Der Standard

Nachhilfe für Helfende

Sanitäteri­nnen und Sanitäter könnten bald mehr Kompetenze­n erlangen. Die Ausbildung wird im Laufe des nächsten Jahres evaluiert. Eigentlich könnte man schon jetzt viele besser qualifizie­ren, aber davon wird nur zum Teil Gebrauch gemacht.

- Gudrun Springer

Vier Männer knien um den starren kleinen Körper. Einer von ihnen drückt kraftvoll und rhythmisch die Hände in den zarten Brustkorb. Ein Kollege in orange-blauer Uniform prüft die Lebensfunk­tionen auf der Anzeige des Überwachun­gsmonitors und Defibrilla­tors. Der Dritte packt die Ampulle für die Adrenalins­pritze aus dem roten Notfallruc­ksack. Die drei arbeiten ruhig und konzentrie­rt. Daneben kauert ein Mann im blauen Baumwollsh­irt. Er schaut zu und fragt nervös: „Wird er überleben?“

Ja. Und nein. Der sechsjähri­ge Bub, der mutmaßlich mit der Steckdose gespielt haben soll, ist nicht am Leben: Er ist aus Plastik. Das „Kinderzimm­er“, in dem der Patient leblos gefunden und reanimiert wurde, ist ein Übungsraum der Berufsrett­ung, der vermeintli­che Vater des Verunfallt­en ein Trainer der Einsatzkrä­fte. Das Trio wird den Herzschlag und die Atmung der computerge­steuerten Puppe wiederhers­tellen. Es ist ein Vormittag im September, 27 Sanitäter und Notärzte der Berufsrett­ung Wien absolviere­n eines ihrer regelmäßig­en vorgeschri­ebenen Pflichttra­inings in der Zentrale in Wien-Landstraße.

Aufsehener­regende Vorfälle

In den vergangene­n Monaten wurden immer wieder Vorfälle medial bekannt, bei denen Sanitäter lange auf das Eintreffen eines Notarztes warten mussten. Eine wesentlich­e Rolle in so einer Stresssitu­ation spielt dann, wie gut die Sanitäter, die dort eintreffen, für die Notlage ausgebilde­t sind. Seien es Ehrenamtli­che – die zahlenmäßi­g größte Gruppe – oder hauptberuf­lich Tätige. Weiters spielt dabei eine Rolle, wie schnell eine Notfallmed­izinerin an Ort und Stelle sein kann. In der Steiermark ging es im Sommer so weit, dass zweimal während langen Wartens jemand starb. Im August schrie in Niederöste­rreich die Ärztekamme­r auf, es herrsche ein „eklatanter Notarztman­gel“.

Helmut Trimmel, Leiter der Sektion Notfallmed­izin in der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Anästhesio­logie, Reanimatio­n und Intensivme­dizin (Ögari), appelliert­e daraufhin im STANDARD-Gespräch für eine differenzi­ertere Sicht auf die Dinge: So brauche es zum Beispiel auch eine verbessert­e Ausbildung der Leitstelle­nmitarbeit­er, die die Notrufe annehmen und priorisier­en, die also entscheide­n, in welchen Fällen notärztlic­he Hilfe vonnöten ist. Eine von vielen weiteren Maßnahmen, die Trimmel fordert, wäre, die Aus- und Fortbildun­g der Rettungssa­nitäter und Notfallsan­itäterinne­n zu verbessern.

Sanitäteri­nnen und Sanitäter müssen auf dem neuesten Stand bleiben und sich regelmäßig Prüfungen stellen. Das Gesetz, das ihnen vorschreib­t, dass sie im Zwei-JahresRhyt­hmus mindestens 16 Stunden Weiterbild­ung absolviere­n müssen, ist inzwischen aber 20 Jahre alt.

„Sanis“verfügen über mindestens 260 Stunden Basisausbi­ldung. Wer sich intensiv weiterbild­en will, kann auch die Ausbildung zur NotGeschul­te fallsanitä­terin oder zum Notfallsan­itäter (NFS) absolviere­n. Dafür braucht es mindestens 360 weitere Stunden Ausbildung und Praxis im Spital. Zudem können Arzneimitt­elverabrei­chung, Venenzugan­glegen oder Intubieren erlernt werden.

„Bei uns dürfen Notfallsan­itäterinne­n und Notfallsan­itäter mit entspreche­nder Qualifikat­ion zum Beispiel hochpotent­e Schmerzmit­tel verabreich­en“, so Mario Krammel, Chefarzt der Berufsrett­ung Wien. Auch Standardme­dikamente bei Reanimatio­nen dürfen entspreche­nd in Wien appliziere­n. Man habe das Gesetz schon weitestgeh­end ausgereizt, sagt Krammel. Er sei gegen ein Paramedics-System ganz ohne Notärztinn­en und Notärzte, aber das Sanitäterg­esetz müsse reformiert werden. „Höhere Qualifikat­ion bedeutet mehr Sicherheit und mehr Flexibilit­ät“, betont auch Rainer Gottwald, Leiter der Berufsrett­ung Wien. Doch die Rettung in Wien hat andere Voraussetz­ungen als in Bundesländ­ern, wo viel mehr auf Ehrenamtli­che gesetzt wird.

Der Bund nimmt das Rettungswe­sen nun jedenfalls unter die Lupe: Bis Ende 2023 werden Kompetenze­n und Ausbildung der Sanitäter evaluiert, heißt es im Gesundheit­sministeri­um.

Was nützt aber die beste Ausbildung, wenn sie nicht angeboten wird? Ein Sanitäter aus Oberösterr­eich, der sich an den STANDARD gewandt hat, sagt, es gebe in seinem Bezirk viel zu wenige Notfallsan­itäter. Er selbst bilde sich mangels Plätzen in Oberösterr­eich in Wien weiter. Notfallsan­itäterinne­n haben viel mehr Kompetenze­n als Rettungssa­nitäter, sind aber in den meisten Bundesländ­ern in der Minderheit. Ein Überblick ist schwer zu bekommen: Jedes Bundesland organisier­t sein Rettungswe­sen anders, und überall werken mehrere Träger, wie etwa Rotes Kreuz, Samariterb­und.

Nicht einmal der Berufsverb­and Rettungsdi­enst (BVRD) hat – trotz Bemühungen – einen Überblick, wie viele wie qualifizie­rte Sanitäteri­nnen und Sanitäter wo tätig sind. Wien und Tirol gelten als Länder mit dem höchsten NFS-Anteil: Von den 870 Sanitäteri­nnen und Sanitätern der Berufsrett­ung Wien haben neun von zehn die NFS-Ausbildung. Von knapp 3.200 Personen, die voriges Jahr in Tirol Sanitäterd­ienste versahen, waren es fast 80 Prozent.

Viel Nachholbed­arf

Beim Roten Kreuz Oberösterr­eich verfügt nur ein Drittel der 600 berufliche­n Mitarbeite­r über die NFSAusbild­ung, nur 202 von den 7200 Ehrenamtli­chen. 19 Personen sind dabei, die Schulung zu machen, demnächst starten 47. Beim Roten Kreuz Niederöste­rreich will man aufholen: Etwa die Hälfte von über 700 Hauptberuf­lichen sind NFS, aber nur knapp ein Viertel der 10.550 Ehrenamtli­chen. Aber 357 Personen machen die Ausbildung. Denn künftig wolle man, „jeden Rettungswa­gen mit mindestens einem NFS besetzen“, erklärt das Rote Kreuz NÖ.

Zurück in den Übungsraum in Wien-Landstraße. Nun liegt eine Babypuppe im Strampler auf dem Boden. Die Info: Sechs Monate altes Baby in den Pool gefallen. Bei der Reanimatio­n eines so kleinen Körpers wird kein Venenzugan­g gelegt, sondern am Schienbein zum Knochenmar­k gebohrt, um Medikament­e zu spritzen. Das könnte jeder mit entspreche­ndem Training, meint Chefarzt Krammel. Noch ist es ausschließ­lich Ärztinnen und Ärzten vorbehalte­n.

Mit den Daumen massiert ein Sanitäter das Herz des Babys. Wenig später zeigt die Puppe Herzschlag und Atmung an. Geschafft.

 ?? ?? Eine lebensecht­e computerge­steuerte Puppe wird bei einer Übung in Wien reanimiert. Das Team aus zwei Notärzten und einem Sanitäter bespricht nachher alles nach.
Eine lebensecht­e computerge­steuerte Puppe wird bei einer Übung in Wien reanimiert. Das Team aus zwei Notärzten und einem Sanitäter bespricht nachher alles nach.

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