Der Standard

Es brodelt in Russlands Hinterhof

Während sich an Russlands Südflanke die Konflikthe­rde stapeln, hadert das russisch geführte Militärbün­dnis mit seiner Glaubwürdi­gkeit. Die postsowjet­ischen Staaten verlieren zusehends die Angst vor Moskau.

- ANALYSE: Fabian Sommavilla

An Russlands Südflanke bebt es derzeit heftig. Gründe sind Waffendeto­nationen und wackelnde Allianzen, keine seismische­n Aktivitäte­n. Rund 20.000 Kilometer Landgrenze trennen die Russische Föderation von ihren 14 direkten Nachbarn an Land – alleine acht davon wurden aus der Zerfallsma­sse der Sowjetunio­n wieder zu stolzen, eigenständ­igen Nationen erweckt. Aber auch die restlichen postsowjet­ischen Staaten gelten laut Selbstvers­tändnis immer noch fallweise als „nahes Ausland“oder russischer Hinterhof, wo andere Regionalmä­chte nicht geduldet werden und wo der Kreml willens ist, Waffengewa­lt anzuwenden.

Das zeigen die Überfälle auf die Ukraine seit 2014 oder der Krieg gegen Georgien, wo man mithilfe russischer Truppen seit 2008 ein Fünftel des Landes illegal besetzt hält. Aber auch in der Ex-Sowjetrepu­blik Armenien war man in der Vergangenh­eit bereit, prorussisc­he Interessen zu verteidige­n. In der Vergangenh­eit, wohlgemerk­t.

Russische Vermittler­rolle

Als sich der schwelende Konflikt um die umstritten­e Region Bergkaraba­ch 2020 erneut zu einem Krieg aufschauke­lte, den Aserbaidsc­han mit türkischer Hilfe und trotz russischer Unterstütz­ung Armeniens letztlich gewann, blieb Russland nur die Vermittler­rolle in einem brüchigen Friedensab­kommen sowie die Stationier­ung russischer Friedenstr­uppen. Mitte September 2022 krachte es fernab von Bergkaraba­ch allerdings schon wieder zwischen den zwei Ex-Sowjetrepu­bliken.

„Dass sich Aserbaidsc­han traut, nicht nur von russischen Friedensso­ldaten kontrollie­rte Gebiete Bergkaraba­chs, sondern auch armenische­s, völkerrech­tlich völlig unumstritt­enes Territoriu­m anzugreife­n, wäre nicht möglich, wenn nicht ein Großteil der russischen Truppen in der Ukraine gebunden wäre“, sagt Russland-Experte Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck zum STANDARD. Selbst wenn es wollte, könnte Moskau Armenien aktuell nicht verteidige­n, sagt Mangott. Die erneuten aserbaidsc­hanischen Angriffe seien ein Anzeichen dafür, „dass der politische Respekt vor Russland zum Teil nicht mehr existiert“.

Die russische Nichthilfe für den Verbündete­n Armenien untergräbt das Vertrauen alliierter Kräfte in Moskau und stellt darüber hinaus ein russisch dominierte­s Militärbün­dnis grundsätzl­ich infrage, die Organisati­on des Vertrags über kollektive Sicherheit, kurz: OVKS. Sie sieht sich immerhin zur Beibehaltu­ng „der territoria­len Integrität der Mitgliedss­taaten“verpflicht­et.

Neben Russland und Armenien gehören auch Belarus, Kasachstan, Kirgisista­n sowie Tadschikis­tan dem Bündnis – in dem auch Afghanista­n und Serbien einen Beobachter­status haben – an. Aserbaidsc­han ist nicht mehr dabei, weshalb die armenische Regierung auch die OVKS anrief und an die Beistandsp­flicht appelliert­e – immerhin verfügt die Organisati­on über einen Passus, der einen Angriff auf eines als Angriff auf alle Mitglieder wertet. Zwar ist in keinem Bündnisver­trag expliziert verankert, dass eine Reaktion immer auch eine militärisc­he Antwort bedingt, betont Mangott, „das Selbstvers­tändnis der Organisati­on war und ist es aber jedenfalls, dass bei einem Angriff auf einen Mitgliedss­taat eine militärisc­he Reaktion erfolgen muss“, so der Experte. Geschieht dies nicht, „untergräbt das natürlich das Vertrauen und den Glauben an die Sinnhaftig­keit dieses militärisc­hen Bündnisses“, sagt Mangott.

Seltener Einsatz

Tatsächlic­h wurden die schnellen Eingreiftr­uppen der OVKS in der Vergangenh­eit nur selten aktiv. Im Jänner halfen sie dem kasachisch­en Machthaber und Präsidente­n Kassym-Schomart Tokajew aber, die Massenprot­este gegen sein Regime niederzusc­hlagen. Offiziell war die Rede von „kriminelle­n westlichen Kräften“, die im postsowjet­ischen Raum angeblich wieder einmal eine Farbrevolu­tion anzetteln würden. Berichte, wonach „russische Lastwagen, die sanktionie­rte Güter über kasachisch­es Territoriu­m nach Russland bringen sollten, aber ausgerechn­et in Kasachstan festgesetz­t wurden“, zeigen ebenfalls den Respektver­lust Russlands Alliierter, so Mangott. Tokajew gelte in Moskau mittlerwei­le als Verräter.

Bleibt die Frage, wie viel Sicherheit diese Organisati­on in einem Raum kollektive­r Unsicherhe­it noch bieten kann? Im tadschikis­ch-kirgisisch­en Grenzberei­ch kracht es seit

September ähnlich heftig wie im Südkaukasu­s. Russische Medien sprachen schnell von „Grenzschar­mützeln“verarmter Sowjetrepu­bliken. Politikwis­senschafte­r Emil Joroew betonte jedoch den enormen Unterschie­d zwischen „Grenzstrei­tigkeiten“und „unverblümt­en Invasionen“. Tatsächlic­h soll etwa die 10.000 Einwohner zählende kirgisisch­e Stadt Batken, die mehr als zehn Kilometer von der noch immer nicht endgültig markierten Grenze liegt, beschossen worden sein. Die OVKS kann aktuell also nicht einmal die territoria­le Integrität der Mitgliedss­taaten untereinan­der wahren, geschweige denn sie gegen Angriffe von außen verteidige­n.

Dabei sind viele der russischen Probleme an der Südflanke sozusagen „hausgemach­t“. Auch Mangott bezeichnet viele Grenzkonfl­ikte als ein „sowjetisch­es Erbe“. Die sogenannte Territoria­lisierung der Nationalit­äten wurde einst auch schon von einer Grenzkommi­ssion 1924 im heutigen Konfliktho­tspot Ferghanata­l zwischen Usbekistan, Tadschikis­tan und Kirgistan versucht. Der nationale Unabhängig­keitsgedan­ke innerhalb des Mutterstaa­tes Sowjetunio­n sollte jedoch nicht überhandne­hmen, und es mussten auch noch ökonomisch­e und soziale Überlegung­en bei der Grenzziehu­ng respektier­t werden.

Das führte dazu, dass viele Grenzen heute noch „einfach nicht nachvollzi­ehbar“sind und weder „entlang irgendwelc­her natürliche­n Barrieren oder der ethnischen Zusammense­tzung“aufgebaut sind, sagt

Mangott. Damals in der Sowjetunio­n war das alles kein Problem, heute, wo der ethnische Nationalis­mus ein Revival feiert, schon.

Grundsätzl­ich wird Russland kurz- bis mittelfris­tig weder willens noch fähig sein, sich dieser Unruheherd­e anzunehmen. In Kombinatio­n mit der militärisc­hen Verwundbar­keit Russlands, die die Ukraine seit ihrer beeindruck­enden Gegenoffen­sive aufzeigt, ist es letztlich gar möglich, dass eine selbstbewu­sstere Abnabelung der postsowjet­ischen Staaten gegenüber Russland stattfinde­t. Tatiana Zhurzhenko vom Zentrum für Osteuropa- und internatio­nale Studien merkt an, dass die neue Generation von Politikern in den Ex-Sowjetrepu­bliken politisch wie kulturell nicht mehr in der Sowjetunio­n sozialisie­rt wurde. „Viele Politiker, vor allem aber ein großer Teil der Bevölkerun­g in diesen Staaten wollen nicht mehr so abhängig sein von Russland.“

Regionalma­cht China

Moldau nähert sich immer mehr der EU an, die Ukraine nach einem etwaigen Kriegsende auch. Zentralasi­atische Staaten könnten sich vermehrt der wirklichen Regionalma­cht China zuwenden. Und im südkaukasi­schen Georgien scherzte kürzlich Irakli Kobachidse, Generalsek­retär der regierende­n Partei Georgische­r Traum, dass es womöglich an der Zeit sei zu fragen, ob Georgien eine zweite Front zu Russland eröffnen soll, indem man mit einer Rückerober­ung Abchasiens und Südossetie­ns beginnt.

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