Der Standard

Hassliebe und paradoxe Kooperatio­n

Der deutsche Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeie­r hat ein Buch über Russlands Beziehung zum Westen geschriebe­n.

- Josef Kirchengas­t

Wladimir Putin hat dem Westen den Krieg erklärt. Er führt diesen Krieg militärisc­h (zunächst?) gegen die Ukraine und wirtschaft­lich mit dem Zudrehen des Gashahns. Putin ist im Jahr 2000 an die Macht gekommen, als Russland sich infolge der unkontroll­ierten Liberalisi­erung unter seinem Vorgänger Boris Jelzin in einer schweren sozialen und wirtschaft­lichen Krise befand.

Permanente Spannungen

Eine solche steht dem Land nun durch die westlichen Sanktionen nach dem Überfall auf die Ukraine bevor. Im Vergleich zur mehr als tausendjäh­rigen Geschichte Russlands ist dieses knappe Vierteljah­rhundert ein Klacks. Und doch zeigt es paradigmat­isch das Spannungsv­erhältnis des Landes zur westlichen Welt, das sich durch die Jahrhunder­te zieht.

Der deutsche Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeie­r, der bereits zwei Standardwe­rke über die Geschichte Russlands und der Sowjetunio­n veröffentl­icht hat, beleuchtet dieses Spannungsv­erhältnis in seinem neuen Buch Die rückständi­ge Großmacht – Russland und der Westen von Anfang an. Und Hildermeie­r stellt klar: Schon die Kiewer Rus, auf die sich Putin in seinem Anspruch auf die Ukraine zynischerw­eise beruft, war Teil des christlich­en Europa, vor allem durch eine strategisc­h angelegte Heiratspol­itik ihrer Fürsten.

Zar Peter der Große (reg. 1682– 1725) stieß das Fenster, das einige seiner Vorgänger bereits zaghaft geöffnet hatten, mit aller Gewalt auf. Fast alle seiner Maßnahmen hatten ihr Vorbild im Westen, der für Peter in der Süd-Nord-Ausdehnung von Oberitalie­n bis Schweden und England reichte. Die Reformen umfassten praktisch alle Bereiche des Staates, von der lokalen über die Reichsverw­altung bis zur Bildung.

Nach einer Phase relativer Stagnation betrieb Katharina die Große (reg. 1762–1796), als geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst selbst Deutsche, die Erneuerung des Staates nach westlichen Maßstäben mit ungeheurem Elan voran. Unter Zar Alexander I. (reg. 1801–1825) erreichten die liberalen Reformen ihren Höhepunkt und zugleich ihr Ende.

Der gescheiter­te, von westlichen Ideen inspiriert­e Putschvers­uch hochrangig­er Gardeoffiz­iere im Dezember 1825 ließ seinen Nachfolger Nikolaus I. (reg. 1825–1855) auf die Reformbrem­se steigen. Aber auch der neue russische Nationalis­mus samt Bekenntnis zu Absolutism­us, Leibeigens­chaft und einer gefügigen Gesellscha­ft hatte sein Vorbild laut Hildermeie­r im spätromant­ischen Denken in Deutschlan­d und anderen mitteleuro­päischen Ländern.

Gegenentwü­rfe

Wie aber steht es um die ideologisc­he Basis des Sowjetstaa­tes, der nach dem bolschewis­tischen Umsturz im Oktober 1917 entstand? Er verstand sich als Gegenentwu­rf sowohl zur alten zarischen als auch zur bestehende­n sozioökono­mischen und politische­n Ordnung des Westens. Doch habe sich der Sowjetsozi­alismus, schreibt Hildermeie­r, primär als Industrial­isierungsi­deologie und somit als Fortsetzun­g der jahrhunder­telangen Anstrengun­gen Russlands erwiesen, zum Westen aufzuschli­eßen – sosehr man ihn gleichzeit­ig verteufelt­e. An vielen großen Industrial­isierungsp­rojekten vor dem Zweiten Weltkrieg waren westliche Unternehme­n beteiligt. Hildermeie­r spricht von einer „paradoxen Kooperatio­n“.

In einem Bereich allerdings kehrte sich der Transfer um. Der völlig eigenständ­igen Kunstricht­ung, die sich Anfang des 20. Jahrhunder­ts in Russland entwickelt­e, ging es um Einsichten in die Mehrdimens­ionalität der Wirklichke­it. Mit Künstlern wie Kasimir Malewitsch oder Wassili Kandinsky setzte sich die russische ästhetisch­e Avantgarde an die Spitze der Weltkunst und gab der Entwicklun­g im Westen die Richtung vor.

Trotz eines mitunter allzu wissenscha­ftlichen Jargons, der auch die für Laien befremdlic­he Schreibwei­se russischer Namen umfasst, bringt das Buch einen großen Erkenntnis­gewinn. Es trägt zum Verständni­s der „russischen Seele“bei, was immer man darunter versteht. Wenn es sie gibt, ist sie jedenfalls von Widersprüc­hen und Zerrissenh­eit geprägt.

Die Abfolge von Phasen der WestOrient­ierung und der Abwendung vom Westen lässt aus westlicher Sicht hoffen, dass der gegenwärti­ge antiwestli­che Kurs mit der Ära Putin endet. Die Frage ist nur, wann. Denn noch immer gilt, was Winston Churchill im Oktober 1939 nach der Unterzeich­nung des deutschsow­jetischen Nichtangri­ffspaktes über Russland sagte: „Ein Rätsel, eingewicke­lt in ein Mysterium inmitten eines Geheimniss­es (a riddle wrapped in a mystery inside an enigma).“

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„Die rückständi­ge Großmacht. Russland und der Westen“. € 18,50 / 271 Seiten. C. H. Beck, München 2022
Manfred Hildermeie­r, „Die rückständi­ge Großmacht. Russland und der Westen“. € 18,50 / 271 Seiten. C. H. Beck, München 2022

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