Lieber Gerechtigkeit als ein paar Rechte
Selbst Gott muss sich der absoluten Gerechtigkeit beugen: Der Philosoph Omri Boehm erinnert in seinem Buch „Radikaler Universalismus“an die Quellen des Humanismus. Er kritisiert dadurch Liberale und Gender-Bewegte.
Gegen die Ideologie der Identität, ihre Allgegenwart im Namen von „race“und „gender“, scheint nun doch ein Kraut gewachsen. Das wundersame Gewächs gedeiht auf steinigem Nahost-Boden. Es entstammt der hebräischen Bibelüberlieferung und nennt sich, mit Blick auf Urvater Abraham, Ungehorsam.
Die Rettung des Universalismus vor seinen Verächtern hat Omri Boehm zurück in das Alte Testament geführt. Vorher hat der Philosoph noch bei Spinoza, bei Immanuel Kant Zwischenstationen eingelegt. Auf dem Weg hin zu einer Letztbegründung der Grundsätze unseres Menschseins landet er prompt in den USA. Gemeint ist ein besonderes Amerika: Land der Gründerväter, deren Unabhängigkeitserklärung (1776) in der Präambel festhält: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind …“
Der Deutsch-Israeli Boehm (43) – er lehrt in New York – liest in seiner Streitschrift Radikaler Universalismus – Jenseits von Identität nicht nur den Stockkonservativen die Leviten. Er kritisiert ausgerechnet die Identitätslinken für die schnöde Partikularität ihrer Anliegen, seien diese – im Bemühen um nachträgliche Leidminderung – auch noch so gerechtfertigt.
Die Betrachtung von Abraham Lincoln, aber auch die Beispiele der Abolitionisten und des Bürgerrechtlers Martin Luther King Jr. lehren, so Boehm, ein anderes, verpflichtendes Maß an Unbedingtheit. Nur wer eine „abstrakte“Idee des Menschseins verfolge, könne begründen, warum Phänomene wie Sklaverei oder „Rassen“-Trennung überhaupt empörungswürdig sind.
Der Postkolonialist habe es da leichter. Er argumentiert wie folgt: Der Universalismus sei nichts anderes als eine Lügenmaske. Er fördere einzig die Privilegien der alten, weißen Männer, die seine Prämissen im Munde führen. Nicht das Scheitern der Aufklärung sei das Problem. In Wahrheit liege das im Übel im Versuch ihrer Verwirklichung.
Für Boehm führt ein solches Denken mitten hinein in eine Art von Teilrechtsfähigkeit. Hilflos klammern Liberale aller Couleur sich an ein rettendes „Wir“. Dessen Zustandekommen? Ein Produkt wechselnder Zeiten und Umstände. Doch wo lediglich Rechte proklamiert werden, dort soll, sagt Boehm, Gerechtigkeit herrschen. Nur eine Wahrheit unabhängig von menschlichen Konventionen darf universelle Geltung beanspruchen. Und so ist es kein Wunder, dass Kant – heute verschiedentlich als Rassist verunglimpft – den entscheidenden Gewährsmann für Boehm abgibt.
Kant wies auf die biblischen Propheten hin, um folgenden Skandal aufzuklären: Wie kann Gott es verantworten, dass er – in der Auslöschung von Sodom – den Gerechten gemeinsam „mit dem Gottlosen“umbringt? Abraham artikuliert seinen ethischen Ungehorsam. Noch erhellender ist der Blick auf die berühmte Opferungsszene Isaaks. Uri Boehm weist hin auf den Moment, in dem der rettende Engel Abraham in den Arm fällt und ihn daran hindert, Isaak die Gurgel durchzuschneiden. Hier handle es sich um eine nachträgliche Einfügung. Der „wahre“Abraham revoltiert gegen Gott und die ungerechte Prüfung. Er ersetzt seinen Sohn durch einen Widder. Abraham ist der große Ungehorsame als Menschheitsrebell.
Verblasste Anliegen
Der Bann ist gebrochen. Gottes Autorität – wohlgemerkt: die des „einzig wahren Gottes“– rangiert im Licht der biblischen Erzählung unterhalb der Autorität absoluter Gerechtigkeit. Vor deren Anspruch verblassen alle Anliegen. Sie bildet das ausschlaggebende Regulativ. Es ist eine genialische Denkbewegung, mit deren Hilfe Omri Boehm der klapperigen Aufklärung auf das Pferd der Geschichte hinaufhilft im Namen der Gerechtigkeit. Kein Gott ist ausschlaggebend für die Freiheit. Wohl aber ihre Begründung durch Metaphysik: indem Gerechtigkeit ausnahmslos immer „bedingungslos“zu gelten hat.
Durch Besinnung auf den radikalen Universalismus stellt Boehm auch die Lösung des Palästina-Problems in Aussicht. Es soll sich bei ihr um eine „realistische binationale Utopie“handeln. Die Staatsraison Israels soll nicht (mehr) auf der „Unterdrückung anderer“beruhen.
Diese sei das Ergebnis der Verabsolutierung von Überlieferung. Der „Widerspruch zwischen jüdischem Staat und Demokratie“soll aufgehoben werden. Doch verkennt diese Argumentation nicht gerade die besonderen Umstände der israelischen Staatsgründung? Mag sein, dass Boehm, im Bestehen auf die Verpflichtung durch den Universalismus, den schön geschwungenen Bogen seiner Argumentation in diesem Falle überspannt.