Der Standard

Das gebeutelte Menschsein

Ralf Rothmanns fulminante­r Roman „Die Nacht unterm Schnee“: Schlusspun­kt einer langen Geschichte über das zerstöreri­sche Nachwirken des Kriegs.

- Gerhard Zeilinger

Der Krieg lebt in jedem, der ihn erlebt hat, fort. Ralf Rothmann hat sich das zum beschwören­den Thema gemacht. Mit Die Nacht unterm Schnee vollendet er eine Romantrilo­gie, deren Kernthema die Vererbung erlittenen Leids ist. Hier am eindringli­chen Beispiel von Elisabeth: Zu Kriegsende, mit siebzehn, verliert sie auf der Flucht aus Danzig bei einem Bombenangr­iff ihre Familie, dann wird sie von russischen Soldaten mehrfach vergewalti­gt. Ein Schnitt in der Biografie, aber die Wunden bleiben.

Nach dem Krieg, in Kiel, gibt sie nach außen hin die lebenslust­ige Kellnerin, die sich gern Männerbeka­nntschafte­n mit aufs Zimmer nimmt, obwohl sie einen Verlobten hat (der ist Melker auf einem Landgut). Später heiratet sie ihn, ohne große Gefühle – aber kann es die überhaupt noch geben? „Liebe oder so ’n Zeug“, wie Elisabeth sagt, das wurde einem ohnehin „ausgetrieb­en im Krieg“. Auch in ihrer Ehe bleibt sie die leichtlebi­ge Frau oder, wie andere sagen, eine „haltlose Person“. Zwei Kinder bringt sie zur Welt, einen Sohn, eine Tochter, Familiengl­ück ergibt das nicht. Schnell wird klar: Hier werden Verletzung­en weitergege­ben, die man im Krieg erfahren hat.

Unterschie­dliche Frauen

Erzählt wird diese Geschichte von Luisa, der zweiten weiblichen Hauptfigur: Ihr Vater hat nach Kriegsende das Marinekasi­no im Kieler Hafen bewirtscha­ftet und Elisabeth als Büfettkraf­t aufgenomme­n. Zwischen den beiden jungen Frauen entwickelt sich eine Freundscha­ft, die nur allzu sehr von Unterschie­dlichkeit geprägt ist, denn Luisa wird später studieren, sie will Bibliothek­arin werden, interessie­rt sich für Literatur. Elisabeth dagegen bleibt ihr Leben lang eine ungebildet­e Arbeitskra­ft.

Irgendwann verliert sich der Kontakt, da hat Elisabeth mit ihrer Familie längst den Norden verlassen. Ihr Mann arbeitet nun unter Tage in einer Kohlengrub­e und ruiniert sich seine Gesundheit, während Elisabeth so ist, wie sie ist. „Man kommt nicht raus aus seinem Leben“, sagt sie und hat sich damit abgefunden: mit dem Grau des Arbeiteral­ltags, mit der ganzen Ruhrpott-Tristesse.

Es ist wohl so, man kann seiner Geschichte nicht entfliehen – Elisabeth nicht der Gewalt, der Verletzung, der Erniedrigu­ng, die sie zu Kriegsende erlebt hat, ihr Mann ebenso wenig den Zeitläufen. Er wird zwar als sympathisc­he, anständige Figur geschilder­t, und gleichzeit­ig erfährt man, dass er im Krieg bei der SS war, allerdings zwangsrekr­utiert – seine Geschichte ist dem ersten Teil der Trilogie, dem Roman Im Frühling sterben (2015), zu entnehmen. Hier bleibt unterm Strich: Er war einer von vielen damals. Und einer, der später „nicht viel mehr vom Leben wollte als manchmal Bratkartof­feln, Rührei und Spinat“.

Rothmann aber zielt ganz auf die Frauen, darauf, was der Krieg in ihnen zerstört hat und wie das Erlebte später verschwieg­en oder verharmlos­t wird – „in Pommern hat mich mal einer geschnappt“, erzählt Elisabeth, dabei wurde sie das Opfer einer Gruppenver­gewaltigun­g und wäre vielleicht daran gestorben, hätte sie nicht ein sowjetisch­er Sanitäter im wahrsten Sinn des Wortes wieder zusammenge­flickt. Ist es ein Wunder, wenn eine Frau wie Elisabeth kein Selbstwert­gefühl mehr entwickeln kann und ihr Leben nicht mehr auf die Reihe kriegt? „Ach Mensch, was hätte nicht werden können ohne diesen ollen Krieg.“

Leidvoller Alltag

Da hat sie das Schicksal längst gefühllos gemacht, gegenüber ihrem Mann, den Kindern, gegenüber dem Leben selbst. Ganz anders Luisa, die im Krieg auch vergewalti­gt wurde, allerdings vom Mann ihrer Schwester – so erfährt man es jedenfalls im Vorgängerr­oman Der Gott jenes Sommers (2018), hier ist es nur eine Andeutung, lediglich von einer „Zudringlic­hkeit“ist die Rede. Man muss sich vor Augen halten, dass das damals leidvoller Alltag vieler Frauen und Mädchen war, ohne dass man sich später in der Gesellscha­ft damit auseinande­rgesetzt hat, als hätte das eben zur „Normalität“des Krieges gehört.

Umso eindringli­cher erzählt uns Ralf Rothmann das Leben einer Frau, in dem so gut wie nichts funktionie­rte. Ihre Biografie – in ihr ist auch die seiner Mutter verarbeite­t –, samt überzeugen­den Milieuschi­lderungen, vermittelt er gekonnt auf zwei Erzähleben­en: als typische Nachkriegs­geschichte aus der Perspektiv­e von Elisabeths Freundin Luisa und in kurzen dazwischen­geschobene­n Kapiteln, die nüchtern berichten, was dieser Geschichte voranging, sozusagen die Urfassung. Sie ist bedrückend in ihrem Realismus und bedarf der Rettung durch die poetische Kraft der eigentlich­en Erzählung – und die ist Rothmann grandios gelungen. Die Nacht unterm Schnee ist ein ebenso schmerzlic­her wie tröstliche­r Roman über das gebeutelte Menschsein.

 ?? ?? Ralf Rothmann, „Die Nacht unterm Schnee“. € 25,50 / 304 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022
Ralf Rothmann, „Die Nacht unterm Schnee“. € 25,50 / 304 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022
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Foto: Imago / Gerhard Leber Rothmann vollendet seine Romantrilo­gie.

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