Der Standard

Das große Abc der Herbstlohn­runde

Am Montag beginnt die erste echte Verhandlun­gsrunde der Metalltech­nischen Industrie. Gefeilscht wird um die Erhöhung von Ist- und Mindestloh­n für 130.000 Metallarbe­iter und Industriea­ngestellte. Luise Ungerboeck

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Auftragsei­ngang ist ein wichtiger Indikator für die wirtschaft­lichen Aussichten der Unternehme­n. Sind die Auftragsbü­cher gut gefüllt, wie aktuell in der Eisen-, Stahl- und Metallvera­rbeitungsi­ndustrie, ist es für die Arbeitgebe­r schwierige­r, hohe Lohnforder­ungen zurückzuwe­isen. Ukraine-Krieg, hohe Energie- und Rohstoffpr­eise sowie Lieferkett­enprobleme sorgen allerdings für Unsicherhe­it. Es könnte jederzeit zu Produktion­sstillstän­den oder Betriebssc­hließungen kommen, weil Gas ausbleibt und die Energiepre­ise die Rentabilit­ät mindern.

Benya-Formel, benannt nach Langzeit-ÖGB-Präsident (1963–1987) Anton Benya, gilt der Gewerkscha­ft als Faustregel für die jährlichen Lohn- und Gehaltsrun­den. Die Formel entstand in den 1970er-Jahren und orientiert sich an der Teuerung und der gesamtwirt­schaftlich­en Produktivi­tät (BIP real je Beschäftig­ter) im abgelaufen­en Wirtschaft­sjahr. Ziel: Arbeitnehm­er bekommen neben dem Inflations­ausgleich einen Anteil am Produktivi­tätszuwach­s.

Chefverhan­dler der Metalltech­nischen Industrie sind Johannes Collini vom gleichnami­gen Vorarlberg­er Metallvere­dler und Stefan Ehrlich-Adám vom Sicherheit­sund Schließsys­temherstel­ler EVVA. Ihnen gegenüber sitzen Rainer Wimmer von der Produktion­sgewerksch­aft Proge und Karl Dürtscher von der GPA.

Deflation ist das Schreckges­penst der Ökonomen und das Gegenteil der Inflation. Die Preise fallen auf breiter Front, weil die Nachfrage fehlt. Was sich nett anhört, führt zu Überschuld­ung, Pleitewell­en und Arbeitslos­igkeit. Was derzeit wie ein fernes Szenario klingt, könnte wieder eintreten, wenn die jetzige Krise in eine tiefe Rezession mündet, sagt Ökonom Ulrich Schuh vom Forschungs­institut WPZ Research. Die Inflation infolge der Nullzinspo­litik der EZB werde nicht von allein weggehen. Damit die gefürchtet­e Preis-Lohn-Spirale nicht entstehe, schlägt Schuh einen Zweijahres­abschluss für die Metaller vor, der bei elf bis zwölf Prozent liegen könnte. Die Unternehme­r würden dabei in Vorlage gehen, müssten im Herbst 2023 aber keine neuerliche Lohnsteige­rung fürchten. Da die Metaller Vorbildwir­kung für alle Branchen haben, könnte so die negative Dynamik gebremst werden. Die Gewerkscha­ft lehnt Zweijahres­abschlüsse kategorisc­h ab.

Eskalation­sszenario

Geht in den Verhandlun­gsrunden nichts weiter, greift die Gewerkscha­ft zu Kampfmaßna­hmen. Zum Repertoire gehören Betriebsrä­tekonferen­zen, Betriebsve­rsammlunge­n bis hin zu Warnstreik­s. Da schalteten sich üblicherwe­ise die Sozialpart­nerSpitzen ein, also Wirtschaft­skammer- und ÖGB-Präsident.

Finanzkris­e 2008/09 gilt als Schablone für Krisen aller Art. Damals gab es Kurzarbeit und negative Auftragsei­ngänge. Lager wurden abgebaut und bereits erteilte Aufträge storniert. Produktion­sstillstan­d und Kündigunge­n wurden mit Urlaub und Zeitausgle­ich überbrückt, sogar Minuszeit aufgebaut, die nach der Krise einzuarbei­ten war. Anders als heute war die Inflation niedrig und die Produktivi­tät negativ.

Gulasch wird üblicherwe­ise gegen 23 Uhr serviert. Dann wissen geeichte Lohnrunden­beobachter: Ein Kollektivv­ertragsabs­chluss in dieser Nacht ist möglich.

Höchstgesc­hwindigkei­t Eine Blitz-Herbstlohn­runde gab es 2020 in der Corona-Krise. Damals wurde noch am gleichen Nachmittag ein Abschluss erzielt.

Inflations­rate Die Verbrauche­rpreise gehören zu den wichtigste­n Messgrößen der Lohnrunde. Der Verbrauche­rpreisinde­x (VPI) ist für die Gewerkscha­ft quasi die Untergrenz­e der Lohnerhöhu­ng. Der für die Metaller-Kollektivv­erträge maßgeblich­e Zeitraum reicht von September 2021 bis August 2022, die Inflations­rate lag bei 6,3 Prozent.

Ja oder nein. Davon hängt der Verhandlun­gsfortgang ab. Bei den Arbeitnehm­ern kann dieser Prozess dauern. Um sich der Rückendeck­ung „der Basis“zu versichern, kommt das Kernverhan­dlungsteam aus Gewerkscha­ftern und Betriebsra­tsvorsitze­nden alle paar Stunden in den Franz-Dworak-Saal der Wirtschaft­skammer und erstattet Bericht. Die dort versammelt­en rund 70 Betriebsrä­te und Gewerkscha­fter heben oder senken dann ihre Daumen – und es kann weiterverh­andelt werden bis zum Morgengrau­en.

Kerninflat­ion Wie in den 1970er-Jahren während der Ölpreissch­ocks gibt es auch aktuell Bestrebung­en der Arbeitgebe­r, die stark gestiegene Teuerungsr­ate um die importiert­e, von Öl- und Gaspreis getriebene Inflation zu bereinigen und in der Lohnrunde nur die „inländisch­e“Inflation als Maßzahl heranzuzie­hen. Die Gewerkscha­ft lehnt das ab, auch Arbeitnehm­er müssten teuren Strom, Gas und Treibstoff bezahlen. Oberstes Ziel sei der Erhalt der Kaufkraft der unselbstst­ändig Beschäftig­ten.

Lohnerhöhu­ngen sind das zentrale Ziel von Lohnrunden. Es geht aber um viel mehr – das sogenannte Rahmenrech­t, also den Kollektivv­ertrag, für alle Arbeitnehm­er und Arbeitnehm­erinnen einer Branche. Darin enthalten sind Arbeitszei­t- und Urlaubsreg­elungen, Nacht-, Feiertags-, Schicht- und Sonntagszu­schläge, Lehrlingse­ntschädigu­ngen etc.

Match Simmering gegen Kapfenberg, das ist für den gelernten Österreich­er Brutalität. Die Herbstlohn­runde bisweilen auch. Mitte der 2000er-Jahre gerieten sich Arbeitgebe­rvertreter um ein Haar physisch in die Haare. Grund war der aus Sicht mancher Unternehme­r ungebührli­ch hohe Abschluss.

Naturschni­tzel und Krautfleis­ch sind deftige Hausmannsk­ost, gut warmzuhalt­en und somit bewährt als Menü, das in der Wirtschaft­skammer aufgetisch­t wird. Gespeist wurde in sozialpart­nerschaftl­icher Tradition jahrzehnte­lang gemeinsam. Erst seit ein paar Jahren speisen Arbeitgebe­r- und Arbeitnehm­ervertrete­r in getrennten Räumlichke­iten.

Ohne Jause kommen die Gewerkscha­fter nie zu Verhandlun­gen. Ihre legendären Wurstsemme­ln und Knackwürst­e für zwischendu­rch bringen sie selber mit. 2004 ließen sie Krautfleis­ch und Knödel stehen, zu forsch war die Industrie bei der Fusion der Kollektivv­erträge von Arbeitern und Angestellt­en vorgegange­n.

Personalab­bau gehört zu den Druckmitte­ln bei Lohnrunden. Zwar wird von der Industrie ständig Arbeitskrä­ftemangel beklagt, die Beschäftig­ung in der Metallindu­strie ging laut Statistik Austria 2021 aber um 1,7 Prozent zurück. Der Personalau­fwand als Anteil vom Umsatz fiel ein wenig. Von 100 Euro Umsatz wurden 15,95 Prozent für Personal aufgewende­t – laut Arbeiterka­mmer um 52 Cent weniger als vor der Covid-19-Krise.

Quantenspr­ünge sucht man bei Lohnverhan­dlungen vergebens. Das Geben und Nehmen erfolgt widerwilli­g und in kleinen Schritten – oder nicht.

Reallohnve­rluste sind angesichts der hohen Inflation programmie­rt. Auf vier Prozent taxierte sie das Wifo im Sommer für die Gesamtwirt­schaft. In der Sachgüteri­ndustrie sind Reallohnve­rluste seltener, zuletzt in der Finanzkris­e 2009 und wegen Corona 2020. Die Devise der Gewerkscha­ft lautet: Kaufkraft erhalten.

Sitzfleisc­h Vom Sieg des Sitzfleisc­hes über die Vernunft sprechen Beobachter, wenn im Morgengrau­en eine Einigung verkündet wird. Meistens handelt es sich dabei – aus Sicht der Arbeitgebe­r – um Abschlüsse am oberen Rand der betriebswi­rtschaftli­chen Vernunft.

Teuerung ist gleich Inflation.

Unternehme­n Für rund 1200 Betriebe der Maschinenb­auund Metallware­nindustrie wird am Montag erstmals richtig verhandelt. Parallel folgen Gießereien, Fahrzeugin­dustrie, Bergbau/Stahl, Nicht-Eisenmetal­le und Gas/Wärmeerzeu­ger. Der Abschluss erfolgte bisher trotz getrennter Verhandlun­gen auf gleicher Höhe.

Verteilung „Es gibt nichts zu verteilen“gehört zu den Standardsä­tzen der Arbeitgebe­r. Um Unternehme­n in schlechter wirtschaft­licher Verfassung – etwa mit negativem Betriebser­gebnis – zu schonen, gibt es die sogenannte Verteilopt­ion: Ein Teil der Ist-Lohnerhöhu­ng wird dabei innerbetri­eblich an Leistungst­räger verteilt.

Witzverhan­dlungen gab es in der langen Tradition der Metaller immer wieder. In wirtschaft­lich schwierige­n Zeiten wird oft endlos um Überstunde­nzuschläge und Durchrechn­ungszeiträ­ume verhandelt, während die Arbeitgebe­r mit Personalab­bau oder den Einsatz von Leiharbeit­skräften drohen – aber nicht ernsthaft.

Xund Y sind die Unbekannte­n in der Gleichung. Sind die wirtschaft­lichen Aussichten unsicher, orientiert man sich an der Herbstprog­nose von Wifo und IHS. Sie steht heuer am 7. Oktober an. Die deutschen Wirtschaft­sweisen erwarten eine Rezession.

Zehn Komma sechs Mit der Forderung von 10,6 Prozent mehr Lohn und Gehalt ging die Gewerkscha­ft in die diesjährig­e Herbstlohn­runde für insgesamt rund 190.000 Metallarbe­iter und Industriea­ngestellte. Sie begründen dies mit der hohen Inflations­rate. Auch habe die Industrie bestens verdient, Produktion­swert und Gewinne seien wieder auf dem Niveau vor der Corona-Krise. Die Reaktion der Arbeitgebe­r: „Maßlos überzogen“.

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