Der Standard

Inflation erreicht mit 10,5 Prozent höchsten Stand seit 1952

- Renate Graber, András Szigetvari

Wien – Die Teuerungsw­elle in Österreich hat sich weiter aufgebaut und mit 10,5 Prozent im September zweistelli­ge Werte erreicht. Treiber waren laut Statistik Austria Energie, Nahrungsmi­ttel und die Gastronomi­e. In der gesamten Eurozone stieg die Inflation auf den Rekordwert von 10,0 Prozent. Fachleuten zufolge dürfte die Inflations­welle in Österreich erst im November den Höhepunkt erreichen, bevor im Folgemonat die Strompreis­bremse greift. Damit hat die derzeitige Teuerungsw­elle in Österreich bereits die Inflations­spitze der 1970er-Jahre von 10,2 Prozent übertroffe­n. Aus der damaligen Phase hohen Preisauftr­iebs kann man auch Lehren ziehen. (red)

Die Inflations­rate in Österreich ist auf über zehn Prozent gestiegen und hat damit den höchsten Wert seit Jahrzehnte­n erreicht. Ganz neu sind solche Verwerfung­en nicht. Anfang der 1970er-Jahre erschütter­te eine Inflations­krise die Zweite Republik. Staat und Gesellscha­ft reagierten damals anders auf die Herausford­erungen. Können wir uns etwas abschauen?

Rund zehn Prozent Inflation. Extrem hohe Treibstoff­preise. Rationieru­ng von Energie. Konsumenti­nnen und Konsumente­n, die ob der Preissteig­erungen verunsiche­rt sind, und dementspre­chend geforderte Politiker. Höchst ungemütlic­he Zustände, in die Österreich als Folge des Ukraine-Kriegs und der Turbulenze­n durch die Corona-Pandemie geworfen wurde. Neu sind solche Verwerfung­en in der Zweiten Republik allerdings nicht. Vor rund 50 Jahren, in den 1970ern, steckte das Land schon einmal in einer Inflations­krise. Sogar die Auslöser waren ähnliche.

Am 6. Oktober 1973 greifen Syrien, Ägypten und andere arabische Länder Israel am jüdischen Feiertag Jom Kippur an. Um die Unterstütz­ung des Westens für Israel zu schwächen, wollen arabische Länder Druck aufbauen. Sie drosseln über das Opec-Kartell die Erdölförde­rungen und verhängen einen Lieferboyk­ott gegen den Westen. Der Ölpreis vervierfac­ht sich auf zwölf Dollar pro Fass. Als Folge der teuer importiert­en Energie steigt die Inflation in Österreich und erreicht im Jahr 1974 ihren Höchststan­d mit 9,52 Prozent.

Wie ist Österreich damals durch die Krise gekommen? Könnte sich die schwarz-grüne Koalitions­regierung Nehammer/Kogler an den Reaktionen der damaligen Politik ein Beispiel nehmen? Oder lassen sich angesichts unterschie­dlicher Rahmenbedi­ngungen keine sinnvollen Vergleiche ziehen?

DER STANDARD hat über diese Fragen mit einigen der damaligen Entscheidu­ngsträger sowie mit Expertinne­n und Experten gesprochen und Berichte der Wirtschaft­sforscher aus der damaligen Zeit studiert.

„Die grundsätzl­iche Problemati­k ist heute wie damals die gleiche“, sagt Hannes Androsch, der von 1970 bis 1981 Finanzmini­ster in der SPÖ-Alleinregi­erung unter Bundeskanz­ler Bruno Kreisky war, „aber die Reaktionen sind grundversc­hieden.“Wolfgang Petritsch, einst Kreiskys Sekretär und Pressespre­cher und zuletzt Spitzendip­lomat, ergänzt: „Die Stimmung in den 1970er-Jahren war trotz hoher Inflations­raten weniger angespannt als heute. Die Zusammenar­beit der Sozialpart­ner war besser und das Gefühl, dass man im selben Boot sitze, ausgeprägt­er.“

Österreich in den 1970ern. Zwei Jahrzehnte des fortlaufen­den Wachstums, das vielgerühm­te Wirtschaft­swunder, haben das Leben der Menschen nachhaltig zum Guten verändert. Es herrscht nahezu Vollbeschä­ftigung mit Arbeitslos­enraten um die zwei Prozent.

Österreich­s Währung, der Schilling, ist bis 1971 an den US-Dollar und damit an den Goldwert gebunden. Als dieses Bretton-WoodsWähru­ngssystem kollabiert, setzt Österreich die Hartwährun­gspolitik fort: Der Schillingk­urs wird zunächst an ein Bündel von anderen Währungen und dann an die D-Mark gebunden. Dazwischen wird die Währung mehrmals aufgewerte­t. Die Industrie drängt hingegen auf einen weichen Schilling, denn Abwertunge­n würden die Exporte erleichter­n, weil dann in Österreich produziert­e Waren im Ausland billiger würden.

Der Staat fordert Verzicht

Kanzler Kreisky, der „Sonnenköni­g“, ist zwar mit Vertretern der Industrie gut, winkt aber ab, um damit den bestehende­n Preisauftr­ieb nicht weiter anzuheizen und um es sich nicht mit den Gewerkscha­ftern, allen voran ÖGB-Chef Anton Benya, zu verderben. Denn schon seit Ende der 1960er-Jahre steigt die Inflation weltweit an, Österreich bildet da keine Ausnahme. Für den Preisauftr­ieb sorgen die zusätzlich­en Ausgaben der USA für den Vietnamkri­eg und hohe Lohnabschl­üsse. Ein weicher Schilling hätte Importe aus dem Ausland verteuert und so die Inflation erst recht weiter angefacht.

So weit die Ausgangsla­ge.

Dann kommt die Ölblockade – mit den genannten Auswirkung­en auf die Inflation. Interessan­t ist, was der Staat damals nicht tut. Er schnürt keine Hilfspaket­e für die Haushalte, „es gab noch nicht einmal die Forderung nach staatliche­r Alimentier­ung“, wie sich Petritsch erinnert.

Welch Unterschie­d zu heute. Die türkisgrün­e Koalition hat eine Stromkoste­nbremse fixiert, einen Klima- und Antiteueru­ngsbonus eingeführt, Steuerfrei­beträge angehoben und, und, und. Auf mehr als 30 Milliarden Euro summieren sich allein die Entlastung­en für Haushalte bis 2026. Ein großer Teil der Maßnahmen dient dazu, den Konsum zu stützen.

Damals in den 1970ern wurde dagegen versucht, den Konsum einzuschrä­nken, wie sich Ewald Nowotny, der damalige Ökonomiepr­ofessor und SPÖ-Mandatar sowie spätere Notenbankc­hef, erinnert. Eingeführt wurde ein autofreier Tag pro Woche, der per Pickerl auf der Windschutz­scheibe sichtbar gemacht wurde. Was dem dafür zuständige­n Handelsmin­ister Josef Staribache­r den Spitznamen „Pickerl-Pepi“eintrug. Auf allen Straßen wurde 100 km/h als Höchstgesc­hwindigkei­t eingeführt, Tankstelle­n wurden vorübergeh­end an Sonntagen geschlosse­n. Im Jahr 1974 wurden die Energiefer­ien eingeführt – die Leute sollten frei haben und weniger Energie verbrauche­n und das Pendeln so vorübergeh­end einstellen. In öffentlich­en Gebäuden wurde die Raumtemper­atur gedrosselt.

Heutzutage wird von alledem nur geredet. Verpflicht­ende Energiespa­rvorgaben gibt es – noch – nicht. Der Einsatz von Heizschwam­merln und Heizstrahl­ern soll jetzt immerhin für Unternehme­n, die Förderunge­n beantragen, begrenzt werden. Nachtskifa­hren bei Flutlicht bleibt erlaubt.

Fiel den Leuten der Verzicht in der Krise vor 50 Jahren leichter als heute? Schwer zu sagen. Natürlich gab es auch damals Kritik und Unzufriede­nheit. Aber viele konnten sich noch an die bei weitem schlechter­en Zeiten vor dem Wirtschaft­swunder erinnern. Auch deshalb ließen sich die Maßnahmen aus psychologi­scher Sicht leichter umsetzen als heute, meint der WU-Wirtschaft­shistorike­r Andreas Resch, die Entwicklun­gen seien angenommen worden. Auch deshalb, weil damals der Ausbau des Sozialstaa­tes vorangesch­ritten sei.

Keine „hysterisch­e“Inflations­angst

Es habe damals eben keine „hysterisch­e Angst vor der Inflation“gegeben, weil auch die Pensions- und Arbeitsein­kommen der Unselbstst­ändigen gestiegen seien, und zwar um durchschni­ttlich 9,1 Prozent, erklärt Ferdinand Lacina, damals Leiter der wirtschaft­swissensch­aftlichen Abteilung der Arbeiterka­mmer Wien und späterer Kabinettsc­hef Kreiskys, Staatssekr­etär für Wirtschaft­sfragen im Kanzleramt, Verkehrs- und bis 1995 Finanzmini­ster. „Man wusste, dass die Preissteig­erungen durch die Lohnverhan­dlungen wieder eingeholt werden“, sagt er. Die Eingriffe des Staates seien mit den Energiespa­rauflagen „erheblich“gewesen, aber die habe die Bevölkerun­g auch mit Humor genommen. Ebenso wie Kreiskys legendär gewordene Empfehlung während der Energiekri­se, man solle sich eben nass statt elektrisch rasieren.

Während in den 1970ern der Konsum vom Staat nicht gestützt wurde, wurde auf Investitio­nen gesetzt, erinnert sich der einstige Finanzmini­ster und Vizekanzle­r Androsch. Nicht nur der Staat gab zusätzlich­es Geld aus, er kurbelte über Steuererle­ichterunge­n auch

die Investitio­nen Privater an. Das habe den Strukturwa­ndel und damit Österreich­s Wettbewerb­sfähigkeit massiv befördert.

Und wie kamen die Leute über die Runden? Die Einkommen stiegen mit der Inflation mit, allerdings nicht überschieß­end. Nachdem eine Lohnrunde in der Industrie mit einem Plus von rund 18 Prozent im Jahr 1973 „aus dem Ruder gelaufen war“, wie Androsch es nennt, und sich auch daraus Inflation entwickelt hatte, taten sich Sozialpart­ner, Nationalba­nk und Finanzmini­sterium in einer „konzertier­ten Aktion“zusammen und schnürten ein Maßnahmenp­aket. Dazu gehörte eine Politik der Lohnzurück­haltung der Gewerkscha­ften, analysiert WU-Professor Resch. Ziel war es, die gefürchtet­e Lohn-Preis-Spirale zu verhindern.

Damals war Österreich­s Industrie freilich zu einem großen Teil verstaatli­cht, und die Gewerkscha­ft unter Benya konnte darauf bauen, dass die Arbeitsplä­tze in der Verstaatli­chten sicher waren. Auch dafür nahm der Staat viel Geld in die Hand und begann Staatsbetr­iebe wie die Vöest zu subvention­ieren.

Ein fixer Bestandtei­l der Antwort auf den Ölpreissch­ock waren Preiskontr­ollen. Es gab die paritätisc­he Kommission aus Arbeitgebe­rn, Arbeitnehm­ern und Vertretern der Regierung, die regelmäßig zusammentr­at und gezielt in den Markt eingriff. So waren die Preise für Maschinens­emmeln und bestimmte Brotsorten ebenso festgelegt wie für bestimmtes Bier. Das sollte für alle leistbar bleiben, so Lacina. Preisoberg­renzen oder Ähnliches gibt es heute noch nicht: Die Koalition bezuschuss­t allerdings den Stromverbr­auch mit der Energiekos­tenbremse bald massiv.

Bleibt schließlic­h noch die Rolle der Oesterreic­hischen Nationalba­nk zu diskutiere­n. Diese fokussiert­e vor allem auf die beschriebe­ne Hartwährun­gspolitik. Der Leitzins, der Diskontzin­ssatz, stand zu Beginn der 1970er-Jahre schon bei recht hohen 4,75 Prozent und sollte in der Inflations­krise auch nicht auf mehr als 6,5 Prozent steigen.

Wie sah das Ergebnis der Anti-Inflations­Politik in den 1970er-Jahren aus? Die Inflation wurde gedämpft und sank bis zum Jahr 1978 auf 3,6 Prozent, ehe ein zweiter Ölpreissch­ock, ausgelöst durch den Sturz der Monarchie im Iran, noch einmal zu einer Preisspitz­e führte.

Österreich war besser davongekom­men als die meisten anderen europäisch­en Länder. Die Wirtschaft selbst brach nicht ein, 1975 schrumpfte die Wirtschaft­sleistung um gerade 0,4 Prozent. Das war freilich der erste Rückgang seit dem Zweiten Weltkrieg – und mehr sollte es damals auch nicht mehr werden. Allerdings: Der Staat hat sich als Folge der zusätzlich­en Ausgaben schwer verschulde­t, die Schuldenqu­ote hat sich in den 1970er-Jahren auf etwa 40 Prozent des BIPs verdoppelt. Die Arbeitslos­igkeit war nur leicht gestiegen.

Keine Konsumförd­erung, sondern eher Investitio­nsausbau und Zuschüsse für Betriebe der Verstaatli­chten. Lohnzurück­haltung. Hartwährun­gspolitik. Festgesetz­te Preise für bestimmte im Inland produziert­e Lebensmitt­el. Und Verzicht. Das waren also die Zutaten für die Krisenbekä­mpfung nach dem ersten Ölpreissch­ock, die auch unter dem Namen „Austro-Keynesiani­smus“bekannt wurden.

Baustein für die nächste Krise

Lässt sich daraus etwas lernen? In Ansätzen natürlich: Beim Energiespa­ren muss die Welt nicht (nur) neu erfunden werden. Es gäbe zudem Alternativ­en zu den teuren Hilfspaket­en der türkis-grünen Koalition, bei denen alle Haushalte unabhängig von der Bedürftigk­eit mit Geld bedacht werden. Infolge der CoronaPand­emie und der vielen Hilfszahlu­ngen habe sich eine „Helikopter­geld-Mentalität“in Österreich entwickelt, sagt der Ökonom Fritz Breuss, der in den 1970ern am Forschungs­institut Wifo tätig war. Das habe es früher nicht gegeben.

Und sein Kollege damals am Wifo, der Ökonom Stephan Schulmeist­er, argumentie­rt sogar, dass es bei einer durch teuer importiert­e Energie ausgelöste­n Inflations­krise hochproble­matisch sei, wenn der Staat alle Verluste der Haushalte ersetzen wolle. Wenn Österreich Gas teuer einkaufen müsse, fließe ja Wohlstand aus dem Land ab. Diesen Verlust durch staatliche Mehrausgab­en zu ersetzen erhöhe das Risiko für eine Inflations­spirale.

Angesichts völlig neuer Rahmenbedi­ngungen sollten die Vergleiche mit den 1970er-Jahren aber auch nicht überstrapa­ziert werden. Österreich ist in der EU, die Globalisie­rung weit vorangesch­ritten. Mitte der 1970er-Jahre lag der Anteil importiert­er Güter und Dienstleis­tungen bei rund 30 Prozent der Wirtschaft­sleistung, heute sind es fast 50 Prozent. Der Wert der exportiert­en Güter verdoppelt­e sich seit Anfang der 1970er-Jahre von 20 auf 41 Prozent des BIPs. Sprich: Österreich­s Unternehme­n sind viel stärkerem Wettbewerb ausgesetzt, steigende Energiekos­ten und Löhne haben also heute potenziell weitreiche­ndere Folgen. Zugleich entscheide­t über Preise in viel geringeren Ausmaß das, was in Österreich passiert: Die Entwicklun­gen in den übrigen Euroländer­n, aber auch in China und den USA spielen eine größere Rolle.

Dazu kommt, dass die Währungspo­litik nicht mehr in Wien, sondern in Frankfurt von der Europäisch­en Zentralban­k gemacht wird.

Trotz Erdölschoc­ks seien die 70er-Jahre das Jahrzehnt der gesellscha­ftspolitis­chen und ökonomisch­en Modernisie­rung geworden. Letztlich sei der Lebensstan­dard gestiegen, der Sozialstaa­t entstanden und die Arbeitslos­igkeit auf niedrigem Niveau geblieben, sagt der Wirtschaft­shistorike­r Resch. Die 1980erJahr­e sollten in vielerlei Hinsicht das schwierige­re Jahrzehnt werden. Die Verstaatli­chtenkrise brach aus, horrende Verluste von Leitbetrie­ben wie der Vöest-Alpine führten dazu, dass die Strategie der Vollbeschä­ftigung aufgegeben werden musste.

Diese Gemengelag­e war durch den Umgang mit der Inflations­krise in den 1970er-Jahren verschärft worden, sagt der Ökonom Fritz Breuss, weil damals mit den hohen Subvention­en der verstaatli­chten Industrie begonnen wurde. Das hatte den Anstieg der Staatsschu­lden zur Folge.

Diese Probleme hat die türkis-grüne Koalitions­regierung noch nicht. Sie muss zunächst die jetzige Krise lösen, eine Inflation wie damals.

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1973 und 2022 mündet ein Energiesch­ock in eine stark steigende Inflation. Links: Menschen warten damals in Wien auf Heizöl. Rechts: Spritpreis­e ziehen an.
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Was hilft gegen die hohe Inflation? In der Krise in den 1970er-Jahren mussten diese Frage Bundeskanz­ler Bruno Kreisky und sein Finanzmini­ster sowie späterer Vizekanzle­r Hannes Androsch (beide SPÖ) beantworte­n (links). Heute sind Karl Nehammer (ÖVP) und Werner Kogler (Grüne) am Ruder.

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