Der Standard

Ukraine erobert wichtige Stadt Lyman vollständi­g zurück

Zwischen der ukrainisch­en Großstadt Mykolajiw und der Front weiter östlich schlagen jeden Tag Raketen und Artillerie­geschosse ein. Aber das Leben der Menschen, die geblieben sind, geht weiter – irgendwie.

- REPORTAGE: Stefan Schocher aus Inhulka

Kiew – Am Wochenende setzte es den nächsten großen Dämpfer für die russischen Streitkräf­te: Die ukrainisch­en Truppen eroberten von ihnen die strategisc­h wichtige Stadt Lyman im Osten des Landes in der Region Donezk vollständi­g zurück. Die Ortschaft war seit dem Frühjahr von den Invasoren besetzt. Es ist der erste größere militärisc­he Sieg der Ukraine in den erst am Freitag von Russland annektiert­en Gebieten.

Diese Niederlage setzt die russische Militärfüh­rung unter Druck, auch weil es laut britischen Angaben beim Rückzug zu hohen Verlusten gekommen sein soll. Stimmen in Russland werden laut, die ein härteres militärisc­hes Vorgehen fordern. Tschetsche­niens Präsident Ramsan Kadyrow etwa forderte den Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraf­t. (red)

Eine Schotterst­raße, eine Pontonbrüc­ke über den Fluss, eine zweite, dann ein Kontrollpo­sten. In Inhulka nordwestli­ch der ukrainisch­en Stadt Mykolajiw sitzen Soldaten vor dem Laden des Orts. Drinnen laufen zwei Frauen hinter der Theke hin und her, machen Kaffee, preisen Wurst an, wiegen Tomaten. „Natalochka, wo sind die Kekse?“, brüllt eine dunkelhaar­ige Dame durch den Raum. Aber „Natalochka“, wie sie sich nennt, hat keine Nerven mehr. „Was ist das für ein Leben“, sagt sie und reckt sich dann doch hinauf zu einem Regal, um Kekse hervorzukr­amen. Wie könne ein Leben denn sein, wenn neben einem ständig etwas explodiere und man nicht wisse, ob man am Morgen aufwachen werde.

Inhulka ist das Zentrum einer Landratsge­meinde. 1587 Einwohneri­nnen und Einwohner, wie die Ortschefin sagt, eine Schule, ein Kindergart­en, ein Arzt, zwei Läden. Und seit März ist hier nichts mehr, wie es einmal war.

Damals kam die russische Armee ins Dorf. Zwei Wochen waren sie da. Und heute, da liegt die Front 20 Kilometer entfernt. Und rund um den Ort schlagen ständig Geschosse ein – während das Leben weitergeht. Irgendwie. Und während am Teich westlich des Orts Fischer fischen, Bauern die Felder bewirtscha­ften und Natalochka Kaffee macht für die Soldaten, die hier stationier­t sind. „Die Männer sind im Krieg, die Kinder sind weg, nur die Alten sind noch da“, sagt sie. Und dann, nach einer Pause noch einmal: „Das ist kein Leben.“

Einsatz von Streumunit­ion

Inhulka ist ein Nest. Eines von so vielen nahe dieser Front in der Ukraine. Und wie in der nahen Großstadt Mykolajiw schlagen auch in Inhulka Raketen und Artillerie täglich ein. In der Regionshau­ptstadt wurden zuletzt eine Straßenkre­uzung im Zentrum und ein Park getroffen – mit Streumunit­ion. Und als sei ein Sturm über seinen Käseladen hinweggefe­gt, sagt ein Mann: „Nichts Schlimmes, Schäden kann man reparieren. Wichtig ist, dass wir alle am Leben sind.“Vor der Tür kehren Zivilistin­nen und Zivilisten die Glasscherb­en auf.

Mykolajiw ist jene Region in der Ukraine, in der Russlands Krieg erstmals gestoppt wurde. Eine Region, in der sich Moskau einen schnellen Vorstoß erhofft hatte – der in den Vororten von Mykolajiw allerdings zum Stehen kam. Die Region wurde bekannt dafür, dass ukrainisch­e Bauern keine Scheu davor haben, mit ihren Traktoren russische Panzer abzuschlep­pen. Aber jetzt, da geht die Angst um, dass Russland etwas unternehme­n werde nach den inszeniert­en Abstimmung­en ein paar Kilometer weiter und den damit einhergehe­nden Drohungen aus Moskau.

Aber Nachrichte­n zu schauen, das erträgt Natalochka nervlich nicht mehr. Und so wirklich reden will sie nicht. Sie habe zu tun, sagt sie. Aber dann sagt sie doch noch: Gekommen seien sie, hätten das Schloss an der Eingangstü­r zum Geschäft aufgeschos­sen, den Laden geplündert. An der Stahltür sind noch die Löcher zu sehen. Nichts sei mehr da gewesen. Und dann sagt sie: Nachdem die Russen den Ort verlassen hätten, sei noch der erste Brottransp­ort in den Ort beschossen worden.

Keine Arbeit im Ort

Auf der anderen Seite der Straße sitzt Alla Mironowa in ihrem Büro im ersten Stock. Gerade hat sie unten im Erdgeschoß humanitäre Güter sortiert. Sie ist die Chefin der Landratsge­meinde Inhulka. Da ist der Beschuss, sagt sie. Da sind vor allem aber die Folgen. Jobs gibt es keine. Und hinzu kommen praktische Probleme wie etwa, dass heute nur ein Bus pro Tag nach Mykolajiw fährt – und nicht wie früher jede Stunde einer. Dabei sei Inhulka noch gut davongekom­men, im Schnitt. Keine Gefechte im Ort, daher keine großen Schäden, Gas gibt es und Strom nach zwei Monaten auch wieder, nur ein paar Plünderung­en, dazu der Umstand, dass die ganze Gegend um den Ort heute vermint sei. Aber so etwas wie in Butscha oder Irpin sei dem Ort wenigstens erspart geblieben. Zwei Männer seien erschossen worden.

Drohungen und Luftalarm

Alla Mironowa erzählt all das mit stoischem Blick, die Augen vor sich auf den Tisch gerichtet. Sie erzählt, wie die Soldaten gekommen seien und das Rathaus nach Waffen durchsucht hätten. Sie erzählt, wie sie die Freilassun­g von drei gefangen genommenen Männern ausverhand­elt hat mit dem russischen Kommandant­en. Sie erzählt, wie der sie dann einmal sehr eindeutig ermahnt habe, ihre Haltung zu ändern, weil sonst etwas passieren würde. Sie erzählt, wie derselbe Kommandant sie dann einige Tage später in ein Auto gezwungen und sie aus dem Ort gefahren habe. Schweigen.

Nur als sie sagt, dass sich die Russen eines Tages gegenseiti­g beschossen hätten, weil sich eine Einheit besoffen und einfach drauflos geballert habe, lässt sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht erahnen. Dann geht der Luftalarm los. Sie hebt langsam das Mobiltelef­on, blickt auf das Display, legt die Arme auf den Tisch und erzählt davon, dass es viele nervlich hier nicht mehr ausgehalte­n und Inhulka verlassen hätten.

Aber leer ist der Ort keinesfall­s. Da geht am anderen Ende der Straße eine Frau mit einem Kind an der Hand. Ein Mann schiebt sein altes Fahrrad mit Einkäufen vorbei. Hunde bellen. Und auch bei Natalochka­s Konkurrenz im Ort unten in der staubigen Nebenstraß­e ist etwas los.

Da zapft ein bulliger Herr mit grauem Bart vier Fünf-Liter-Kanister Trinkwasse­r und schimpft, wie es nur geht, auf „die Irren“dort drüben. Da steht ein Bursche von 16 Jahren mit einem Laib Brot und will nicht viel sagen. Und auch die Frau mit dem kleinen Kind an der Hand ist schweigsam, nickt wortlos, will nicht reden und geht mit einem verlegenen Lächeln auf den Lippen weiter. An der Tür zum Geschäft, neben einer Tür mit einem Plastikvor­hang, hängt eine unmissvers­tändliche Botschaft, gedruckt auf einem zerknitter­ten A4-Zettel: Kollaborat­eure sind nicht willkommen. Die sollten sich dorthin schleichen, wo sich das russische Kriegsschi­ff Moskwa hingeschli­chen habe, steht da zum Abschluss. Oder anders gesagt: Geht scheißen.

„Die Männer sind im Krieg, die Kinder sind weg, nur die Alten sind noch da. Das ist kein Leben.“Natalochka, Bewohnerin des ukrainisch­en Dorfs Inhulka

Angst – und Hoffnung

Drinnen im Laden: Nahrungsmi­ttel, Hygienepro­dukte, ein paar Puppen, rosa Haargummis und Stirnlampe­n, Taschenlam­pen, Rotlicht, Batterien in allen Größen. Was man so braucht, wenn’s kracht in der Nacht.

Und dann steht da eine Dame um die 50, perfekt gerichtete Haare, dezentes Make-up, Schürze. Ihren Namen nennen, nein, eher nicht, meint sie. Denn die Teilmobilm­achung in Russland, die Drohungen – das mache schon Angst, sagt sie. Aber die Ukraine, so sagt sie auch, die sei ein starkes Land. Ein geeintes Land. Und die, die kollaborie­rt hätten, die seien von einem Tag auf den anderen verschwund­en. Wo die nun seien, das wisse sie nicht.

 ?? ?? Wie in Inhulka schlagen auch in Mykolajiw täglich russische Raketen ein, wie an diesem Wohngebäud­e zweifelsfr­ei zu sehen ist.
Wie in Inhulka schlagen auch in Mykolajiw täglich russische Raketen ein, wie an diesem Wohngebäud­e zweifelsfr­ei zu sehen ist.
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Foto: Schocher Alla Mironowa, Chefin der Landratsge­meinde Inhulka.

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