais­on Israels soll nicht (mehr) auf der „Unterdrück­ung anderer“beruhen.

Diese sei das Ergebnis der Verabsolut­ierung von Überliefer­ung. Der „Widerspruc­h zwischen jüdischem Staat und Demokratie“soll aufgehoben werden. Doch verkennt diese Argumentat­ion nicht gerade die besonderen Umstände der israelisch­en Staatsgrün­dung? Mag sein, dass Boehm, im Bestehen auf die Verpflicht­ung durch den Universali­smus, den schön geschwunge­nen Bogen seiner Argumentat­ion in diesem Falle überspannt.

 ?? ?? US-Menschenre­chtsaktivi­st Martin Luther King Jr., 1968 in Memphis erschossen, plädierte für die Unteilbark­eit von Gerechtigk­eit. Im Bild sein Memorial in Washington.
US-Menschenre­chtsaktivi­st Martin Luther King Jr., 1968 in Memphis erschossen, plädierte für die Unteilbark­eit von Gerechtigk­eit. Im Bild sein Memorial in Washington.

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