„Putin eskaliert von Tag zu Tag weiter“
Othmar Karas, erster Vizepräsident des EU-Parlaments, hat mit anderen Parlamentariern am Freitag Kiew besucht. Mit dem STANDARD sprach er dort über den Kreml-Chef und einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine.
STANDARD: Politikern, die nach Kiew reisen, wird ja gern unterstellt, dass diese Besuche nur aufgrund der Symbolik getätigt werden, es gehe dabei vor allem um die Fotos.
Karas: Das mit der Symbolik ist sicher auf beiden Seiten richtig. Es ist gewollt von den Politikern in der Ukraine, um der eigenen Bevölkerung zu zeigen, dass das Land nicht allein dasteht. Aber für uns ist jedes persönliche Gespräch wichtig. Das Schlimmste sind verloren gegangenes Vertrauen und der Verlust von Glaubwürdigkeit.
STANDARD: Sie haben am Freitag einen historischen Tag in der Ukraine miterlebt: Nachdem Wladimir Putin die Annexion weiterer Gebiete verkündet hatte, hat die Ukraine einen „beschleunigten“Antrag auf den NatoBeitritt gestellt. Wie sehr hat Sie das Vorgehen Wolodymyr Selenskyjs überrascht?
Karas: Es war für mich klar, dass es nach der Rede Putins, die als nächste Eskalationsstufe anzusehen ist, eine Reaktion geben wird. Putin hält sich an keinen Vertrag, an keine Regeln, an kein Völkerrecht. Er eskaliert von Tag zu Tag weiter: mit dem Angriffskrieg, mit der Drohung der Atombombe, mit der Abhaltung der illegalen Referenden, der Besetzung ukrainischer Gebiete. Und die Ukraine benötigt deshalb Sicherheitsgarantien. Der Antrag auf den Beitritt zur Nato war ein politisches Signal, aber in naher Zukunft wird es wohl nicht dazu kommen.
STANDARD: Dass die Ukraine in diesem Jahr den EU-Kandidatenstatus erhalten hat, kam für viele ebenfalls überraschend.
Karas: Die Ukraine hat diesen Beitrittsantrag gestellt, weil sie angegriffen wird. Sie verteidigt die europäischen Werte, und die Menschen dort haben sich entschieden, auf der Seite des Friedens, der Demokratie, der Freiheit, des Parlamentarismus und des Rechtsstaates zu stehen.
Auf der anderen Seite haben wir Putin, der das Rad der Geschichte mit militärischen Mitteln und mit Gewalt zurückdrehen will und vor keiner Souveränität haltmacht. Wer der demokratischen Wertegemeinschaft angehören will, ist in der Europäischen Union am besten aufgehoben.
STANDARD: Sie sagen, dass sich Europa unabhängig von nichtdemokratischen Ländern machen muss, vor allem in der Energieversorgung. Trotzdem hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Sommer eine Verdopplung der Gasimporte mit Aserbaidschan vereinbart – mit einem Land, in dem Diktator Ilham Alijew herrscht.
Karas: Das alles bereitet mir große Sorgen. Wir sind ja nur glaubwürdig bei den Sanktionen gegen Russland und bei der Verteidigung von Recht und Werten, wenn wir sie nach innen wie nach außen vertreten. Die
Maßnahmen, die wir jetzt gesetzt haben, sind Übergangsregelungen zur Erfüllung des gemeinsamen Ziels, klimaneutral und autark in der Energieversorgung zu werden. Wir haben es immerhin schon geschafft, dass wir die Energieabhängigkeit von Russland auf neun Prozent reduziert und die Speicherkapazität in Europa auf 90 Prozent erhöht haben. Das alles beschleunigt unseren Kampf gegen den Klimawandel. Ich weiß nicht, ob es diese Dynamik ohne den Krieg gegeben hätte.
STANDARD: War das Abkommen mit Aserbaidschan ein Fehler?
Karas: Dass wir uns in die Abhängigkeit von Russland begeben haben, war der Fehler, und jetzt geht es darum, sich beschleunigt davon zu befreien. Unsere oberste Priorität ist die Versorgungssicherheit in Europa. Und solange wir Lücken bei uns selbst haben, gehen wir in vielen Bereichen in Verträge, die wir sonst nie gemacht hätten. Dass wir sowohl am Golf als auch in Aserbaidschan versuchen, Gas und Öl einzukaufen, ist eine Zwischenlösung.