Der Standard

Putin geht aufs Ganze

Die Annexion von vier ukrainisch­en Provinzen macht Russlands ständige Drohungen mit einem Atomschlag ein Stück realistisc­her. Für den Westen stellt sich die Frage, wie er Wladimir Putin abschrecke­n kann – und im Ernstfall reagieren soll.

- Eric Frey, Fabian Sommavilla

Er verleibt sich einen Teil der Ukraine ein, schickt junge Russen gnadenlos in den Krieg, er droht mit dem Einsatz von Nuklearwaf­fen, und vieles deutet darauf hin, dass auch die Lecks in den Nord-Stream-Gasleitung­en auf sein Konto gehen: Wladimir Putin kennt offenbar keine Grenzen. Schlaglich­ter auf eine Eskalation.

Im Jänner 2020 wurden die Zeiger der „Doomsday Clock“der Zeitschrif­t Bulletin of the Atomic Scientists auf 100 Sekunden vor Mitternach­t gestellt, so nah zum Weltunterg­ang wie nie zuvor. Nun könnten die Zeiger noch weiterrück­en: Mir der Annexion von vier ganz oder teilweise besetzten ukrainisch­en Provinzen durch Russland ist ein Atomkrieg etwas wahrschein­licher geworden.

Durch die Scheinrefe­renden schuf Präsident Wladimir Putin die rechtliche Grundlage für den Einsatz von Kernwaffen: Nach der Einglieder­ung jener Provinzen in die Russische Föderation kann er nun behaupten, dass die ukrainisch­e Armee durch ihren Widerstand die territoria­le Integrität Russlands bedroht. Und dies, so Putin in seiner Rede vom 21. September, legitimier­e die Verwendung „aller uns zur Verfügung stehenden Mittel“. Aus einem brutalen Angriffskr­ieg wird so aus russischer Sicht ein Verteidigu­ngskrieg.

Noch setzen Politiker und Experten im Westen darauf, dass Putin ein Stück Vernunft behält und keinen Schritt setzt, der in einen globalen Atomkrieg münden könnte. Aber das könnte sich ändern, wenn seine Armee in der Ukraine weitere Gebiete verliert und der Krieg verloren zu gehen droht. Bisher hat Putin auf jeden Rückschlag mit einer weiteren Eskalation reagiert. Die letzte Eskalation­sstufe wäre der Druck auf den Nuklearkno­pf.

Einsatz ohne großen Wert

Was Russland damit gewinnen könnte, ist unklar. Die Drohung mit dem Atomschlag soll den Westen davon abhalten, die Ukraine weiterhin zu unterstütz­en. Aber die Umsetzung der Drohung hätte womöglich den gegenteili­gen Effekt. Und militärisc­h wären auch die kleinsten taktischen Atomwaffen auf dem Schlachtfe­ld ohne großen Wert und würden zudem Gebiete verseuchen, die Russland für sich beanspruch­t. Auf dem Papier könnte Putin einen solchen Befehl – anders als der USPräsiden­t – nicht allein geben; er braucht laut der offizielle­n Befehlsket­te zumindest die Beteiligun­g des Verteidigu­ngsministe­rs und des Generalsta­bschefs.

Dennoch bleibt es vorstellba­r, dass ein Putin in Bedrängnis alles auf eine Karte setzt. Die militärisc­he Lage in der Ukraine bleibt für die russische Armee brenzlig, und eine totale Niederlage wäre für die großrussis­chen Ideologen eine nationale Katastroph­e – und würde auch Putins Herrschaft bedrohen. Dass Menschenle­ben für ihn und seine Clique wenig zählen, beweisen sie Tag für Tag. Den Atomkrieg zu riskieren, wenn alle Drohungen nichts nutzen, passt in diese Mentalität. Internatio­nale Verurteilu­ngen würden sie in Kauf nehmen.

Die potenziell­en Szenarien reichen von einer reinen Warnexplos­ion über dem Schwarzen Meer, einem Einsatz gegen militärisc­h relevante Infrastruk­tur in der Ukraine bis hin zu einem Terrorangr­iff auf eine mittelgroß­e ukrainisch­e Stadt. Wie unvermitte­lt solch ein Angriff kommen könnte, hängt von einigen Faktoren ab. Prinzipiel­l sind die meisten Bomber und Raketenwer­fer, die in der Ukraine eingesetzt werden, auch für die Bestückung mit atomaren Sprengköpf­en geeignet. Strategisc­he, extrem starke Atomwaffen, die für einen potenziell­en Vergeltung­sschlag in Raketensil­os, Bombern oder U-Booten auf ihren Einsatz warten, sind binnen Minuten startberei­t. Kaum jemand rechnet aber mit ihrem Einsatz zu Beginn eines Krieges.

Karte im Verhandlun­gspoker

Schwächere, taktische Atomwaffen müssten hingegen erst „aus den Bunkern geholt, verfrachte­t und einsatzber­eit gemacht werden“, sagt Hans Kristensen, Direktor des Nuclear Informatio­n Project, dem STANDARD. „Das dürfte Tage dauern.“Das böte US-Geheimdien­sten die Chance, diese Bewegungen rechtzeiti­g zu erkennen. Das könnte sogar im Sinne der Russen sein, um Verhandlun­gsdruck weiter aufzubauen, sagt Kristensen.

Vieles an der aktuellen Situation erinnert jedenfalls an die schlimmste Zeit des Kalten Krieges, als nur die Aussicht auf eine gegenseiti­ge Vernichtun­g – auf Englisch „mutual assured destructio­n“(MAD) – den totalen Atomkrieg verhindert­e. Laufend behandelte­n Militärstr­ategen mithilfe spieltheor­etischer Modelle die Frage, wie sich diese Abschrecku­ng aufrechter­halten lässt, wenn die politische Lage oder die Technologi­e sich ändert. Entscheide­nd war dabei stets die Zweitschla­gkapazität: Werden die USA mit Atomwaffen angegriffe­n, hätten sie immer noch das Arsenal, um vernichten­de Rache zu üben.

Ein Problem dabei war die Glaubwürdi­gkeit des Gegenschla­gs bei einem begrenzten Erstschlag, etwa gegen rein europäisch­e Ziele: Würde ein amerikanis­cher Präsident die Zerstörung New Yorks riskieren, um die Vernichtun­g von Hamburg zu rächen? Das war das Hauptmotiv für den Nato-Doppelbesc­hluss von 1979: Als Moskau begann, Mittelstre­ckenrakete­n aufzustell­en, die gegen europäisch­e Ziele gerichtet waren, wuchs die Überzeugun­g, dass es strategisc­he Atomwaffen mit Vernichtun­gspotenzia­l nicht nur in den USA, sondern auch in Europa geben müsste.

Dieses Glaubwürdi­gkeitsprob­lem stellt sich nun auch im Ukraine-Krieg: Würde die Nato nach einem Erstschlag Putins tatsächlic­h ihre Atomwaffen zur Verteidigu­ng eines NichtNato-Mitglieds einsetzen – oder doch lieber alles tun, um den Atomkrieg zu verhindern?

Es gibt eine dritte Möglichkei­t. Eine nukleare Antwort der Nato habe wenig Sinn, weil sie keine zusätzlich­en Optionen liefere und insgesamt den Einsatz von Atomwaffen legitimier­e, sagt Kristensen. Wahrschein­licher sei eine totale wirtschaft­liche Isolation mit den schärfstmö­glichen Sanktionen, massive Cyberattac­ken oder ein Eingreifen konvention­eller Nato-Truppen in der Ukraine.

Doch würde Russland dann den Atomkrieg auf Ziele im Westen ausdehnen? Das hat zumindest Ex-Präsident Dmitri Medwedew, seit Kriegsbegi­nn der nukleare Scharfmach­er in Moskau, angedeutet. Ein militärisc­hes Eingreifen der Nato sei so gut wie ausgeschlo­ssen, denn schließlic­h würden die „Demagogen jenseits des Ozeans und in Europa“doch nicht in einer „atomaren Apokalypse“sterben wollen. Als „russischen Weg“bezeichnet Kristensen diese Drohgebärd­en.

Washington bemüht sich jedenfalls, der russischen Seite den Ernst der Lage in diesem Fall klarzumach­en. In Reaktion auf Putins nukleare Drohung hätten US-Vertreter dem Kreml vergangene Woche präzise mitgeteilt, was Russland keinesfall­s tun dürfe, berichtete­n mehrere US-Medien.

Ein Teil der US-Strategie ist es, zwar von „katastroph­alen Konsequenz­en“zu sprechen, aber sie nicht im Detail auszusprec­hen und öffentlich keine roten Linien zu ziehen. Journalist­en sollten auch nicht ständig nach dem „exakten“Plan fragen, schrieb Atlantic-Journalist Tom Nichols in seinem Newsletter. Denn die nukleare Abschrecku­ng lebe zu einem großen Teil genau von dieser Unsicherhe­it.

Konvention­elle Abschrecku­ng

Indem die USA auf nukleare Drohungen verzichten, kann Putin diese auch nicht als Vorwand für einen Atomwaffen­einsatz verwenden. Sollte er einen solchen befehlen, wäre auch der russischen Bevölkerun­g klar, von wem die Eskalation ausgegange­n ist. Und angesichts der offensicht­lichen Schwäche der russischen Armee, die auch durch die Mobilisier­ung kaum an Kampfkraft gewinnen wird, sollte die Drohung, dass die Nato ihre geballte konvention­elle Macht zum Einsatz brächte, als Abschrecku­ng ausreichen, sagen Experten.

Dennoch wäre ein russischer Einsatz selbst der kleinsten taktischen Atomwaffe ein Schreckens­szenario. Er würde ein Tabu brechen, das seit den US-Abwürfen über Hiroshima und Nagasaki vor 77 Jahren in Kraft war. Das Überschrei­ten dieser Linie könnte auch anderswo den Griff zur Kernwaffe fördern.

Die theoretisc­h stärkste Form der Abschrecku­ng wäre es, wenn die Ukraine selbst Atomwaffen hätte und direkt Vergeltung üben könnte. Kiew hat seine von der Sowjetunio­n geerbten Atomwaffen im Budapester Memorandum 1994 für das Verspreche­n der Wahrung seiner Grenzen abgegeben. Aber eine nukleare Wiederbewa­ffnung Kiews durch den Westen wäre brandgefäh­rlich und völlig unrealisti­sch, sagt Kristensen. Es sei technisch komplizier­t, Russland würde es wohl merken und dann präventiv zuschlagen. Und es wäre ein totaler Bruch mit der internatio­nalen Verpflicht­ung zur Nichtverbr­eitung von Atomwaffen im NPT-Vertrag. Das wäre bloß „illegal und dumm“, sagt Kristensen.

 ?? ??
 ?? Foto: Picturedes­k ?? Seit der Atomexplos­ion über der japanische­n Stadt Nagasaki am 9. August 1945 gab es keinen militärisc­hen Einsatz von Kernwaffen. Nun droht Russland offen damit, dieses Tabu zu brechen.
Foto: Picturedes­k Seit der Atomexplos­ion über der japanische­n Stadt Nagasaki am 9. August 1945 gab es keinen militärisc­hen Einsatz von Kernwaffen. Nun droht Russland offen damit, dieses Tabu zu brechen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria