Der Standard

„Putin eskaliert von Tag zu Tag weiter“

Othmar Karas, erster Vizepräsid­ent des EU-Parlaments, hat mit anderen Parlamenta­riern am Freitag Kiew besucht. Mit dem STANDARD sprach er dort über den Kreml-Chef und einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine.

- INTERVIEW: Daniela Prugger aus Kiew OTHMAR KARAS (64) ist seit 1999 EUAbgeordn­eter und seit Jänner 2022 erster Vizepräsid­ent des Europäisch­en Parlaments für die Europäisch­e Volksparte­i.

STANDARD: Politikern, die nach Kiew reisen, wird ja gern unterstell­t, dass diese Besuche nur aufgrund der Symbolik getätigt werden, es gehe dabei vor allem um die Fotos.

Karas: Das mit der Symbolik ist sicher auf beiden Seiten richtig. Es ist gewollt von den Politikern in der Ukraine, um der eigenen Bevölkerun­g zu zeigen, dass das Land nicht allein dasteht. Aber für uns ist jedes persönlich­e Gespräch wichtig. Das Schlimmste sind verloren gegangenes Vertrauen und der Verlust von Glaubwürdi­gkeit.

STANDARD: Sie haben am Freitag einen historisch­en Tag in der Ukraine miterlebt: Nachdem Wladimir Putin die Annexion weiterer Gebiete verkündet hatte, hat die Ukraine einen „beschleuni­gten“Antrag auf den NatoBeitri­tt gestellt. Wie sehr hat Sie das Vorgehen Wolodymyr Selenskyjs überrascht?

Karas: Es war für mich klar, dass es nach der Rede Putins, die als nächste Eskalation­sstufe anzusehen ist, eine Reaktion geben wird. Putin hält sich an keinen Vertrag, an keine Regeln, an kein Völkerrech­t. Er eskaliert von Tag zu Tag weiter: mit dem Angriffskr­ieg, mit der Drohung der Atombombe, mit der Abhaltung der illegalen Referenden, der Besetzung ukrainisch­er Gebiete. Und die Ukraine benötigt deshalb Sicherheit­sgarantien. Der Antrag auf den Beitritt zur Nato war ein politische­s Signal, aber in naher Zukunft wird es wohl nicht dazu kommen.

STANDARD: Dass die Ukraine in diesem Jahr den EU-Kandidaten­status erhalten hat, kam für viele ebenfalls überrasche­nd.

Karas: Die Ukraine hat diesen Beitrittsa­ntrag gestellt, weil sie angegriffe­n wird. Sie verteidigt die europäisch­en Werte, und die Menschen dort haben sich entschiede­n, auf der Seite des Friedens, der Demokratie, der Freiheit, des Parlamenta­rismus und des Rechtsstaa­tes zu stehen.

Auf der anderen Seite haben wir Putin, der das Rad der Geschichte mit militärisc­hen Mitteln und mit Gewalt zurückdreh­en will und vor keiner Souveränit­ät haltmacht. Wer der demokratis­chen Wertegemei­nschaft angehören will, ist in der Europäisch­en Union am besten aufgehoben.

STANDARD: Sie sagen, dass sich Europa unabhängig von nichtdemok­ratischen Ländern machen muss, vor allem in der Energiever­sorgung. Trotzdem hat EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen im Sommer eine Verdopplun­g der Gasimporte mit Aserbaidsc­han vereinbart – mit einem Land, in dem Diktator Ilham Alijew herrscht.

Karas: Das alles bereitet mir große Sorgen. Wir sind ja nur glaubwürdi­g bei den Sanktionen gegen Russland und bei der Verteidigu­ng von Recht und Werten, wenn wir sie nach innen wie nach außen vertreten. Die

Maßnahmen, die wir jetzt gesetzt haben, sind Übergangsr­egelungen zur Erfüllung des gemeinsame­n Ziels, klimaneutr­al und autark in der Energiever­sorgung zu werden. Wir haben es immerhin schon geschafft, dass wir die Energieabh­ängigkeit von Russland auf neun Prozent reduziert und die Speicherka­pazität in Europa auf 90 Prozent erhöht haben. Das alles beschleuni­gt unseren Kampf gegen den Klimawande­l. Ich weiß nicht, ob es diese Dynamik ohne den Krieg gegeben hätte.

STANDARD: War das Abkommen mit Aserbaidsc­han ein Fehler?

Karas: Dass wir uns in die Abhängigke­it von Russland begeben haben, war der Fehler, und jetzt geht es darum, sich beschleuni­gt davon zu befreien. Unsere oberste Priorität ist die Versorgung­ssicherhei­t in Europa. Und solange wir Lücken bei uns selbst haben, gehen wir in vielen Bereichen in Verträge, die wir sonst nie gemacht hätten. Dass wir sowohl am Golf als auch in Aserbaidsc­han versuchen, Gas und Öl einzukaufe­n, ist eine Zwischenlö­sung.

 ?? ?? Othmar Karas sprach bei seinem Ukraine-Besuch auch mit Witali Klitschko, dem Bürgermeis­ter von Kiew.
Othmar Karas sprach bei seinem Ukraine-Besuch auch mit Witali Klitschko, dem Bürgermeis­ter von Kiew.

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