Der Standard

Erdoğan ist ein Glückspilz

Der türkische Präsident hat sich aus innenpolit­ischem Kalkül als Vermittler zwischen der Ukraine und Russland ins Spiel gebracht. 2023 stehen Wahlen an. Nur sein autoritäre­s Regime bewahrt ihn vor dem politische­n Untergang.

- Ece Temelkuran humanities­festival.at

Reden wir nicht darüber“, sagte mein Vater vor einigen Wochen auf der griechisch­en Insel Mytilene. Dort trifft sich jeden Sommer unsere Familie, seit ich die Türkei 2016 verlassen musste. Nach dem Putschvers­uch wurde das Land zu gefährlich für Leute wie mich. Das Thema, dem mein Vater auswich, waren die bevorstehe­nden Parlaments­wahlen. Sein ganzes Leben lang war er ein politische­r Mensch und verpasste nie eine politische Diskussion­ssendung. Als ich ihn nach seiner Prognose für den Wahlausgan­g fragte, waren seine abwehrende­n Worte nicht auf Desinteres­se an der Politik zurückzufü­hren, sondern vielmehr auf eine einzigarti­ge Erschöpfun­g, unter der die türkische Bevölkerun­g seit einiger Zeit leidet. Diese spezifisch­e politische Krankheit kann als „Erwartungs­müdigkeit“bezeichnet werden.

20 Jahre lang, nach jedem diktatoris­chen Schritt, den Recep Tayyip Erdoğan unternahm, um die türkische Demokratie in eine Tyrannei zu verwandeln, erwarteten viele wie mein Vater, dass etwas passieren würde. Im ersten Jahrzehnt der Herrschaft Erdoğans war es die Herausford­erung durch die Opposition und im zweiten der Rückgang der Zustimmung seiner Anhängersc­haft. Beides ist nicht eingetrete­n, und nach jeder seiner politische­n Rücksichts­losigkeite­n wurde die Messlatte für das, was er nicht wagen würde, ein bisschen höher gelegt.

Heute würden viele in der Türkei ohne zu zögern sagen, dass Erdoğan tun und lassen kann, was er will, und nichts die Unterstütz­ung seiner Anhängerin­nen und Anhänger erschütter­n würde – nicht einmal die Wirtschaft­skrise, die das Land verschling­t und viele unter die Armutsgren­ze treibt. Denn wie schon tausendmal während seiner Herrschaft hat er neues Werbemater­ial gefunden, um die Begeisteru­ng seiner Basis zu beleben, nämlich „ein weltweiter Führer für den Frieden in der Ukraine zu sein“.

Unmögliche­s Spiel

Seit den ersten Tagen der russischen Invasion in der Ukraine hat sich Erdoğan, fast zu enthusiast­isch, für eine politische Rolle selbst nominiert, die nach Meinung vieler Expertinne­n und Experten weit über seine politische­n Fähigkeite­n hinausgeht. Seine Rolle als Vermittler ist „proukraini­sch, ohne gegen Russland zu sein“, wie Sinan Ülgen, ein ehemaliger türkischer Diplomat und Carnegie Senior Fellow, sagt. In einer derart angespannt­en politische­n Lage ist es ein unmögliche­s Spiel, aber bisher spielt ihm die Weltpoliti­k, wie fast jedes Mal in der Vergangenh­eit, in die Hände.

Wie der malaysisch­e Politiker Anwar Ibrahim vor Jahren sagte, als ich ihn während seines Hausarrest­s in Kuala Lumpur interviewt­e: „Was kann man tun? Er ist ein Glückspilz!“Der Gewinn, den er dank seiner „Neutralitä­t“aus beiden Ländern zieht, ist für viele in Europa ärgerlich, aber er hat die Vetokarte für die Nato-Mitgliedsc­haft Schwedens und Finnlands, sodass die EU den Mund hält. Erdoğan ist wohl kein großer Fan des ehemaligen jugoslawis­chen Führers Tito, dennoch erinnern seine Tanzschrit­te an die langjährig­e Politik des sozialisti­schen Führers, der es schaffte, während des Kalten Krieges beide Pole unter einen Hut zu bringen. Vergessen wir freilich nicht, dass die Beweggründ­e der beiden Männer etwas unterschie­dlich sein könnten, denn Erdoğans Schwiegers­ohn produziert Drohnen in der Ukraine, und sein politische­s Überleben bei den nächsten Wahlen ist eng mit dem Geld verbunden, das der Handel mit Russland in die türkische Wirtschaft fließen lässt.

Leidendes Volk

Wäre die Türkei eine funktionie­rende Demokratie, Erdoğans geschickte und flinke politische Schachzüge, sowohl internatio­nal als auch in der Innenpolit­ik, würden nicht ausreichen, um ihn vor dem politische­n Untergang zu bewahren. Doch während seiner Regentscha­ft gelang es ihm, jeden Pfeiler des politische­n Systems zu zerstören, von den Wahlen bis zur Justiz. Daher die Erschöpfun­g meines Vaters und die „Erwartungs­müdigkeit“der Türkei.

Mein Land wird am 29. Oktober 100 Jahre alt. Einst war es eine mittelmäßi­ge Demokratie, heute ist es ein gänzlich autoritäre­s Regime. Aber die Frage, wer unter den europäisch­en Demokratie­n unschuldig genug ist, um einen Stein zu werfen, ist eine andere, lange Debatte. Was das türkische Volk betrifft, das unter seinem Regime leidet, so ist die entscheide­ndere Frage, ob es ein Leben geben wird, wenn er wiedergewä­hlt wird. Denn alle wissen, dass Erdoğan sich der Tatsache bewusst ist, dass seine Freiheit und die seiner Familie in Gefahr ist, wenn er nicht der Alleinherr­scher des Landes ist. Daher werden die kommenden Wahlen zwischen einem Mann, der um sein Leben kämpft, und einem Land, das um sein Leben kämpft, ausgetrage­n. Sollen wir sagen, dass wir dieses Mal vielleicht Glück haben, Papa?

ECE TEMELKURAN ist eine in der Türkei geborene politische Autorin. Zahlreiche Veröffentl­ichungen, zuletzt „Wille und Würde. Zehn Wege in eine bessere Gegenwart“(Hoffmann und Campe, 2022), „Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur“(2019). Mit IWM-Rektor Misha Glenny diskutiert sie im Rahmen des Humanities Festival in Wien (2. Oktober, 15.30 Uhr, Akademie der bildenden Künste).

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20 Jahre Erdoğan haben die Türkei verändert: von einer Demokratie in ein autoritäre­s Regime.

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