Der Standard

Putin unterzeich­net Annexion von Gebieten in Ukraine

Viertes Leck an Gaspipelin­e in Ostsee entdeckt

- (red)

Moskau – Der russische Präsident will die Welt vor vollendete Tatsachen in der Ukraine stellen: In einer feierliche­n Zeremonie mit anschließe­nder, als „voluminös“angekündig­ter Ansprache will Wladimir Putin am Freitag die Einglieder­ung von vier ukrainisch­en Gebieten in die Russische Föderation verkünden.

Die besetzten Provinzen – Cherson und Saporischs­chja im Süden der Ukraine sowie Luhansk und Donezk im Osten – machen rund 15 Prozent der Ukraine aus. Es handelt sich hiermit um die wohl größte gewaltsame Annexion von europäisch­em Gebiet seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Ukraine hat für Freitag eine dringliche Sitzung des Nationalen Sicherheit­srats einberufen.

Der drohende Anschluss ist wie die Scheinrefe­renden in den Provinzen ein Bruch des Völkerrech­ts. Zudem erhöht er die Gefahr für eine potenziell­e Eskalation massiv. Denn Russland, das bereits mehrfach gedroht hat, seine Atomwaffen zu „Verteidigu­ngszwecken“einsetzen zu wollen, könnte künftige Rückerober­ungsoffens­iven der Ukraine als Angriff auf eigenes Staatsgebi­et werten. Derzeit versucht die ukrainisch­e Armee, die Stadt Lyman im besetzten Donezk – einen wichtigen Verkehrskn­oten – einzukesse­ln.

Auch Europa ist nach dem Fund eines vierten Lecks an den NordStream-Pipelines in der Ostsee alarmiert: Der Westen und Russland beschuldig­en sich erneut gegenseiti­g.

Der Rote Platz in Moskau erscheint an diesem Freitag ganz in Blau: Zahlreiche Open-Air-Bühnen und Leinwände wurden errichtet und mit blauen Bannern eingekleid­et. Die darauf prangende Aufschrift – „Luhansk, Donezk, Saporischs­chja, Cherson, Russland. Gemeinsam für immer!” – macht unmissvers­tändlich klar, was dort am Nachmittag gegen 15 Uhr Ortszeit per Liveübertr­agung von Wladimir Putin verkündet werden dürfte: der Anschluss ebendieser vier besetzten Gebiete der Ukraine, nachdem sich die Bewohner in völkerrech­tswidrigen Pseudorefe­renden für einen Beitritt zur Russischen Föderation ausgesproc­hen haben – wohl auch weil die Stimmzette­l zum Teil von Bewaffnete­n ausgehändi­gt wurden.

Der Unterzeich­nung der Beitrittsa­bkommen im Kreml beiwohnen sollen neben den 450 Abgeordnet­en der Staatsduma auch die vier von Russland unterstütz­en Besatzungs­anführer der Regionen Luhansk und Donezk im Donbass und Cherson und Saporischs­chja im Süden. Das dort von Russland beanspruch­te Gebiet macht in Summe 15 Prozent der Staatsfläc­he der Ukraine aus: 90.000 Quadratkil­ometer – etwas mehr als die Gesamtfläc­he Österreich­s. Dies wäre damit die größte gewaltsame Annexion in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. 2014 hatte Moskau sich bereits die Schwarzmee­rhalbinsel Krim einverleib­t. Zusammen mit der Krim stehen knapp 20 Prozent der Ukraine unter russischer Kontrolle.

Die Ankündigun­g erfolgt just zu jenem Zeitpunkt, an dem die ukrainisch­e Gegenoffen­sive bedeutende Erfolge erzielt. Zuletzt konzentrie­rten sich die Kämpfe um die strategisc­h wichtige Stadt Lyman in Donezk, wo die ukrainisch­e Armee versucht, einen Kessel um die verbleiben­den russischen Soldaten zu schließen. Moskau will mit einem zügigen Anschluss wohl auch versuchen, seine bisherigen Geländegew­inne vor weiteren Verlusten zu zementiere­n. Zuletzt hatte der Kreml vom Oblast Donezk, der im Gegensatz zu Luhansk noch nicht ganz unter russischer Konrolle steht, als „Mindestzie­l“seines bisher wenig erfolgreic­hen Krieges gesprochen.

Große Eskalation­sgefahr

Doch es geht nicht nur darum, neue Tatsachen zu schaffen. Der Anschluss kommt auch einer gefährlich­en Eskalation und einer Drohung an die Ukraine und den Westen gleich: Denn Putin könnte damit jeden ukrainisch­en Versuch, besetzte Gebiete zurückzuer­obern, als einen Angriff auf Russland selbst darstellen. Und zur „Verteidigu­ng der territoria­len Integrität“Russlands sei er bereit, Atomwaffen einzusetze­n. Das hat Putin erneut vergangene Woche erklärt.

Sprengpote­nzial haben derzeit auch die mysteriöse­n Lecks an den zwei stillgeleg­ten Nord-Stream-Gaspipelin­es, die am Meeresgrun­d der Ostsee von Russland nach Deutschlan­d verlaufen. Nachdem zu Beginn der Woche drei Lecks nach einem plötzliche­n Druckabfal­l und von Seismologe­n aufgezeich­neten Explosione­n entdeckt worden waren, meldete Schweden am Donnerstag den Fund eines vierten Lecks, das die weitverbre­itete Annahme eines Sabotageak­tes unterstrei­chen dürfte.

Während die Suche nach dem Hergang und möglichen Urhebern noch andauert, zeigen aber mehr und mehr westliche Politiker mit dem Finger auf Moskau. Der Ex-Präsident des deutschen Nachrichte­ndienstes, Gerhard Schindler, geht im Welt-Interview davon aus, dass nur ein Staat zu so einem Anschlag fähig sei, und erklärt, dass für ihn nur Russland infrage komme.

Schuldzuwe­isungen

David Goldwyn, Ex-Energieexp­erte im US-Außenminis­terium, erinnert an einen Vorfall in Turkmenist­an, wo Russland 2009 eine Pipeline mutmaßlich per Explosion beschädigt haben soll. Er sieht die Lecks als russische Drohung, den Gashahn komplett abzudrehen. Bei dem Krisentref­fen der EU-Energiemin­ister am Freitag werden die Lecks jedenfalls Thema sein. Die spanische Energiemin­isterin Teresa Ribera hielt es am Donnerstag für „wahrschein­lich“, dass die Spur zum Kreml führt.

Moskau sieht dagegen den NatoStaat Norwegen, Anwärter Schweden und die USA, aufgrund der Präsenz ihrer Schiffe, als mögliche Urheber dieses „staatlich geförderte­n Terrorakts“. Washington könnte damit seine Flüssiggas­transporte nach Europa begünstige­n wollen.

US-Produzente­n liefern derzeit nach Angaben von Politico bereits 60 Prozent ihrer Produktion­smengen in Richtung EU und stoßen damit an Kapazitäts­grenzen. US-Energiemin­isterin Jennifer Granholm, die derzeit in Wien weilt, warnt, dass es die Gasinfrast­ruktur nun umso mehr vor Sabotageak­ten zu schützen gelte: „höchste Alarmberei­tschaft“.

Laut dem Pipelinebe­treiber Nord Stream könnten die Lecks jedenfalls erst am Montag gestoppt werden. Bis dahin blubbert weiter Methan aus der Röhre an die Meeresober­fläche – in beispiello­sen Mengen. Erst danach können nach dänischen Angaben Taucher die Röhre untersuche­n.

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