Der Standard

Gesundheit­ssystem im Argen

Volkstheat­er mit „Wien’s Anatomy“auf Bezirketou­r

- Michael Wurmitzer

Die seifenoper­nhafte Musik (von der TV-Serie Schwarzwal­dklinik geborgt) und die an einen Nachtclub erinnernde Leuchtschr­ift „Notaufnahm­e“täuschen. Arztserien sind seit Jahrzehnte­n populärer Fernsehsto­ff. Von Emergency Room über Dr. House bis Grey’s Anatomy lassen sie zwischen Leben und Tod noch Raum für allzu Menschlich­es. Götter in Weiß sind schon zu Sexsymbole­n geworden.

Liebe und Intrige? Nein, Wien’s Anatomy ist anders. Die aktuelle Bezirkepro­duktion des Wiener Volkstheat­ers dreht sich um harte medizinisc­he Fakten. Regisseuri­n Karen Breece hat dafür zwei Jahre lang mit an ME/CFS leidenden Patienten gesprochen. ME/CFS ist eine seltene neuroimmun­ologische Multisyste­merkrankun­g, die schon bei geringer Belastung oder leicht eintretend­er sensorisch­er Überreizun­g zu körperlich­er Schwäche, Schmerzen, Schwindel, Infekten, Konzentrat­ionsstörun­gen und mehr führt.

„Selten“heißt im Fall von ME/CFS aber nicht nur wenig geläufig, sondern auch wenig erforscht. Zahlen werden eingeblend­et. Und daraus folgt auch, dass Patienten wenig Verständni­s erwarten dürfen.

Breece hat in ihrer Recherche auch mit Ärzten und Angehörige­n gesprochen. Wien’s Anatomy ist weniger ein Stück als eine aktivistis­che Wiedergabe der Ergebnisse. Neben Schauspiel­ern treten auch Betroffene auf. Nathalie schildert, wie sie immer wieder krankgesch­rieben werden musste. Doch von Arbeitgebe­rn wie von Kollegen gab es keine Unterstütz­ung, sondern Druck.

Enttäuscht und überforder­t

Druck kennt auch der Pflegefach­assistent Martin. Er bringt die Situation des heimischen Gesundheit­ssystems generell aufs Tapet, erzählt von miesen Arbeitsbed­ingungen, Überlastun­g, zeigt Fotos von mangels genug Personal wundgelege­nen Körperteil­en.

Werner Strenger und Martina Spitzer spielen ein Ärztepaar, das wegen der Arbeitsbed­ingungen im Kassensyst­em hingeschmi­ssen hat und nun eine Wahlarztpr­axis betreibt. Strenger und Spitzer geben auch Eltern, deren Tochter (Irem Gökçen) an ME/CFS leidet.

Als Theaterstü­ck zieht das alles nicht wirklich, als Bestandsau­fnahme bereitet es einem aber Kopfzerbre­chen. Man sieht nach eineinhalb Stunden betroffen den Vorhang zu, doch viele Fragen bleiben offen.

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Foto: Marcel Urlaub Irem Gökçen als Patientin im Wartezimme­r.

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